spielfilm

17. Februar 2009

Der Zug ins Offene ist verstellt Das Kino der Claudia Llosa

Von Ekkehard Knörer

Madeinusa

© trigon-film

 

Synkretismus bedeutet die Vermischung von religiösen Ideen oder Philosophien zu einem neuen System oder Weltbild. Synkretismus nimmt die Aspekte unterschiedlicher Religionen bewusst auf und formt sie zu etwas Neuem.

 

Ein Dorf in der Provinz, eine Kiste auf dem Dachboden, der Dachboden selbst: Madeinusa ist ein Film der räumlichen Konzentration. Die Räume aber sind vollgemüllt mit allerlei religiös anmutendem Zeugs. Mit Ritualen und Prozessionen, mit Feuerwerk und Musik, mit Schmuck, mit extravaganten Kleidern, mit Regeln, die gelten und mit Hass und Demütigung.

Das Dorf, die Kiste, der Dachboden selbst, diese Räume, große und kleine, mit Nippes, der viel bedeutet oder wenig, dürfen nicht abgeschlossen bleiben, das ist der Imperativ dieses Films. Es ist der Imperativ von Claudia Llosas Filmen: Auf einem Zug ins Offene besteht sie. Nicht das ganze Feld der Gegenstände, der Menschen, die sie versammelt, wird ausgerichtet in Richtung des Offenen. Die Heldin aber muss am Ende ins Offene enteilen, insofern sind Madeinusa wie La teta asustada, ganz entschieden das eine: weibliche Emanzipationsgeschichten. 

Das trägt der Regisseurin im eigenen Land Vorwürfe ein: Die Provinz, das Dorf der Herkunft, denkt sie als Boden, in dem man verwurzelt ist, aber nicht nur zum Segen. So ist Madeinusa eine brutale Entwurzelungsgeschichte: der Vater wird tot sein, am Ende, die Tochter entkommt, den Fetisch aus dem Herkunftsort im Arm. In La teta asustada geht es darum, Vergangenheit abzuschütteln, eine Vergangenheit, die in einem festsitzt wie eine Kartoffel in der Vagina, die Keime treibt und dabei heftige Schmerzen bereitet. Es ist eine Kartoffel, die man aus weitergegebener Angst sich selbst zugefügt hat und aus Angst vor dem Weg ins Offene selbst nicht entfernt. Ein extravaganter Vergleich, ich weiß.

Claudia Llosa macht die Kiste auf. Dass sie alles, was in der Kiste ist, vorher selbst hinein getan hat, ist das, was man am wenigsten übersehen darf. Sie hat das Indigene vorher erfunden. Naturwüchsig ist hier nichts: die Metapher nicht, der Ritus nicht, auch das authentische Indianermädchen Magaly Solier, Protagonistin beider Filme, ist es in den Filmen nicht. Vielmehr, und das ist ein Unterschied ums Ganze, ist sie in den Kontexten der Filme markiert als das Indigene: die ausdrückliche Markierung verwandelt das Hergebrachte in ein Selbstgemachtes. Das ist immer prekär, aber den Zustand des Prekären sucht, wie es scheint, Claudia Llosa zuallererst. Es ist der Zustand, in dem das aus Selbstverständlichkeiten Festgefügte ins Kippen kommt. Llosa verfährt dabei keinesfalls je schematisch. Der Reichtum der Textur der von ihr beschworenen, aus buntem Material bricolierten Welten ist Voraussetzung für das Gären, das Auflösung hervorbringt und der Tradition Schritt für Schritt ihre Selbstverständlichkeit nimmt. Beeindruckend ist immer die Liebe und die Genauigkeit, ist die Lust am barocken Wuchern, mit der Llosa ausmalt und erfindet, was dann wie hergebrachteste Tradition aussehen kann. 

Sie bedient sich dabei gewiss bei Vorhandenem, aber das mindeste was sie tut: Sie nimmt es und schneidet es ab aus seinem Kontext (schnipp, schnapp) und fügt es in ihren eigenen Kontext hinein. Die Welt ihrer Filme ist eine wild synkretistische Welt und sehr präzise lässt sich sagen, dass Llosa als starke Autorin diese Welt zu einer neuen, vollends idiosynkratischen Schein-Geschlossenheit fügt. Sehr wohl tut sie den Herkünften der Dinge dabei Gewalt an. Sie ist selbst in ihrem filmischen Verfahren alles andere als sanft. Man kann jedoch sehr geneigt sein, das angemessen zu finden angesichts der Geschichten, die sie erzählt. Ohne Gewalt kommen sie grundsätzlich nicht aus. Die Überdeterminiertheit der Dinge gibt ihnen einen sehr scharfen Rand. Die Filme von Claudia Llosa hantieren mit Scherben, die man beim Zusehen mit großer Vorsicht in den Blick nehmen muss.

Im Umgang mit Symbol und Metapher liegt das Großartige des Llosa-Verfahrens: keine tote Ratte und keine Kartoffel bleibt ohne Ambivalenz. Man kann dabei zusehen, wie Dinge der natürlichen Welt mit Bedeutung aufgeladen werden. Aber auch hier verfährt Llosa stets anti-traditionell. Jede scheinbar hergebrachte Bedeutung von Riten und alten Geschichten ist Setzung und wird als Setzung kenntlich gemacht. Und was gesetzt ist, kann um-gesetzt werden. Darum ist das Schlussbild in La teta asustada mit der nun in natürliche Erde umgetopften Kartoffel so wichtig. Aber auch hier achte man darauf: Die Kartoffel blüht im Topf. Nur die Mutter wird in Muttererde beerdigt. Neues Leben braucht, wenn es blühen soll, Fassung. Wir sind alle Kulturpflanzen und müssen und wollen es sein. (Kann man auch biografisch wenden: Die Peruanerin Claudia Llosa studiert Film in Madrid. Mit spanischem Geld kehrt sie in ihre Heimat zurück und erzählt ihr eigene Geschichten, in denen es um das Wenden der vorgefundenen Traditionen, das Umtopfen und Wiedereintopfen geht.)

Die Heldinnen, das gilt für beide Filme, beziehen quasi-vampirische Kraft aus sado-masochistischen Konstellationen. Das der Herkunft und Tradition Fremde wird im Kontakt und im Widerstand ein Energie-Generator. Der erste Schein trügt dabei: Die Ausnutzer der Verhältnisse werden im Endeffekt selber ausgenutzt. In Madeinusa kommt ein Fremder, der Gringo, ins Dorf, ausgerechnet zur Zeit der «Heiligen Tage», in denen – es ist ein bizarrer, von Llosa liebevoll ausstaffierter Karneval – die Jungfrau (es ist Madeinusa) dem für die Fest-Zeit vom Kreuz genommenen Christus die Augen verbindet. Abseits des Ritus aber wird die Perversion, die der Karneval als Auf-Den-Kopf-Stellung der Verhältnisse darstellt, noch einmal pervertiert: Die Jungfrau hat Sex mit dem Fremden. Mit ihrer Selbst-Entjungferung aber kommt sie dem Missbrauch durch den eigenen Vater zuvor. Zentrale Figur des Dritten ist hier die Schwester, die der Vater verschmäht, die darum eifersüchtig ist auf Madeinusa, weil diese eine Form der «Liebe» des Vaters erfährt, die Chale, die Schwester, sich weiß Gott nicht wünschen kann. Und doch ist sie eifersüchtig. Am Ende aber werden sich die Schwestern über der Leiche des getöteten Vaters gegen den Fremden verbünden. Madeinusa geht über die Leichen von gleich zwei Männern, die ihre Unschuld wollten. Selbstbestimmt aber reißt - in der Zeit, in der es keine Sünde gibt – Madeinusa ihre eigene Schuld an sich und findet genau so und nicht anders aus allen Schuldzusammenhängen ihres Dorfes hinaus.

 

La teta asustada

© trigon-film

 

Ganz ähnlich in La teta asustada das Verhältnis zwischen Fausta, die vom Dorf kommt, und der berühmten Pianistin in Lima. Die Situation hat sich verändert, ist, wenn man den ersten und den zweiten Film zusammenliest, um eine Drehung weiter. Madeinusa endet mit der Fahrt seiner Heldin nach Lima. In La teta asustada geht es dann immer schon um den bereits eingerichteten Transfer zwischen Großstadt und Provinz. Allerdings ist dieser Transfer die meiste Zeit wieder prekär: das titelgebende, der Terrorismus-Geschichte individuell Fassung gebende Angst-Trauma, das seinen Ausdruck auch, aber nicht nur, in der in die Vagina gesetzten Kartoffel findet, hat als andere Folge eine Agoraphobie: Fausta braucht auf offenen Flächen Begleitung. Die Offenheit wird als Drohung empfunden. Der Zug ins Offene ist zunächst im Offenen selbst verstellt.

Das Verhältnis selbst fasst Llosa noch einmal in eine ingeniöse, in den Bildern faszinierend ausgereizte Metapher. Ein Tor, das sich öffnet, trennt das in sich abgeschlossene Anwesen der Pianistin – auch für diese selbst eine Art Grab – vom pulsierenden Leben der Straße. Wie Fausta mit Hilfe des Gärtners, der immer wieder von außen nach innen kommt, von innen nach außen gelangt, davon erzählt der Film. Dass dies aber nur durch ein gegenseitiges Ausbeutungsverhältnis zwischen zwei Frauen funktioniert, davon erzählt er auch. Die Pianistin nimmt von Fausta die «indigene» Musik und gibt ihr dafür Perlen. Als sie hat, was sie will, schmeißt sie sie raus. 

Es ist aber auch hier, als wäre es der Heldin gelungen, das Ausbeutungsverhältnis für sich selbst zu nutzen. Diesmal sogar in friedlicher Hegung: Der Gärtner der Pianistin ist, anders als der Gringo und Fremde in Madeinusa, behutsame Kraft. La teta asustada, der zunächst viel finsterer scheint, ist der weitaus optimistischere Film. Fausta hat den ersten Schritt längst getan. Sie muss darum, anders als Madeinusa, nicht über die Leichen der Männer gehen. Ich bin sehr gespannt, was für eine Geschichte Claudia Llosa in ihrem dritten Film erzählt. Die nunmehr gewonnene Freiheit kann schließlich nichts anderes sein als ein Reichtum an Problemen in einer anderen, städtischeren Kultur. 

P.S.: Wie intrikat und direkt zugleich Llosa arbeitet, sei an einem zentralen Beispiel in Madeinusa erklärt. Der für westliche Ohren sehr seltsame, für Peru offenbar nicht weiter ungewöhnliche Name des Mädchens wird nur an einer Stelle wirklich Thema. Beim Sex erhascht Madeinusa nämlich einen Blick auf den Pullover des Fremden, darauf steht «Made in USA». Sie sieht sich und ihren Namen also im Fremden gespiegelt, den sie zugleich für ihren Erlöser hält. Es ist derselbe Moment, in dem sie als Jungfrau der Heiligen Tag für einen Moment vom vorgesehenen Pfad des Rituals abweicht. Der Heiland wird blind weiter durch die Gassen des Dorfes getragen. Im Abseits, im Dunkeln der Sex zwischen Jungfrau und Fremdem, Madeinusa und Made in USA. Erschwerend hinzu kommt der «wahre» Name des Fremden. Der nämlich lautet Salvador, also Erlöser, Messias. Er ersetzt also den geblendeten, gerade ermordeten, bis zur Wiederauferstehung vom Kreuz genommenen Christus. Dieser Ersatz ist, das mindeste zu sagen, nicht unproblematisch. Das ist von Llosa alles andere als einsinnig ineinandergeschrieben. Am Tag der Wiederauferstehung des Herrn wird sie nämlich beide Erlöser, den wahren und den falschen (und welcher ist welcher?) einfach zurücklassen. Sie ist keine Jungfrau mehr. Sie verlässt das Dorf. Sie beginnt ein neues Leben in Lima.