22. April 2010
1900: Straßenszenen. Nichts Besonderes
Das Kino hat zum nicht Besonderen ein vertrauteres Verhältnis als die anderen Künste. Es ist ihm eher gewachsen. Die Fotografie, denkt man, steht dem nicht Besonderen ebenso nahe. Aber nein. Die Fotografie löst das Bild aus der Zeit, die es umgibt. Sie macht es lesbar als komponiertes Bild und scheine, was man auf ihr sieht, noch so belanglos. (Und das nicht Besondere und das Belanglose sind alles andere als dasselbe.) Überhaupt, was für ein weiter Weg für die Fotografie, bis sie die in ihre physiko-chemikalischen Grundprinzipien eingelassene Monumentalisierung der Alltagswelt überwand. Nehmen wir eine Inkunabel der Fotogeschichte, das Erscheinen des Menschen im fotochemischen Bild: Ein Blick aus dem Fenster, Paris, Boulevard de Temple, 1838 oder 1839.
Gegen den ersten Anschein ist dies weniger ein Zeugnis des Erscheinens als des (unsichtbaren) Verschwindens. Der Verkehr auf Straße und Bürgersteig, die Kutschen, die Autos, all die Menschen, die in den zehn Minuten der Belichtungszeit das Sichtfeld der Kamera kreuzten: getilgt wie nie gewesen. Nur das positionsfeste Verharren eines Schuhputzers und des Mannes, dessen Schuhe er putzt, verleiht den beiden ein Zufallsstück Ewigkeit. Die beiden sind Relikte des nicht Besonderen und schon deshalb nicht das nicht Besondere selbst.
Das Jahr 1900, ebenfalls Paris. Die Monate der Weltausstellung, der fünften in Paris, der größten bis dato. Vorgeführt wird der rollende Bürgersteig, rue de l'avenir, Straße der Zukunft (die Kamera fährt mit), der sich, man kann es bedauern, bis heute nicht flächendeckend durchgesetzt hat. Das Cinéorama als 360°-Immersions-Kinoerfahrung. (Wird aber wegen Gefährdung der Öffentlichkeit nach drei Tagen geschlossen.) Und ganz groß raus kommt im sechsten Jahr seiner Existenz auch das Kino der Brüder Lumière. Auf riesiger Leinwand – 33 x 25 Meter – werden im Prachtsaal ihre Filme vorgeführt, in Gegenwart gar des Präsidenten der Republik. (Ein Höhe- als Endpunkt. Die Lumières stellen unmittelbar darauf die Filmproduktion ein.)
Die Filmproduktionsfirma Edison ist bei der Weltausstellung vor Ort. Bewegtbilder von der Lumière-Vorführung gibt es nicht. Auch sonst beeindrucken die so entstandenen Impressionen weniger durch die Darstellung der Attraktionen, die eher wie nebenbei gefilmt werden, sondern durch den Anschein ihrer Alltäglichkeit. Die Weltausstellung war ein Event, aber eines, das Monate dauerte. Vielleicht deshalb gelingt es den Edison-Filmen, das Jetzt-an-diesen-Ort-Gestelltsein der Kamera und den Fluss des einfach Geschehenden vor ihrer Linse zu einem dokumentarischen Amalgam verschmelzen: Sie hält das nicht Besondere für eine entspannte Form von Ewigkeit fest.
Etwa hier, Menschen mit Schirman, am Anfang ein leerer Rollstuhl, das Schwenken der Kamera, ein Mann zieht den Hund und schwenkt ihn, lachend, und setzt ihn, als er aus dem Bild verschwindet, gerade wieder auf. Ein weiterer Schwenk, dann hält die Kamera inne und beobachtet Menschen, die über die Brücke gehen, mit Hüten, mit Schirmen, und weiter nichts Besonderes tun. Dann eine Szene, für den Film inszeniert oder nicht, viel zu viele Männer auf einem weiteren Rollstuhl, sie bewegen sich auf die Kamera zu und zuletzt erst wird derjenige sichtbar, der den Stuhl schiebt. (Ganz zuletzt erst, wie ein nachträglicher und eher sinnloser Gedanke, ein Blick von oben, eine Totale.)
Vergleichbar und faszinierender noch des exotischen Orts wegen sind die folgenden Aufnahmen: Straßenszenen aus Algier, Kutschenverkehr, Markttreiben. Dann plötzlich gerät das Bild in Bewegung – die Kamera ist auf eine Straßenbahn aufgesprungen. (Diese Straßenbahnen machen, wie der Diskussion bei Dailymotion zu entnehmen ist, die Datierung 1896 sehr zweifelhaft. Wahrscheinlich stammt der Film eher aus den Jahren 1899 oder 1900.) Ein weiterer Sprung, die Kamera zu Wasser auf einem Boot. Ein Schiff wird beladen, ein Mann auf einem Kahn zieht vorbei, Gebäude am Ufer, Boote vor Anker. Weiter nichts.