10. April 2010
1896: Alltag und Weltgeschichte
Die ersten Jahre des Films sind die Jahre einer grundstürzenden Erkenntnis: Die ganze Welt, buchstäblich alles, was es da gibt, ist noch nicht im bewegten Bild festgehalten. Kein Mensch, kein Kuss, kein Niesen, nicht die Straßen der Städte, nicht die Pyramiden in Ägypten und kein Gärtner in seinem Garten. Keine Badenden, keine Radfahrer, kein Muskelmann, keine boxenden Katzen: nichts. Die Welt als solche als neuer, mit der Kamera zu besiedelnder Kontinent. So ließen die Lumières ihre Teams mit Kameras ausschwärmen in die Welt, auf dass sie im Bewegtbild festhielten, was festzuhalten war. Sogar der Theatermann und Illusionist Georges Meliès arbeitete mit seinen in England erworbenen Kameras erst einmal nur dokumentarisch mit Sujets, die denen der Lumières ähnelten. Von diesem Realitätsschock erholte er sich bekanntlich schnell, baute sein Filmstudio in Montreuil, entwickelte Trickfilmtechniken und inszenierte weltgeschichtlich bedeutsame Ereignisse nach – oder, im Fall der Krönung Eduards VII., sogar vor. (Das war 1902.)
Das erste Stück Ereignisgeschichte von weltweiter Bedeutung filmen die Lumières in Russland: die Krönung des Zaren Nikolaus II. im Mai 1896. Das sieht, naturgemäß vielleicht, wie ein Stück Historienfilm aus: kostümierte Protagonisten vor kostümierten Statisten. Dagegen der Alltagsminimalismus in diesem kurzen Edison-Film: A Morning Bath (auch 1896). Das ganz Große und das ganz Kleine. Eine Frau badet ein – ihr? – Kind. Man staunt, dass sie schwarz ist und fragt sich, ob da ein formalistischer Gedanke dahintersteht: Schwarze Frau vor weißer Wand. Schwarzes Baby mit weißem Schaum. Dokumentarisch im nüchternen Sinn, dass einer seine Kamera irgendwo hinstellt und aufnimmt, was passiert, ist das sicher nicht. Eher inszenierte und typisierte Alltäglichkeit. Es ist ja auch nicht so, dass man angesichts der Unverfilmtheit der Welt die gesamte Kunst- und Fotografiegeschichte auf einen Schlag vergessen könnte. Das Neuland ist, ob es den Filmenden bewusst ist oder nicht, von den bereits existierenden Bildern und Geschichten bereits besiedelt.