spielfilm

2. Juni 2009

Chatrichalerm Yukol: Hotel Angel (1974) Kurzer Einführungsvortrag, gehalten im Rahmen der Filmreihe Revolutionen aus dem Off im Zeughaus-Kino Berlin.

Von Ekkehard Knörer

1.

Eine junge Frau namens Malee kommt vom Land – es ist der Norden Thailands -– in die Großstadt, nach Bangkok. Keinen Zweifel lässt der Film an der gewaltigen Differenz zwischen beiden Welten. Das Land, das Dorf setzt er immer statisch ins Bild. Die Familie vor einem Haus, aufgestellt wie zum Gruppenfoto. Man sieht Natur und die Bilder haben die Ruhe weg. Ganz anders die Stadt: Lärm, hektische Schnitte, aufgeregte Jazz-, teils gar Free-Jazz-Musik, knallige Farben. Malee, die gleich zu Beginn von der einen in die andere Zone gerät, ist sogleich gefangen in dieser unruhigen Welt, sehr buchstäblich aufgesplittert zwischen vielfachen Spiegeln. Sie landet in einem «Hotel», das in Wahrheit ein Bordell ist. Sie wird reingelegt und zur Prostitution gezwungen, aber sie schafft sich selbst eine Gegenwelt, indem sie nebenbei Mode-Design lernt.

So einfach der Unterschied zwischen Unschuld vom Land und Sündenpfuhl Großstadt entworfen scheint, so klar ist doch von Anfang an, dass Malees Weg nicht aufs Land zurückführen wird. Sie träumt davon, aber die Szene, in der der Film mit ihr von dieser Rückkehr träumt, hat etwas ausgesprochen Unwirkliches, sogar Surreales. Die Bewohner des Dorfes lassen für einen Moment von ihrer Feldarbeit ab, als sie Malee sehen – und wenden sich dann, als witterten sie ihre Unzugehörigkeit, ohne Gruß wieder der Arbeit zu. Mit anderen Worten: Hotel Angel ist ein Film, der darum weiß, dass eine bestimmte Sorte von Unschuld nicht wiederzugewinnen ist. Er flüchtet sich weder in Nostalgie noch glaubt er daran, dass die Prozesse der Modernisierung rückgängig zu machen sind.

Er setzt, anders als die Dorfbewohner, die Großstadt – auch wenn es zunächst so scheinen mag – keineswegs mit Prostitution gleich. Malees Wege und Schicksale in Bangkok sind durchaus vielfältig. Hotel Angel wendet ein schreckliches Schicksal positiv. Er begreift die Geschichte einer verlorenen Unschuld als Subjektfindungsgeschichte. Der Film leugnet gewiss nicht die Brutalität des Milieus, die Rohheit der Männer, aber auch die Verrohung der Frauen. Er zeigt auch sehr brutal andere Möglichkeiten des Ausgangs, im Schicksal einer anderen jungen Frau etwa, die sich der Prostitution verweigert und einzig im Selbstmord einen Ausweg findet. Malee aber versteht es, sich zu behaupten. Sie wird sich keine Illusionen mehr machen und am Ende von keinem Mann mehr abhängig sein. Sie schlüpft, ganz zum Schluss, aus den bunten, doppelt kodierten Kleidern (sie verweisen auf Tradition wie auf Prostitution). Der Film entlässt sie in ihre Zukunft als modernes Subjekt in Bluse und Jeans. Und während der Film zuvor in Großaufnahmen und Zooms verliebt ist, übliche Stilmittel nicht nur im Thai-Kino der siebziger Jahre, wahrt die Kamera am Ende sehr bewusst die Distanz.

2. Chatri Cherm Yukol

Chatri Cherm Yukol, der Regisseur dieses Films, 1942 geboren, ist eine ungewöhnliche Figur. Eigentlich nämlich heißt er Prinz Chatri Cherm Yukol, denn er gehört der königlichen Familie an. Wenngleich – so ist zu lesen – erst auf Rang 18 in der Thronfolge-Linie, will das doch einiges heißen in einem Land, in dem vor jeder Filmvorführung in jedem Kino die königliche Hymne gespielt wird, zu der alle aufstehen müssen. Manche Tür steht ihm offen und auch die Zensur, mit der er dennoch gelegentlich Ärger bekam, gibt sich vermutlich liberaler. In Thailand selbst ist der Prinz als Filmemacher so ungewöhnlich nicht. Als im Jahr 1897 König Chulalongkorn nach Europa reiste, wurde er dabei von Pionieren des neuen Mediums gefilmt. Die Aufnahmen sowie die Kamera gelangten nach Thailand. Der Bruder des Königs, Prinz Sanbassatra, war fasziniert und drehte einige Filme, die heute als Beginn der thailändischen Filmgeschichte gelten.

Auch Prinz Chatri Cherm Yukols Vater war Filmemacher, einer der 35mm-Pioniere in einer Industrie, die bis in die Siebziger Jahre hinein in erster Linie eine 16-mm-Filmindustrie war. Prinz Yukol junior studierte Geologie in Los Angeles, im Nebenfach aber Film an der UCLA. Dort lernte er Francis Ford Coppola kennen, mit dem er befreundet blieb. Als Yukol im Jahr 2001 den Historienfilm Suryiothai drehte, das teuerste und erfolgreichste Werk der thailändischen Filmgeschichte, besorgte Coppola die kürzere Schnittfassung für den amerikanischen Markt. Yukol arbeitete als Assistent von Merian Cooper, der in den Dreißigern Chang in Thailand – damals noch Siam – gedreht hatte, kehrte in seine Heimat zurück, verdingte sich beim Fernsehen und begann in den Siebziger Jahren seine eigenen Filme zu machen. Sein erster Film It Comes in the Darkness von 1972 ist Thailands erster Science-Fiction-Film. Mit Song-Einlagen und einem quallenartigen Monster mit Lampe auf dem Kopf.

Soll heißen: Prinz Yukols Filme waren von Anfang an ungewöhnlich, aber nie marginal. Yukol war und ist Teil der Thai-Filmindustrie, nicht nur, was die ökonomische Seite betrifft, sondern auch in seiner Ästhetik. Er arbeitet mit Stars der Industrie - Sorapong Chatri, der Darsteller des Tone in Hotel Angel, ist bis heute einer der beliebtesten Schauspieler des Landes und war hierzulande zum Beispiel auch im Transvestitendrama Beautiful Boxer zu sehen. Allerdings wird sehr bald Sozialkritik ein wichtiges Element von Yukols Filmen, so sehr, dass sie bald als sein Markenzeichen begriffen wurde: In seinem zweiten Film Dr. Khan (1973), dem Genre nach ein Melodram, spielen die ungleiche Verteilung finanzieller Mittel zwischen Zentrum und Peripherie Thailands, im Zusammenhang damit: Korruption eine Rolle. In Citizen II (1984) schildert er den Weg eines Mannes, der nach einem Gefängnisaufenthalt in einer vorurteilsbeladenen Gesellschaft nicht mehr Fuß fassen kann. The Elephant Keeper (1987) prangert die besinnungslose Abholzung der Wälder in Thailand an. Insofern ist Hotel Angel, auch wenn er wohl zurecht als einer seiner besten gilt, ein durchaus typischer Film in Yukols Filmografie.

3. Wahl der filmischen Mittel

Es gibt in Hotel Angel eine Szene, die die Ökonomie des Films wie der Beziehung zwischen Stadt und Land sehr direkt ausspielt. Malee schläft mit Männern und schickt einen großen Teil des Geldes, das sie verdient, an ihren Vater und ihre Familie. Vom Geld, das Malee mit der Prostitution verdient, errichtet die Familie ein neues Haus. Yukol verdichtet diesen direkten ökonomischen Zusammenhang zu einer verblüffenden, geradezu an die exzessiveren Momente von Nicolas Roeg erinnernden Parallelmontage. Malee legt sich mit einem Freier zu Bett. Schnitt: Man sieht im Zeitraffer den Aufbau des Hauses. Schnitt: Ein anderer Freier richtet sich nach dem Sex mit Malee vom Bett wieder auf. Das wiederholt sich mehrfach und kulminiert in einer Montage, in der man zuerst Malee ihren BH öffnen sieht. Dann, Schnitt aufs Land, öffnet in einer ganz parallelen Bewegung Malees Vater die Eingangstür zum nun fertiggestellten neuen Haus, an dessen Wand ein großes Schwarzweißfoto von Malee als eine Art Andachtsbild aufgehängt wird.

Diese Szene ist emblematisch, weil sie Yukols Ästhetik der kurzentschlossenen und kurzgeschlossenen Verbindungen des für unsere Begriffe nicht Zusammenpassenden am virtuosesten verdichtet. Für uns, die wir vom Festival-kompatiblen Arthouse-Kino der letzten Jahrzehnte erzogen sind, geht das einfach nicht: Unmissverständliche Sozialkritik in der unsubtilen Form von Exploitation. Der Film zeigt ja nicht nur die Brutalität der Prostitution und ihres Milieus, er hat zugleich auch noch große Lust, diese Brutalität zu zeigen. Er wählt keines der uns vertrauten realistischen Register – was ohnehin schwer möglich ist in einer Filmkultur, in der das brutale, nicht auf Natürlichkeit setzende nachträgliche Dubbing der Tonspur regiert. Ich halte das, ohne jetzt näher darauf eingehen zu könne, für einen der zentralen Umschlagspunkte von Produktionsmitteln in Ästhetik: Kameras, die schallgedämpft sind und den Originalton erlauben, sind lange Zeit für die billigen Produktionen von Drittwelt-Filmindustrien zu teuer. Die Schere zwischen Bild und Ton wird so zu einem der auffälligsten Merkmale des «Third Cinema»-Kinos. (Sehr gut zu beobachten übrigens, dort allerdings als bewusster V-Effekt, in Apichatpong Weerasethakuls in Arthousekreisen stets mit beträchtlicher Irritation aufgenommener Genre-Film-Parodie The Adventure of Iron Pussy.)

Sozialkritik plus Dubbing bedeutet: Überlaut peitschen die Schläge nieder auf die Gesichter der Prostituierten. Schüsse knallen und überhaupt ist auf der Tonspur immerzu Krach oder es spielt laute Musik recht unterschiedlicher Art. Zu Subtilitäten ist Yukol auch sonst wenig geneigt. Er schneidet die Großstadtimpressionen in sehr flotten Schnittmontagen zu einem Tohuwabohu und er sucht, wo immer es möglich ist, den Pop-Appeal des Großstadt- und auch des Prostitutionsmilieus. Knallig bunt sind die Farben, mehrfach wählt Yukol – mit unterschiedlicher symbolischer Intention – Farbblenden zur Beendigung von Einstellungen und Szenen. Hotel Angel will, mit anderen Worten, Pop sein, bedient sich bei den Mitteln des thailändischen Exploitation-Kinos ebenso wie bei denen des experimentierfreudigen europäischen und amerikanischen Kino seiner Zeit. Man wird das von heute aus betrachtet nur hybrid nennen können, sollte aber nicht vergessen, dass es den Zuschauerinnen und Zuschauern seiner Zeit in mehr als einer Hinsicht als state of the art des Thai-Kinos erschienen sein muss.