7. Mai 2010
1904: Westinghouse
Das Jahr 1904, Firma Westinghouse, Pittsburgh. Arbeiter verlassen die Fabrik nicht. Die Kamera beobachtet sie bei der Arbeit. Die Kamera steht nicht (sagen wir, anachronistisch: vorindustriell) still, sie ist nicht auf Augenhöhe, sie ist nicht Teilnehmer eines Geschehens, sie macht sich die Hände nicht schmutzig, sie ist schwerelos, ihr (unser) Blick zeichnet etwas ihr Fremdes auf, ihr (unser) Blick kontrastiert entschieden mit dem, was er sieht. Bestandteile des Bildes, das die Kamera überfliegt wie eine Drohne das Schlachtfeld eines viel späteren Krieges: Maschinen, oft räderförmig, Männer, die hämmern, die malen, viele Männer, unzählige Männer, der Raum der Fabrik, die die Arbeiter nicht verlassen, ist voll wie das Wimmelbild eines viel früher tätigen niederländischen Malers.
[Beiseite: Man kann, näher an der Gegenwart dieser Bilder, auch Adolph Menzel assoziieren, insbesondere wenn man einen anderen Ausschnitt aus dieser von der American Mutoscope & Biograph produzierten Westinghouse-Industriefilm-Serie sieht. Menzels Eisenwalzwerk von 1875 ist allerdings ein Pandämonium aus dem Geist der Genremalerei. In den dreißig Jahren zwischen der Entstehung von Menzels Gemälde und den Filmaufnahmen liegen ein bis zwei Epochen der Bildproduktion.]
Westinghouse, 1904: Es gibt Gänge, es gibt Bewegungen am Ort, es gibt sehr viel Bewegung in die Kreuz und in die Quer, Männer in schwarzen Anzügen mit Hut, Männer mit Fliege, Männer auf kleinen Wagen, die auf Anhängern Maschinenteile transportieren. Über all das fliegt die Kamera, unberührt aufzeichnend, einfach hinweg. Sie wirft uns das Tätigsein in der Fabrik zum Staunen vor, und wir staunen. Aber auch über diese Fahrt, diesen Flug, fast wähnt man sich in Metropolis, einer Welt, in der das Fliegen und das Queren des Raums und das Wimmelbildwirken zukünftiger Menschen nur als Folge von Spezialeffekten denkbar sein wird. Der Spezialeffekt dieses Films: Die Entmaterialisierung von Arbeit, durch technischen Überflug. Die Kamera, die kein Geringerer als Billy Bitzer führt (D.W. Griffiths Kameramann, nicht nur, hunderte Filme später, in Birth of A Nation und Intolerance), nutzt eine in der Fabrik vorhandene Bewegungsmaschinerie, um sich selbst in Bewegung zu setzen und in dieser Bewegung das Apparatische und die Materie der Maschine nach Möglichkeit zu verleugnen. Es gehört zu den beträchtlichen Ironien dieses Films erstens, dass die Firma Westinghouse gegen den Anschein des schweren Geräts, das man im Überflug sieht, etwas so Immaterialles wie Elektritzität produziert. So hat die falsche Leichtigkeit der apparatischen Blickbewegung doch beinahe noch ihre Richtigkeit. Und, vielleicht noch ironischer: die Elektritzitätsfirma Westinghouse ist heute, nach wirtschaftlichen Irrungen und Wirrungen, kein Elektrokonzern im engeren Sinn mehr. Vielmehr firmiert sie nunmehr unter dem Namen CBS Corporation, macht Fernsehen und produziert als Eigentümer der Paramount nicht mehr Elektrizität, sondern elektrische Bilder.