magical history tour

8. April 2010

1895: Brüder Lumières: Einfahrt eines Zuges in den Bahnhof von La Ciotat

Von Ekkehard Knörer

Vorbemerkung: Immer wenn ich aus dem Urlaub komme, beginne ich ein neues Blog oder eine neue Serie und schaue dann, wie lange ich es oder sie, vom Alltag nach und nach wieder zermürbt, weiterführen kann. Irgendwann bricht es ab, aber das ist mir egal. Das Glück liegt im Anfangen. Diesmal dachte ich, ich beginne einfach meine persönliche «Magical History Tour», also einen chronologischen Durchlauf durch die Kinogeschichte. Regel: Ich sehe mir je einen Film aus jedem Jahr seit 1895 an (durchbreche die Regel allerdings gleich hier und jetzt im ersten Posting schon ein wenig) und schreibe darüber. Kurz oder lang. Die Auswahl gehorcht nur, im Rahmen des Verfügbaren, meiner eigenen Lust und Laune. Spielfilme, Experimentalfilme, schon gesehene Filme, noch nicht gesehene Filme, Klassiker, Obskures, Dokumentarisches, alles aufs Schönste durcheinander (oder: Vom Glück, kein Wissenschaftler mehr zu sein.) Kurz noch der Hinweis darauf, dass Kevin Lees unvergleichlich größer dimensioniertes und natürlich viel systematischeres 1000-Filme-Projekt Shooting Down Pictures heute Abend in New York mit der Vorführung eines Überraschungsfilms seinen Abschluss findet.

 

1. Einfahrt eines Zugs in den bahnhof von  La Ciotat (Brüder Lumières, 1895)

Nicht wirklich der erste Film, aber doch der mythische Beginn. Bahnhof La Ciotat, Ferienort der Lumières. Hier wurde zwölf Jahre später das Pétanque-Spiel erfunden. (Weiß die Wikipedia.) Das Kino mit Namen Eden, in dem die Filme früh vorgeführt wurden, steht noch. Der Zug schmückt, gemalt, ein Tor.

Der Film war eine Mischung aus Dokumentation und Spielfilm. Louis Lumières Frau, seine Mutter, seine zwei Kinder und die Nanny sind mit im Bild. Wie man weiß, war die Sache mit der Publikumspanik beim Einfahren des Zugs wohl eher eine wunderbar erfundene Legende. Eine freilich, die sich früh schon verbreitet hat, so zählt sie im von Edwin S. Porter gedrehten Edison-Film Uncle Josh at the Moving Picture Show aus dem Jahr 1902 schon zum Repertoire (und der Film ist selbst bereits eine Art Remake von The Countryman and the Cinematograph von 1901). Man sieht auch mal wieder, wie schnell Medien ganz ausdrücklich selbstreflexiv werden.

Mit dem Effekt lebensbedrohlicher Zuschauersubjektiven spielt auch dieser Film mit dem sprechenden Titel How It Feels To Be Run Over (1900), nun allerdings unter Einsatz des Automobils. Ich komme gleich zurück zu den Zügen, aber eine weitere Abschweifung Richtung Auto sei erlaubt. Es ist doch zu schön, wie es hier nach einem Puff und einem Trickschnitt (alles à la Meliès) Körperteile regnet. Eine Inkunabel für die Gorehounds der Welt, eine frühe Version von Der siebte Sinn, Explosion of a Motor Car, auch aus dem Jahr 1900.

Aber die Züge. Das Schöne fürs Kino an ihnen: Sie bewegen sich. Zum Beispiel ins Bild und wieder heraus (man muss einmal ein Buch schreibt über die Züge bei Ozu; oder man nehme zuletzt James Bennings RR). Aber man kann auch die Kamera selbst auf den Zug stellen und schon bewegt sie sich mit. Das kann man bewundern in A Kiss in the Tunnel (1899), einem Werk in drei Akten, das nicht nur die Quasi-Schwarzblende bereits kennt, sondern auch die Wonnen der Montage. Und diejenigen recht züchtiger erotischer Annäherung im geschlossenen Raum.

Dass im Dunkeln mehr oder minder gut munkeln ist, lehrt auch diese von rassistischen Tönen nicht freie Komödie, die die Antwort auf die Titelfrage What Happened in the Tunnel (1903) konsequenterweise dem Betrachter zur Imagination aufgibt.

Zum ersten großen Zugklassiker, Edwin S. Porters The Great Train Robbery, folgt ein separater Eintrag.