28. Mai 2010
1912: Léonce Perret: Le mystère des roches de Kador
Auf den ersten Blick: ein Kriminalfall. Ein Onkel bekommt testamentarisch eine Nichte mit großem, von ihm bis zu ihrer Volljährigkeit treuhänderisch zu verwaltenden Vermögen in Obhut; einem Vermögen, das an ihn fällt, stößt der Nichte etwas zu. Als er in eine finanzielle Bredouille gerät, verfällt er, wie zu erwarten war, auf die Idee, die Nichte um die Ecke zu bringen.
Der Onkel fädelt das ein mit Schlaftrunk und Brieffälscherei. Er lockt mit eigenhändig gefälschter Briefbotschaft den Geliebten der Nichte ans Ufer mit den Felsen von Kador. Dort zielt er ebenso eigenhändig auf den per Boot anlandenden Geliebten, trifft auch, schlechter aber, als er denkt, macht sich zufrieden davon und sieht nicht, was wir siehen: Der Geliebte findet die schlafende Nichte, schleppt sie, selbst schwer verwundet, ins Boot und rettet beide so vorm Ertrinken in nahender Flut. Er kollabiert im Boot, sie erwacht, wähnt den geliebten Mann tot, verzweifelt im ufernah den Wellen überlassenen Boot, sinkt nieder und verfällt, wir wir später, als sie gerettet ist, sehen, in katatonischen Wahnsinn.
Auf den zweiten Blick: ein Film über das Kommunikationsmedium Brief. Briefe und Schriftstücke sind allgegenwärtig. Einerseits in Intrigenfunktion (gefälschter Brief lockt Opfer zum Stelldichein) und Evidenzabsicht (der gefälschte Brief bricht dem Täter zuletzt das Genick). Andererseits in Rücksicht auf Darstellbarkeit von komplizierten Personenverhältnissen im Stummfilm – also: Brief als innerdiegetischer Schrifttafelersatz. Aber da ist ein Überschuss. Der Film, der immerzu Männern an Schreibtischen zeigt, ist durchwaltet nicht nur von einer Liebe zum Zeigen von Briefen, sondern auch von der Liebe zum Zeigen von Menschen beim Schreiben, beim Lesen, ja sogar schon beim Öffnen von Briefen.
Kurz erwähnen sollte man: Es wird auch telefoniert. Aber doch so, dass man denkt: für diesen Film ist dann eben das Telefonbuch auch nichts anderes als ein Brief und das Telefongespräch briefvermittelte Kommunikation.
Kurzum: Le mystère des roches de Kador ist ein Medienfilm. Dass der Telefonanruf oben im Bild einem Spezialisten für ein anderes Medium gilt, kommt darum kaum überraschend. Dr. Williams ist Psychiater, und zwar einer der avanciertesten Art. Den Wahnsinn der Nichte verspricht er durch medial vermittelte Konfrontationstherapie auszutreiben. Erinnern und Durcharbeiten durch Wiederholen im Bild.
Die Anwendung des Kinematografen auf die Psychotherapie versucht Heilung durch Konfrontation mit Realitäts-Reenactment. Aufgestellt wird die Kamera am Ufer bei den Felsen von Kador. Nachgedreht werden die Schüsse auf den Geliebten, die Rettung der Schlafenden, das Treiben des Boots auf dem Wasser. Und der so entstandene Film wird der Katatonikerin vorgeführt, auf dass sie, vom Erinnerungsbildaufruf des Kinos geheilt, aus ihrem Stupor erwache. Eingerichtet wird also in der geräumigen Praxis des Dr. Williams ein Kinosaal. Die Wahnsinnige wird zum von Arzt und Geliebtem mit Spannung betrachteten 1-Frau-Publikum. Wir beobachten also gespannt im Film, wie der Arzt gespannt die Frau beobachtet, die gespannt den Film beobachtet, den der Arzt für sie nach den Vorfällen, die wir früher im Film sahen, gedreht hat. Auch für uns als Filmzuschauer also eine Verdopplung, die uns vor allem eines vor Augen führt: Was es heißt, Filme zu sehen. Wir erkennen wieder, was wir (nicht) erlebt haben. Wir werden von katatonischen zu mitfühlenden, hingerissenen, dem Leben der Emotion zurückgewonnenen Menschen. (Die Aufklärung des Falls ist nach Heilung des Opfers durchs Kino im Grunde nur eine Formsache in weiteren Briefen. Ein Maskenball spielt auch eine Rolle als im medialen Kontext des Films eher anachronististisches Spiel mit Verbergen und Erkennen.)