21. Juni 2010
1917: Yevgeni Bauer: Der sterbende Schwan
An der Biegung des Flusses begegnet Gizella, die stumm ist, einem Fremden auf der Suche nach seinem Hund. Den Hund sehen wir jetzt und auch später kein einziges Mal. Der Vater Gizellas, der im Fluss angelt, erklärt dem Fremden, dass Gizella nicht spricht. Den ficht das nicht an. Er kommt zu Besuch, mehr als einmal. Sie machen eine Ausfahrt in der Kutsche, die wie das Bild selbst, in das Yevgeni Bauer seine Protagonisten setzt, mit einer weißen Bordüre am oberen Rand begrenzt ist.
Bauer schafft Räume und in und mit diesen Räumen schafft er seinen Figuren Platz für Intensität. Drinnen wie draußen, jedes Draußen öffnet sich auf ein Innen. Für Gizella ist dies oft ein Eingeschlossensein, weil sie schweigen muss. Zum Ausdruck im Tanz findet sie später. Liebe wäre die Möglichkeit, sich zu öffnen, durch diese Öffnung etwas wie Geborgenheit zu finden, gemeinsam mit dem anderen in der Natur. (Man bedenke: An der Biegung des Flusses begegnen sich Viktor und Gizella zuerst. Hier steht Gizella am Rand. Oft stellt Bauer sie in seinen mit Bedacht komponierten Bildern an den Rand. Das Glück ist für sie: Mit dem andern in der Natur zu sein in der Mitte. Fast verschmilzt der Körper, wie der des Mannes, mit der Natur. So verschmelzen sie miteinander. Es ist aber Trug.)
Gizella wird von Viktor verraten. Er küsst – sie sieht ihn, der sie nicht sieht – eine andere. Sie wendet sich ab, sie schlägt die Hände vors Gesicht: Ausdrucksgesten aus dem Stummfilmvokabular, aber bei Bauer haben sie eine weitere Dimension. Sie sind nicht einfach äußere Zeichen für innere Vorgänge, sondern sie entfalten ein Drama der Innerlichkeit auf dem Schauplatz des Äußeren. Am eindringlichsten viel später, im zweiten Teil, wenn sie Viktor wiederbegegnet, in einem Garten. Sie stockt, sie flieht, sie sucht Schutz oder Trost oder Halt an kühlem, schweigendem Stein. Dann sitzt sie auf einer Veranda und dass Bauer sie hier in der Bildmitte platziert, verspricht kommendes Glück. (Nur dass es nicht von Dauer sein wird, das sieht man nicht.)
Pflanzen, Natur gegen Gebautes. Pfeiler, Brüstungen, Treppen, Balustraden, Portiken: Übergangsräume, in denen das Menschengemachte stabilisierend in die Natur ragt. Stein, der Halt gibt, und sei es zum Schein. Auf einer Veranda sehen wir früh den ersten versuchsweisen Tanzschritt Gizellas. Tanz wird ihr Leben: die Bühnenkunst, die nicht nach Worten verlangt und doch spricht. «Der sterbende Schwan» wird ihr piece de resistance, ihr Glück und ihr Unglück. Ihr Tanz nämlich spricht – aber falsch! – zu einem anderen Mann. Hier der Tanz, er ist virtuos, denn Vera Karalli, die Gizella spielt, war eine der großen Tänzerinnen in Dhiagilevs Bolschoi-Tanz-Truppe. (Es gibt auch eine Aufnahme von Anna Pavlova, für die Michel Fokine die Choreografie 1905 entworfen hatte, bei Youtube: Sie stammt aus dem Jahr 1925.)
Zwei Passagen des Films sind blau viragiert. Zum einen der Tanz der Gizella (der Tanz und der Tod sind in diesem Namen sicherheitshalber doppelt gemoppelt). Zum anderen aber ein Alptraum, in dem ihr erst eine Frau im weißen Gewand erscheint. Dann greifen Hände nach ihr, als wollten sie sie erwürgen. Diese Sequenz wird gegen Ende kurz wiederkehren.
Der Tanz spricht, aber er begeistert den Falschen, denn er spricht vom Tod. Auftritt Graf Glinski, der als Maler eine einzige Obsession hat: gelungene Darstellung des Todes. In Gizellas «Sterbendem Schwan» findet er, was er sucht. Er holt sie ins mit allen zeichen der Thanatophilie ausgestettete Atelier, als Modell, er malt sie in der Pose des Sterbens. Sie ist ihm, als sie nach der Verlobung mit Viktor zur letzen Sitzung wiederkehrt, entschieden zu glücklich. Das Leben selbst, muss man wohl sagen. Der finstere Graf rückt die Pose zurecht, mit eigener Hand, die dem Modell an den Hals geht. Wiederkehr der Würgesequenz. Sterben muss das Modell, in vollendeter Schönheit.