21. Mai 2010
1910: Urban Gad: Afgrunden
In der Straßenbahn begegnen sich: eine Frau, die tanzen kann, und der Sohn eines Vikars. Gut ausgehen kann das nicht. Das Paar, das keins werden wird, geht in den Zirkus und schon da tanzt die Frau dem Sohn des Vikars mit einem Zirkusmann etwas vor. Mit dem Pferd kommt der Zirkusmann als Cowboy im Pfarrhaus vorbei und sprengt mit der Frau, die das Wilde sucht, auf und davon. Aus der Kutsche steigt bald darauf der Sohn des Vikars und findet die Frau von der Straßenbahn in einer Künstlerpension, nicht in der Wildnis. Eine Geschichte in Fortbewegungsmitteln, die dann in der Tat nicht gut ausgeht.
Urban Gads Afgrunden ist aus Versatzstücken des Ibseni- und Strindbergisierens, der Suder- und Hauptmännerei seiner Zeit zusammengesetzt. Arg frontal pflanzt er die Kamera auf. Arg klischiert sind die Figuren, die immer mal wieder Richtung Filmpublikum sehen. Weiter interessant wäre das nicht, gäbe es nicht die legendäre, oben im Ausschnitt auf Ewigkeitsloop gestellte Szene, in der Asta tanzt. (Die Szene spiegelt sich übrigens in spannender Weise am Ende des Films: Ein Ringen auf Leben und Tod, dessen Choreografie den erotischen Tanz als thanatotischen Kampf wiederholt.)
Die Tanzszene jedoch hat es in sich. Warum sie Asta Nielsen zum Filmstar gemacht hat, sieht man heute noch gleich. Aber auch als Bild-Dispositiv ist sie verblüffend. Der Tanz findet statt auf einer Varieté-Bühne. Rechts im Anschnitt des statisch bleibenden Bilds sieht man im Graben einen Stellvertreter des hinzuzudenkenden Orchesters. Das Publikum sieht man die ganze Zeit nicht. Oder, genauer gesagt: In den Blick gerückt ist nicht das Publikum im Theater, sondern sind drei Männer im Hintergrund, backstage, darunter ein Pickelhauben-Polizist, der vom Tanz ungerührt wirkt.
Aber auch für die drei tanzt Asta und schwingt sie ihr Lasso nicht. Sondern für uns. Der erotische Sadomaso-Tanz, den sie vorführt, richtet sich vollkommen eindeutig an die Kamera, nicht an das fiktive Publikum im Theater. Das Kino also schnappt sich die Bühne und positioniert alles um. Die Kamera steht, anders kann man sich das kaum vorstellen, selbst auf der Bühne, die vierte Wand fällt (und fällt, weil sie nie fallen kann, nicht), das Publikum wird gelöscht und durch drei Hanseln, die für das Theaterpublikum unsichtbar sind, sozusagen ersetzt. Wir aber sind und finden uns als Filmpublikum («exklusiv») näher dran und sehen, fast ist es greifbar, das Gleiten des Glattstoffs auf Astas sich schlängelndem Körper. Sie sieht uns an, sie tanzt nur für uns, sie zwinkert uns zu und stellt sich selbstbewusst unserem fraglos voyeuristischen Blick.