magical history tour

10. Mai 2010

1905: Ken Jacobs: Tom Tom, the Piper’s Son

Von Ekkehard Knörer

Mit dem Film Tom, Tom the Piper's Son hat es auf sich: a) dass wiederum Billy Bitzer die Kamera bei dieser American Mutoscope & Biograph-Produktion geführt hat. Man glaubt es kaum, wie still und stumm sie frontal zum Gewusel, das meist im Bild herrscht, herumsteht, nachdem man sie kürzlich durch die Westinghouse-Fabrik fliegen sah; b) dass der Film aber eben deshalb und insbesondere mit seinen Jahrmarkts- und Verfolgungssequenzen ein sehr typisches Beispiel des frühen Kinos ist, das von Noel Burch als «primitive mode of representation» vom "institutional mode of representation", von Tom Gunning mit noch durchschlagenderer Wirkung als «cinema of attractions» von der narrativ integrierten klassischen Hollywood-Form und von Charles Musser als «präsentationale» von der sich später durchsetzenden «repräsentationalen» Darstellungsform abgegrenzt wurde; c) dass der Film keineswegs ein besonders herausragendes Werk des frühen amerikanischen Kinos ist und wohl so ziemlich vergessen wäre, hätte sich nicht d) der Avantgardefilmer Ken Jacobs im Jahr 1969 über ihn hergemacht.

Dazu lässt sich sagen, dass a) die Wiederentdeckung des frühen Kinos, auch und gerade bei Noel Burch oder Tom Gunning, stark unter dem Einfluss eben der Avantgardefilmer stand, die zur Auffassung gelangt waren, dass ihnen das nicht-klassische frühe amerikanische Kino in seiner – oben andeutungsweise beschriebenen – «offeneren» Form näher stehe als in der klassischen, die sich, da gehen die Meinungen schon wieder stark auseinander, mit oder – so sieht es die Forschung heute eher – nach D.W. Griffith mit unsichtbarem Schnitt, Decoupage etc. zur dann für Jahrzehnte prinzipiell gültigen Form zu verfestigen begann; und dass b) die Wiederentdeckung dieses frühen Kinos als mit Missverständnissen gezielt oder unabsichtlich operierende Aneignungsgeste war, die auf die implizite Behauptung hinauslief, dass die «cinema of attractions»-Form, die nicht auf die narrative Schließung und das Mithineinnähen des Betrachters ins Erzählgeschehen zielt, näher nicht nur am Kino der Avantgarde, sondern also auch weniger ideologisch operiert (man lese dazu etwa Michael Baute). Eine solche rein affirmierende Aneigung ist etwa in Ernie Gehrs in schönem Enthusiasmus Eureka betitelten Werk zu beobachten (von 1974). Dabei handelt es sich um eine auf die mehrfache Länge gedehnte Fassung des folgenden dokumentarischen Films (von 1903? oder 1905?), die Aufzeichnung einer Fahrt auf der – übrigens kurz darauf im Feuer fast völlig zerstörten – Market Street in San Francisco.

Gehr macht seine Intentionen bei Eureka sehr klar:

To some degree, the original film has obviously been transformed, but I hope that this simple muted process allowed enough room for me to make the original work «available» without getting too much in the way. This was very important to me as I tend to see what I did, in part, as the work of an archaeologist, resurrecting an old film as well as the shadows and forces of another era.

Gehr versteht sich also aneignend als Diener des zugrundeliegenden Films, sehr ähnlich übrigens wie in manchen seiner Äußerungen Gus van Sant bei seinem dem Original auf intrikate Weise un/ähnlichen Psycho-Remake. Gehr tut dem Material, das er wiederverwendet, «nichts» an, außer es, ähnlich wie Douglas Gordon in seiner 24 Hour Psycho-Version seine Vorlage, zu dehnen.

Ganz anders verhält es sich mit Ken Jacobs' Aneignung des 1905 entstandenen Biograph-Films Tom, Tom, the Piper's Son. Obwohl ich hier eigentlich nicht über den Jacobs-Film sprechen will, um nicht gleich sechs Jahrzehnte vorzugreifen, komme ich um die Erwähnung des viel späteren Werks nicht umhin. Kurz sei gesagt, was Jacobs tut: In einem ersten Durchlauf – und dann am Ende noch einmal – zeigt er das Original komplett. Dazwischen aber bearbeitet er es – teils überaus gewalttätig – nach allen Regeln der Filmkunst. Er zoomt hinein, hält es an, schneidet, stellt um, wiederholt, verlangsamt, beschleunigt, löst die vorhandenen Zusammenhänge in andere Zusammenhänge und manchmal auch in reine Licht-Schatten-Rest, in Geflacker und Schatten und fast reine Materialhaftigkeit auf. 

Jacobs' Film ist großartig, eines der berühmtesten Werke der Experimentalfilmgeschichte – aber das heißt auch: Er wirft einen nicht wieder zu beseitigenden Schatten auf das Original. Das nämlich liegt nun, hat man Jacobs' spielfilmlange Analyse/Zerstörung/Dekonstruktion/Hommage hinter sich, in einer solch banalen Offenheit seiner Bildfolge zutage, dass man auch gleich sagen kann: der Experimentalfilm hat das Werk, mit dem er sich auseinandersetzt, auf eine Weise ausgelaugt, vielleicht gar gelöscht, dass sich jedes weitere Wort dazu schier erübrigt.