12. April 2010
1897: Strukturen des Frisiersalons
Draußen regnet's. Aber der Film ist drinnen. Wie die einzige Figur im Bild, die zu Beginn frontal zum Betrachter steht, den Schirm in der Hand. Eine Art Schwarzblende: Schließen des Schirms – Beginn des Films. Das Szenario: Ein Raum, ereignisreich. Rechts wird jemand rasiert und frisiert. Links setzt sich der Schirmmann in einen Schuhputzthron, ein schwarzer Junge beginnt seine Schuhputzaktion. What Demoralized the Barbershop (1897): Ein Frisiersalon, als Schauplatz aus Schauplätzen. Ein Schauplatz, der sich deshalb anbietet, weil er strukturell aus dem Doppel Stillstellung/Bewegung aufgebaut ist, mit dem das Kino von Haus aus etwas anfangen kann. Das gilt für das spätere Kinodispositiv der Mimesis ans Theater (des 19. Jahrhunderts), mehr aber noch für die Betrachterposition beim frühen Edison-Film im Kinetoskop: eine Face-to-Face-Guckkasten-Situation, in der der Zuschauer als Augen- und Ohrentier (die ersten kinetografischen Filme waren noch Tonfilmexperimente) den Restkörper schutzlos darbietet.
Der linke Bildausschnitt stammt aus einem früheren Edison-Film, der einfach The Barbershop heißt und wohl bereits 1893 gedreht wurde. Er ist strukturell einfacher als die Demoralized-Version (auf die ich gleich zurückkomme), aber interessant genug. Zwei Handlungsebenen als Bildtiefenebenen: Im Hintergrund die generische Aktion: ein Mann wird vom weißbekittelten Friseur erst rasiert, dann – der Stuhl wird aufgerichtet – frisiert. Weiter passiert nichts, aber doch eine zweigeteilte Aktion, ganz in Übereinstimmung mit der Werbetafel rechts im Bild, die das Wunder des Rasierens und Haareschneidens für einen Nickel (5 Cent) verspricht.
Die eigentliche Handlung im Vordergrund. Ein Mann ist offenbar gerade reingekommen, der andere sitzt mit der Zeitung schon da. Das Geschehen im Hintergrund interessiert beide kein bisschen. Der Mann rechts gibt dem links die Zeitung, weist auf einen Artikel hin. Der Mann lacht und schlägt sich auf den Schenkel. Die eigentliche Dynamisierung des Bildaufbaus ergibt sich im Übergabemoment. Eine regelrechte Choreografie, man beobachte alle vier Figuren von Sekunde 12 bis 15: Annäherung im Vordergrund, Aufrichtung des Kunden im Hintergrund. Die Einstellung ist statisch, das Bild selbst ist es, der Tableau-Anmutung zum Trotz, gerade nicht. (Dass derselbe Film zweimal läuft, ist kein Fehler der Youtube-Version: The Barbershop wurde als sehr frühes Edison-Werk wohl zunächst nicht im Hinblick auf kommerzielle Verwertung gedreht und wurde dafür dann kurzerhand per Verdopplung auf annehmbare Länge gestreckt.)
Zurück zum Demoralized-Film. Der Eingang mit den Treppen nach oben - offensichtlich ein Souterrain-Ladengeschäft - ist durch den Auftritt des Schirmmanns bereits als Zentrum des Bilds etabliert. Tatsächlich wird sich die eigentliche Aktion dann in diesem «Bild im Bild» abspielen. (Übrigens hat hier wie da der Ausstatter die typisch amerikanischen Rot-Weiß-Säulen, die Frisiersalons anzeigen, nicht vergessen.) Es ereignet sich nun das gerade Gegenteil zur Bildebenentrennung des früheren Films. Im Bild-im-Bild-Ausschnitt werden Beine sichtbar, gleichzeitig von rechts und von links, und zwar berockte. Erst ein Moment dramatischer Ironie, in dem wir das schon sehen, die Männer im Salon aber ahnungslos noch ihren Beschäftigungen nachgehen. Dann aber wird einer, und zwar derjenige, der bislang am passivsten war (ein Wartender, Zeitung lesend) aufmerksam, dann der Schirmmann im Schuhputzthron, dann der Friseur, der nun blind zu schäumen und zu rasieren beginnt.
Durch die fortgesetzten Tätigkeiten seltsam gebremstes und im Gegensatz von Stillstellung/Bewegung umso konvulsivischeres Tohuwabohu bricht aus. Ein glasklar voyeuristisches Arrangement. Die Männer sehen, aber werden selbst nicht gesehen. Sie beobachten, was im Fenster zur Welt zu beobachten ist – sexuell aufreizende Frauenbeine –, aber es bleibt beim passiven Sehen, kommt nicht zur Interaktion. Immer gieriger die Blicke, ein Purzeln und Händeringen, eine Steigerungsdramaturgie, im letzten Bild sind alle (bis auf den Mann im Rasierstuhl) auf den zentralen Bildausschnitt fokussiert, wo man die Treppe, die tänzelnden Frauenbeine sieht. Kurzum: die Leinwand. (Kein Anachronismus: ab 1896 zeigte Edison seine Filme nicht mehr nur in Kinetoskopen, sondern auch als Leinwand-Projektion.)
Das ganze Arrangement also ganz eindeutig ein Kino-Dispositiv. Klarerweise sexualisiert, Männer, die auf fragmentierte Frauen starren. Aber kein Schnitt, keine bewegte Kamera, die das ganze in ein Wunscherfüllungsszenario transformieren könnte. Es bleibt bei der Komödie der Passivität.
P.S.: Grandiose weitere Frisiersalon-Filme, die ihr Spiel vor allem mit Rasiermessers Schneide treiben: die surreale Valentin-Brecht-Kollaboration Mysterien eines Frisiersalons (1923) und Anthony Asquiths grandioser A Cottage On Dartmoor (1929).