thomas harlan

17. Februar 2009

Opa war ein Nazi Spielhandlungen: Über Thomas Harlans Wundkanal – Hinrichtung für vier Stimmen und Notre Nazi von Robert Kramer

Von Simon Rothöhler

Wundkanal

© Edition Filmmuseum

 

Gleich zu Beginn: konspirative Bilder. Bilder, deren Status unsicher bleibt. Bilder einer Beobachtung, Überwachungsbilder, von einer geschützten Position aus aufgenommen; verdeckte Ermittlungen. Sie zeigen ein Café in einer Fußgängerzone. Passanten gehen vorbei, unauffälliger Alltag, westdeutsches Ambiente. Dazu Wagner-artiges auf der Tonspur, elektronisch verfremdet, aus der Ferne anrollend. Die Kamera vollzieht eine Suchbewegung, die nach kurzer Zeit einrastet: Zwei distinguierte ältere Herren im Gespräch werden fokussiert, durch kurze freeze frames als Zielobjekte markiert. Die beiden unterhalten sich, lachen; alte Kameraden, man versteht sich auf Anhieb. Abblende.

Aufblende. Im Bildhintergrund Licht am Ende eines Tunnels. Eine schwarze Limousine fährt ein, kommt näher. Eine eingeblendete Schrift informiert im Nachrichtentickerstil über Paul Werner: geboren am 6. Juni 1900 in Lörrach, BRD, Vize-Innenminister von Baden-Württemberg, gesucht wegen Massenmordes, Erbauer des Hochsicherheitstrakts von Stammheim, verantwortlich für die «angeblichen Suizide» dort. Sagt die Schrift. Autor unbekannt. Ein Raum ist zu sehen, schemenhaft erhellt nur durch den nervös umherstreifenden Lichtkegel einer Taschenlampe. Personen, die Gegenstände herbeischleppen. Alles ist mit schwarzer Folie ausgelegt. Auf der Tonspur das Hecheln eines Hundes, Musik, die wie alte Filmmusik klingt. Eine weitere Schrifteinblendung richtet sich an den Zuschauer, wird zum Opening Credit – jetzt geht es nicht nur um Werner, sondern auch um die Hauptfigur des Films, Alfred Filbert: «the authors of the 1939-1945 genocide / now still active & involved in / the german prison killings 1977 / Wundkanal».

Ihre Deutschland-Premiere erlebte Thomas Harlans zweite Regiearbeit Wundkanal auf der Berlinale 1985. Unter den Zuschauern der einigermaßen legendären Aufführung befand sich auch der Filmkritiker David Denby, der heute Redakteur beim New Yorker ist. Der Film ließ den Amerikaner ratlos und widerwillig zurück, fasziniert haben ihn hingegen die aggressiven Reaktionen des deutschen Publikums: «After the movie was over, Harlan answered questions and statements. The young, educated audience, almost all of it German, hammered away at him – one after another, the kids accused him of pointless mystification, self-absorption, failure. The discussion was inspiring – much more intense and candid than the usual post-screening palaver at American festivals. There was a general feeling that art was somehow inadequate to the subject of mass murder.» Die «kids» (ein verspäteter Paternalismus der Re-Education?) fühlten sich offenbar doppelt provoziert: politisch und ästhetisch.

Wundkanal gehört zu jenen Filmen, die bei ihrem Eintritt in die Öffentlichkeit des Kinos intensiv und kontrovers diskutiert werden, dann aber untertauchen und hinter ihrer eigenen Rezeptionsgeschichte gleichsam in die Unsichtbarkeit zurücksinken. In die Filmhistorie gehen sie ein als Gerücht, das immer mal wieder von jemandem weiterkolportiert wird. Ursächlich dafür ist im vorliegenden Fall ein Skandalon: ein hochrangiger Nazi – Alfred Filbert, zeitweilig stellvertretender Chef des Geheimdienstes der SS im Amt VI des Reichssicherheitshauptamtes, 1962 wegen gemeinschaftlichen Mordes in 6 800 Fällen zu lebenslänglicher Haft verurteilt, 1975 aus «medizinischen Gründen» vorzeitig entlassen – «spielt sich selbst» in einem fiktionalen Film, der sich in spekulativer Weise mit den Toten von Stammheim und der Kontinuität des Nazi-Faschismus in der BRD beschäftigt.

 

Notre Nazi

© Edition Filmmuseum

 

Hinzukommt eine außergewöhnliche Parallelaktion: Der amerikanische Dokumentarist Robert Kramer (Ice, Route One USA, Milestones) beobachtete auf Harlans Wunsch hin das soziale Experiment, das die Dreharbeiten letztlich waren. Notre Nazi heißt der verstörende Film, der auf den Festivals in Venedig und Berlin gemeinsam mit Wundkanal gezeigt wurde und dessen Rezeption schnell überlagerte. Ein Double Feature der besonderen Art: der B-Film frisst den eigentlichen. Dass er Notre Nazi von Anfang an als bewusste Decouvrierung und Problematisierung seiner eigenen Arbeit intendiert hatte, ist Harlans Auskunft zum Verhältnis beider Filme, auch heute noch. Von einer Usurpation will er nicht sprechen, auch wenn es ihn irritiert haben muss, dass Notre Nazi nicht als Komplement und Reflexionsstufe, sondern als Widerlegung und Desavouierung von Wundkanal wahrgenommen wurde. Getrieben, mitunter auch hilflos wirkt Harlan als Darsteller in Notre Nazi, angeleitet von einer Wut, die Kunst werden soll, dafür aber vielleicht zu persönlich ist.

Vom «Ersatz-Vater» und gescheiterter Sublimierung sprechen viele zeitgenössische Kritiken zu Wundkanal – sie unterschätzen zumindest die Reichweite des Films. Jean-Marie Straub soll nach der Aufführung beider Filme gesagt haben: «Ein Peitschenschlag bleibt ein Peitschenschlag, auch wenn er für die gerechte Sache geschieht.» Dem wäre entgegenzuhalten, dass die Frage, wie das Filmteam während der Dreharbeiten mit Filbert umgegangen ist, von nachrangigem Interesse ist. Sadismus war wohl ohnehin nicht im Spiel, eher Konfusion: Filbert erhielt keine «Peitschenhiebe», sondern eine Geburtstagstorte; der Maskenbildner Hertz Nativ lud ihn laut Harlan sogar nach Israel ein. Nur in einer polemisch verkürzten Lektüre lassen sich die Abgründe, die sich in Wundkanal auftun, auf Egomanie und privatistische Obsessionen reduzieren. Der Rest ist Distinktionskampf zwischen zwei konträren Auffassungen modernistischer Ästhetik. Harlan hat mit jedem seiner drei Filme neu angefangen, immer alles riskiert, nie einen Stil ausgebildet. Schwer vorstellbar, dass es «Harlanianer» gibt.

Versucht man sich Wundkanal aus heutiger Sicht anzunähren – ausgestattet mit dem Wissen um Harlans thematisch und konzeptionell verwandte literarische Arbeiten Rosa und Heldenfriedhof – fällt vor allem die artifizielle Form auf, in die die «production values» (der echte Nazi, aber auch der familiäre Hintergrund des Regisseurs, als Sohn Veit Harlans) eingelassen sind. Harlan lockte Filbert in den Film und verwickelte ihn in eine mehrfach uneindeutige Fiktionalisierung. Der echte Nazi bringt gegen erkennbare innere Widerstände seine eigene Biographie ins Spiel, sucht und findet aber immer wieder Halt in erfundenen Geständnissen und eigentümlichen Spielhandlungen. Er spielt den Nazi, der er ist – erweitert durch fiktionale Unter- und Übertreibungen, die ihm augenscheinlich als Selbstschutz dienen, jedenfalls ein abstraktes Sprechen von sich selbst ermöglichen, das mehr ist als bloßes Leugnen oder blindes Rechtfertigen.

Für dieses befremdliche Re-enactment einer phantasmatisch aufgeladenen Verhörsituation entwirft Wundkanal – bevorzugt in langen Plansequenzen, die der Kameramann Henri Alekan konzipierte – einen filmischen Kunstraum, der außerhalb der Geschichte steht, aber voller historischer Zeichen und Signale ist. Das beginnt bei den offenen Anspielungen auf die Schleyer-Entführung, verläuft über das Deklamieren von Dokumenten, die Harlan bereits in den 60er-Jahren in polnischen Archiven recherchiert hatte und später virtuos in seine Romane einarbeitete und endet beim direkten zitieren von Immensee; ein Film, der den altersschwachen Nazi zu Tränen rührt. Filberts Gefängnis, gewebt aus den akusmatisch flüsternden Stimmen seiner Entführer, ist eine Bühne, ein theatraler Raum, der mit seinen Fernsehern, Tonbandgeräten, Zeichnungen und Fotografien wie eine hermetische Medieninstallation anmutet und darauf angelegt ist, Bilder und Vorstellungen auf ein Subjekt zurück zu projizieren, das unfähig ist, auch nur ansatzweise ein Selbstgespräch über die eigene Schuld zu führen.

In gewisser Weise benötigt man Kramers Making-of nicht, um zu sehen, wie ambivalent Wundkanal als Dispositiv der Öffentlichmachung einer Täterschuld operiert. Gerade weil sich der Film relativ ungeschützt in seinen widersprüchlichen und sicherlich auch unausgegorenen Prämissen verkantet, ist er auch heute noch von großem Interesse – vor allem als Versuch, im Medium des Fiktionalen und in gewisser Weise jenseits des Individuums über historische Faktizität zu sprechen.

Wundkanal ist ein Film über einen Nazi-Täter, der vor unseren Augen desintegriert. Er löst sich auf im Spiegelkabinett einer filmischen Anordnung. Verunmöglicht wird dadurch einerseits jene Form der spekulativen Identifikation mit einem Massenmörder, die grundsätzlich durchaus in einen zweifelhaften ästhetischen Mehrwert übersetzbar ist (siehe Jonathan Littells Die Wohlgesinnten). Der Preis dafür ist, dass sich das Tätersubjekt auch als historischer Akteur entzieht. In Wundkanal wird Filbert zu einer fast mythisch überhöhten Attraktion, zu einem historisch leeren Zeichen, das kaum mehr mit einem konkreten Schuldvorwurf adressierbar ist. Eine Kunstfilm gewordene Psychoanalyse, der der Analysand abhanden kommt. Zur Disposition steht dabei letztlich auch die Erkennbarkeit der Geschichte. Die Radikalität, mit der Harlan seine zum Teil juristisch belastbaren Archivfunde, von denen Fritz Bauers Ludwigsburger Zentralstelle außerordentlich profitiert hat, als Spiel-Material einer Fiktion behandelt, bleibt eine Provokation, die man in einer anderen Konstellation kaum erträglich finden würde.

In Harlans filmischen wie literarischen Arbeiten lässt sich vielleicht insgesamt eine Tendenz ausmachen, den Geltungsansprüchen der Historiographie gewissermaßen in letzter Sekunde auszuweichen und eine andere Wahrheit in der nachträglichen Fiktionalisierung dokumentarischer Befunde zu suchen. Seine nie fertig gestellte Monographie «Das Vierte Reich» wäre in diesem Sinn das intellektuelle Zentrum dieses Werks – und Wundkanal, nicht nur wegen der Bearbeitung der hassgeliebten «Vaterfigur» Filbert, ein komplexes Symptom, das deutungsbedürftig bleibt.