17. Februar 2009
Grund allen Übels Zum literarischen Werk von Thomas Harlan: Heldenfriedhof und ein kurzer Rückblick auf Rosa
Die Grundübelau im Berchtesgadener Land ist ein Tal, das vor allem den Wanderern bekannt ist. Sie gehen die Ramsauer Ache entlang, entweder hinunter durch den Zauberwald zum Hintersee und weiter zur Mündung des Achenbachs, der aus der Mordau herauskommt, oder hinauf zum Hirschbichlpaß an der österreichischen Grenze. Daß einige Namen in dieser Gegend einen merkwürdigen Klang haben, wird den Einheimischen vielleicht gar nicht mehr auffallen. Für den Schriftsteller Thomas Harlan, in dessen Universum alles eine Bedeutung hat und alles sich auf das eine bedeutsame Faktum der nationalsozialistischen Verbrechen bezieht, ist die Grundübelau ein historischer Ort in mehrfacher Hinsicht: Hier war nach 1945 ein wichtiger Übergang im kleinen Grenzverkehr zwischen Deutschland und Österreich, hier fanden wichtige Beteiligte am Grundübel des 20. Jahrhunderts eine Zuflucht, hier fanden sie auch ein Nadelöhr, durch das sie zurückfanden in die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich. Sie fanden aber keinen Frieden, auch wenn sie vielfach der Verfolgung durch das Gesetz entgingen.
In seinem Roman Heldenfriedhof versucht Thomas Harlan nicht weniger, als die Totalität der Verbrechen und ihrer unvollständigen Sühne zu erzählen. Der Nationalsozialismus und dessen Tötungspolitik ist für ihn nicht zu Ende, solange die Lagerleiter aus Belzec, Sobibor und Treblinka, solange die Verantwortlichen für die Räumung des Warschauer Ghettos, solange wesentliche Teilnehmer an der geheimen Operation Reinhard(t) – der Ermordung der osteuropäischen Juden – noch leben. Das Datum, mit dem der Roman Heldenfriedhof einsetzt, ist der 26. Mai 1962. An diesem Morgen wird auf dem Friedhof von Opicina, unweit von Triest an der Grenze Italiens zum sozialistischen Jugoslawien, eine Grabschändung entdeckt. Die Leiche des SS-Majors Christian Wirth ist verschwunden, an seiner Stelle werden vierzehn andere Leichen in Gruben entdeckt, die anscheinend eigens für diese kollektive, nächtliche Selbsttötung ausgehoben wurden. Die Identität dieser Leichen wird bald geklärt – es handelt sich um ehemalige Beteiligte an der Operation Reinhard. Sie scheiden aus dem Leben nicht, weil sie damit ihre Schuld eingestehen wollen, sondern weil sie damit das Schweigen besiegeln wollen, das über ihren Verbrechen ruhen soll.
Wie es Thomas Harlan so will, hat am Vorabend dieses außerordentlichen Vorfalls in der Triestiner slowenischen Tageszeitung Primorski dnevnik der Abdruck in Fortsetzungen des Romans Heldenfriedhof von einem gewissen Heinrich Duerr begonnen. Die Ereignisse von Opicina sind darin bis ins Detail vorweggenommen, wodurch der Roman Heldenfriedhof von Thomas Harlan zu einer paradoxen Konstruktion wird: zu einer Meditation in Fragmenten über ein gleichnamiges, gescheitertes Romanprojekt, das mit den Mitteln der Fiktion auf die innerste Wahrheit der nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen zielt. Neben die Shoah, die Vernichtung der Juden, tritt bei Harlan dabei die «Euthanasie», die Tötung unwerten Lebens.
Heldenfriedhof ist also nominell eher das Werk eines Herausgebers: Thomas Harlan, der Textmaterial gesammelt hat von dem vielfach begabten und abgrundtief verzweifelten Triestiner Enrico Cosulich (alias Heinrich Duerr, nebst einiger weiterer Pseudonyme). Cosulich hat im Jahr 1944 seine schwermütige Mutter Margarita verloren – sie ging auf einen Transport in den Osten, und wurde nie wieder gesehen. Nach dem Krieg widmet sich Cosulich, neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit und seinen Kompositionen, obsessiv der Erforschung der Verbrechen einer Gruppe von Menschen, die nach 1941 in Polen und ab 1944 in der Operationszone Adriatisches Küstenland tätig waren: Hermann Höfle, Christian Wirth, August Dietrich Allers, Odilo Globocnik und eine ganze Reihe weiterer Personen, die mit den genannten in Verbindung standen, ihnen zuarbeiteten oder ihnen nach dem Krieg behilflich waren. Cosulich arbeitet wie ein Privatdetektiv, er reist den Leuten nach, fotografiert sie, legt Dossiers über sie an, und er arbeitet dabei mit Personen der Zeitgeschichte zusammen, deren Verdienste um die strafrechtliche Verfolgung der NS-Verbrechen entscheidend waren: Der 1995 verstorbene Österreicher Hermann Langbein oder der 1968 mitten in den Vorbereitungen zu einem großen Prozeß unter nicht ganz eindeutigen Umständen verstorbene hessische Generelastaatsanwalt Fritz Bauer.
Wenn man so will, ist Enrico Cosulich, eine Figur aus dem Geiste Thomas Bernhards, die entscheidende Fiktion in dem Roman Heldenfriedhof. Sie dient jedoch nur der besseren Kenntlichmachung der tatsächlichen Geschehnisse zwischen 1945 und 1968. Unschwer ist außerdem zu erkennen, daß Cosulich/Duerr viele Züge von Thomas Harlan selbst trägt, dem eigentlichen Autor von Heldenfriedhof, der mit seiner ganzen Biographie in diesem hochkomplexen Romanprojekt präsent ist. Thomas Harlan, 1929 in Berlin geboren, ist der Sohn von Veit Harlan, des wichtigsten Filmemachers im Nationalsozialismus. Von Veit Harlan stammt nicht nur der paradigmatische antisemitische Propagandaspielfilm Jud Süß, sondern auch der Durchhaltefilm Kolberg (1945) und eine Reihe von weiteren Schlüsselfilmen des von Goebbels gelenkten Nazikinos wie Die goldene Stadt (1942) und Opfergang (1944).
1949 wurde Veit Harlan der Prozeß gemacht, sein Freispruch wurde als Zeichen dafür empfunden, daß fortan zwischen Haupttätern (die alle tot waren) und Mittätern (die sich auf Befehle von weiter oben berufen konnten) unterschieden werden sollte. Genau gegen diese Unterscheidung, die das Jahr 1945 als große Wegscheide aufrichtet, ist Heldenfriedhof geschrieben. Thomas Harlan hat viele Daten aus seinem eigenen, bewegten Leben eingearbeitet. 1960 ging er in das sozialistische Polen und barg aus dortigen Archiven wesentliche Dokumente, die für die Verfolgung von Verbrechen im Rahmen der Operation Reinhard(t) relevant waren. In der Bundesrepublik Deutschland wurde ihm wegen Landesverrats der Prozeß gemacht, er lebte danach vorwiegend in Italien, Frankreich und Portugal (wo er 1976 einen Film über die Nelkenrevolution drehte). In den siebziger Jahren entstand in Frankreich der umstrittene Film Wundkanal, in dem er den nun schon über 70jährigen, ehemaligen SS-Obersturmbannführer Albert Filbert vor einer Kamera zum Sprechen bringen wollte. Das ganze, erratische Lebenswerk von Thomas Harlan bis zu seinem Roman Rosa (2000) kann als ein Versuch gesehen werden, die Taten und vor allem das mangelnde Schuldbewußtsein seines Vaters zu exorzieren. Mit Rosa erst schien er seine eigentliche Form gefunden zu haben: Nur mit einer wuchernden Sprache kann er das Ich, das angesichts der überwältigenden Negativität der Vernichtungspolitik zu zerbrechen droht, notdürftig wieder zusammenfügen.
Aus der gegenwärtigen kulturellen und politischen Landschaft, mit ihrer nur noch notdürftig bemäntelten Faszination für die Täter (jüngstes Beispiel: der enorme Erfolg der Offiziersprosa von Jonathan Littell, dessen in Frankreich publizierter Roman Les Bienveillantes im Herbst auch in Deutschland für Rummel sorgen wird) und einer allmählichen Historisierung der Opfererfahrungen, ragt Harlan auch deswegen heraus, weil er sich dieser Unterscheidung verweigert. In einem zentralen Kapitel über die Räumung des Warschauer Ghettos wechselt er mehrmals die Perspektive (daß er sich en passant mit Marcel Reich-Ranicki anlegt, in dessen Autobiographie diese Ereignisse auch berichtet werden, bekräftigt nur den Außenseitergestus, mit dem Harlan antritt).
Die Lektüre von Heldenfriedhof wird dadurch insgesamt zu einem guten Stück Arbeit, weil nicht nur die Perspektiven und die Erzähler ständig wechseln, sondern auch die Tonlagen. Es gibt lange Wahnmonologe und noch längere Litaneien – so werden zum Beispiel alle Mitglieder des Deutschen Bundestags von 1968 namentlich genannt, die für das «Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeiten-Gesetz» gestimmt hatten, das zur Einstellung der meisten noch anhängigen Verfahren gegen Vertreter des nationalsozialistischen Regimes geführt hatte. Die Unversöhnlichkeit, mit der Harlan hier gegen das politische Establishment im Nachkriegsdeutschland vorgeht («der seinen Anspruch auf Existenz verwirkende Bundestag»), ist aber nur die Kehrseite einer radikalen Verwundbarkeit, die er seiner Figur des Enrico Cosulich eingeschrieben hat. Mit seiner ganzen Existenz und der Frömmigkeit einer negativen Mystik kreist dieser Mann um «das Eine»: Er habe «seit jungen Jahren gewußt, daß nichts Anderes sich in diesem Jahrhundert ereignet habe als eigentlich das Eine; daß dieses Eine wahrscheinlich auch noch im kommenden, zweiten Jahrtausend die Beschäftigung mit etwas Anderem als diesem Einen ausschließen würde und alle dennoch erwähnenswerten Leistungen oder Tätigkeiten, wenn auch wohl nirgens denn in der Kunst, allein deshalb noch auf eine gewisse Gültigkeit hoffen könnten, weil sie sich eben auf dieses Eine, es vorausahnend oder in sich aufnehmend, bezögen und von ihm untrennbar gemacht hätten wie Wissen.»
Es zählt zu den Klischees der Nachkriegsgeschichte, daß nach Auschwitz keine Gedichte mehr zu schreiben seien, daß sich die Shoah der Darstellung entzöge, daß vor dem Zivilisationsbruch nur eine Kunst der Unterbrechung bestehen könnte. Die Literatur (und das Kino) haben sich diesen Klischees längst entzogen, es gibt zu Auschwitz (das, nebenbei, nicht das Thema von Thomas Harlan ist: er weiß mehr über Chelmno, Belzec, Sobibor und Treblinka) inzwischen Texte und Filme, die trivialer nicht sein könnten. Es gibt aber eben auch Werke, hinter die «das Wissen» nicht mehr zurück kann: Die Dokumentarfilme von Claude Lanzmann zählen dazu, und nun auch die Romane von Thomas Harlan, in denen «das Eine» zu einem Datum der Erdgeschichte wird. Die Grundübelau ist überall.
Rosa (Eichborn Berlin Verlag 2000) | Heldenfriedhof (Eichborn Berlin Verlag 2006)