3. Mai 2010
1903: Edwin S. Porter: The Great Train Robbery
In der Mitte der Mann von der Bahn, rechts das Fenster zum Zug (und im Fenster zum Zug dann der Zug), links die Tür, durch die Bahnräuber dringen. Erstes Bild, Ausgangssituation. So beginnt das Spiel von Stillstellung und Bewegung, das die Narration von The Great Trin Robbery ausmacht. Mehrfache Stillstellung zunächst: Der Zug wird zum Anhalten gebracht. Der Mann von der Bahn bekommt einen Schlag auf den Kopf, wird gefesselt. Die Räuber eilen hinaus links zur Tür. Das Dispositiv dieses Ausgangs bleibt als Stillleben zurück.
[Tag, draußen. Die Räuber klettern auf den Zug. Leichte Diskrepanz zum Drinnengeschehen. Ist das Gebäude, das man nun von außen sieht, eine Beladestation, identisch mit dem Häuschen, das man von drinnen sah? Wo bleiben dann aber die Männer von drinnen? Und wenn nein: Wie verhalten sich der Drinnenraum und das Draußengebäude räumlich und zeitlich zueinander?]
Wieder Drinnenraum: fahrender Zug. Rechts wieder ein Fenster, diesmal zur vorbeiziehenden Welt. In der Mitte wieder ein Mann von der Bahn, der hantiert. Links wiederum eine Tür. (Wiederholung mit Variation der ersten Szene.) Dann sehen wir, dass der Mann im Off etwas hört: unmissverständliches Entsetzensgehampel. Wieder von links dringt Action in den Raum, der – wie der zuvor – in einer statischen Kameraeinstellung gefilmt ist. Man hört, signalisiert der Rauch, Schüsse. Mann von der Bahn wiederum niedergestreckt. Rechts immer noch Vorbeiziehwelt. Der linke Mann hält, sich an der Tür hin- und herwendend, die Verbindung zum Off aufrecht.
Längst ist ein Attraktor in den Raum eingeführt, ein McGuffin für die handelnden Männer und für unseren Blick: eine Schatztruhe. Ein Räuber hantiert, die beiden verlassen den Raum (und das Bild), räumen so den Platz frei fürs Spektakel. Man hört, signalisiert der Rauch, einen gewaltigen Knall. Der Knall ist farbig. Bunter Rauch: Super-Attraktor. Für den Moment löst sich die Handlung in Rauch auf, der Special Effect, handgemalt, zieht den staunenden Blick auf sich.
Fahrender Zug, draußen. Hut (mit Mann) kommt vom unteren Rand aus ins Bild. Anschleichszenario, Kampfszenario mit Kohleschaufel. Fahrender Zug, Action, Kamera unbewegt. Fahrer wird nach rechts vom Zug geworfen, aus Bild entfernt. Ein Problem des unbewegten narrativen Filmbilds, dessen Off ein anderes ist als das der Bühne. Den Raum im «realistischen» Erzählfilm haben wir uns als kontinuierlichen vorzustellen. Der Actionfilm, der immerzu leblose Körper produziert, muss die, versteht man, entweder liegenlassen und weiterziehen oder er entsorgt sie und dann zuckelt der Zug beruhigt ein Weilchen noch weiter.
Abkopplung des Führerstands. Bewegung vorne - Stillstand hinten. Schnitt auf den stehenden Zug. Der wird unter Waffengewalt geleert, eine Massenszene, reizvoll komponiert. Die Gleise queren, dem Raum Tiefe verleihend, von links vorne nach rechts hinten das Bild. Davor aufgereiht die überfallenen Passagiere, die erhobenen Hände betonen gegen die Gleishorizontale die Vertikale. Eine ganze Weile hält kein Geschehen, sondern eine bloße Unruhe dieses Bild in Bewegung. Dann Action: Mann rennt, wird erschossen, Sterbegehampel, lebloser Körper. Auflösung der Szene in Haufenbildung und Flucht.
Zugführerstand dampft ab. Schnitt. Männer verlassen den Zug, verlassen das Bild nach links. Kamera schwenkt, wie aus ihrem statischen Schlummer erwacht, hinterher. Links zack, Männer verschwinden nach unten aus dem Bild, runter zack. Schnitt. Männer auf Flucht, Slalom durch Bäume auf Kamera zu – und, voilà, Lektion gelernt, Kamera schwenkt wieder nach links, weiter, weiter, wundersame Wandlung des Raums, herrliche Transsubstantiation: das Off wird On nach links hin, das On wird Off nach rechts hin. Zur Belohnung kommen Pferde ins Bild.
Rückblende, als Rückkehr ins erste Bild. Wiederaufnahme der Szene mit leblosem Bahnmannkörper. Kind betritt Raum von links: Flehgehampel, lilafarbener Umhangattraktor. Unterdessen, andernorts. (Der narrative Film entdeckt, von Schnitt zu Schnitt geschmeidiger werdend, Adverbialkonstruktionen für Raum-, Zeit- und andere Verhältnisse.) Unterdessen, andernorts: Tanz. Im statischen Bild nun Bewegung, Ringelreihen in der Mitte, auf einem Podium rechts pumpen – lautstark, wie man sieht – die Musikanten. Dazu Farbe in Wimpeln und Kleidern und Schussrauch. Neue Tanzformationen und das Tanzen gewinnt, obwohl es narrativ doch nur auf seine Auflösung hinauslaufen soll, sichtlich Eigengewicht. The Great Train Robbery: ein Tanzfilm.
Abgang nach links. (Die Tür für die Abänge ist immer links, nach rechts verschwindet nur ein lebloser Körper.) Jetzt Pferdeverfolgung. Eine Szene mit Zukunft, spätestens an dieser Stelle wird klar: Hier nimmt ein Genre seinen Ausgang. Interessante Wirkung des farbigen Rauchs wiederum: Attraktor, zugleich diffundiert für Momente die Verfolgungsspannung zu Schönheit. Dann Räuber vor Bäumen vor Pferden vor, heranrückend, Verfolgern im Bildhintergrund. Tiefenstaffelung des Bilds in freier Natur, Showdown farbrauchpunktiert. In Bewegung versetztes Gemälde. Unspektakuläre Auflösung, Rückaneignung der Beute im Vordergrund.
Dann aber! Mann mit Schnauz und Cowboyhut und lila Latztuch in klassischer Frontalporträtstellung. Er hebt den Arm, er richtet die Waffe auf den Kamermann/den Betrachter, er schießt mich tot. Das letzte, was ich sehe, sind sich in Schall und Rauch auflösende Konturen. (Dem Vorführer war es freigestellt, diese Einstellung an den Anfang oder ans Ende des Films zu setzen. In der Regel ist sie, wie hier, am Ende zu sehen. Sonst wäre der ganze Film, allerdings ein sehr reizvoller Gedanke, nichts als eine Serie von Nachbildern.)