spielfilm

2. Dezember 2010

Godardretrospektive Meine private

Von Ekkehard Knörer

Vor ein paar Wochen habe ich dann doch noch angefangen, Richard Brodys Godard-Biografie Everything is Cinema zu lesen. Sie ist umfangreich, sie hat nicht den besten Ruf, aber einen besseren hat die von Colin McCabe, die ich nicht kenne, auch nicht. Freundlich geschrieben wurde ebenso über Antoine de Baecques in diesem Jahr in Frankreich publizierte Biografie keineswegs. Es ergab sich, dass meine Brody-Lektüre an zwei ähnlich gelagerte Lektüren anschloss: Claude Lanzmanns Autobiografie Der patagonische Hase, die mich, obwohl sie außerordentlich lesenswert ist, doch an die Grenzen meiner Geduld genervt hat durch das nicht nur Eitle (egal, Raddatz fand ich auch faszinierend), sondern das Staatsmännische dieses Rückblicks eines bedeutenden Manns auf sich selbst und die Zeitläufte, in denen er lebte und (es) trieb. Eigentlich las ich nur die Kapitel zu Nordkorea und zur Entstehung von Shoah im emphatischen Sinn des Worts gern – da geht das Lebendige der Erinnerung wenigstens ein bisschen mit ihm durch und die Autobiografie wird etwas anderes als Verwaltung des Ruhms.
 
Danach las ich die große Derrida-Biografie von Benoît Peeters, schlug mich durchs Französische mit großer und wachsender Lust. Das Schöne daran ist die Souveränität und Unangestrengtheit, die nun das letzte wären, was man bei einem solch ehrgeizigen Projekt als Ergebnis vermutet hätte. Der Autor, der bei Barthes studiert hat, ist auf der Höhe von Derridas Werk, will auf neue oder überhaupt originelle Deutungen dabei überhaupt nicht hinaus, stellt nur das Leben und das Werk hinein in die Zeit, lässt Derrida und Freunde und Zeuginnen und Zeugen zu Wort kommen, scheut das Anekdotische nicht und führt vor, dass das tatsächlich geht: die nicht-dekonstruktive Biografie des Philosophen der Dekonstruktion. (P.S.: In dem die Biografie begleitenden Tagebuch Trois ans avec Derrida schreibt Peeters, gleich zu Beginn, dass ihn auch andere Personen als Biografie-Gegenstände gereizt hätten: «Godard me passionerait si son hostilité n'était à ce point prévisible.»)

Natürlich konnte Richard Brody, der in der zweiten Reihe des in Sachen Filmkritik auch in der ersten nicht gerade großartig besetzten New Yorker schreibt, da nur verlieren. Das Buch ist aber schlimmer als nur relativ schlecht. Es ist uninspiriert und pedestrisch. Brody notiert brav, geht Schritt für Schritt mit Godard mit, das allerdings aus oft irritierend eng amerikanischer Perspektive. Was da an Unwissen vorausgesetzt ist, macht wichtige Teile nicht nur der französischen Filmegeschichte aus. (Muss ich mir in einer Godard-Biografie wirklich erklären lassen, wer Luc Moullet ist?)

Was Brody über die Filme zu sagen hat, ist nicht im strikten Sinn dumm. Nur so besonders erhellend, intelligent oder gar brillant ist es nicht. Solide, beflissen, könnte man in den besseren Fällen sagen, aber, mein Gott: ein solides Buch über Godard! Das geht nun gerade wirklich nicht. Abgesehen davon, dass es aus ein paar Gründen auch grundsätzlicher nervt. So betont Brody zu den Filmen der Sechziger Jahre stets aufs Neue, wie ratlos Godard immer wieder war, wie unsicher Film für Film. Auf die Idee, dass gerade diese Unsicherheit zur Brillanz der Filme geführt hat, kommt Brody nicht. Überhaupt stenografiert er Gemütsverstimmungen Godards sozusagen brav mit, wie aber das Irrlichernde von Godards Interessen, Denken, Arbeitsmethoden zu so revolutionärem, aufregendem, genuin neuem Kino führen konnte: dazu eher nichts.

Außerdem ist Brody von Godards Besessenheit von Anna Karina selbst derart besessen, dass er einen nach dem anderen der Sechziger-Jahre-Filme mit heiligem Ernst als «in Wahrheit» Godards Darstellung der Beziehung der beiden begreift. Es mag sein, ist aber doch eher ziemlich egal, dass Godard da selbst obsessiv war. Nur hat, wer die Filme als in erster Linie Beziehungstherapie begreift, doch eher wenig verstanden. Bis weit jenseits der Grenzen der Selbstparodie tappt Brody in diese nun wirklich geradezu peinlich generische Biografen-Falle. Leider geht das mit Anne Wiazemsky und Anne-Marie Miéville (und, da wird es besonders seltsam, deren Tochter) und Bérangère Allaux fast bis zum Ende so weiter. Weiteres kommt dazu: Mit den Siebziger-Jahre-Filmen kann und will Brody wenig anfangen, er weiß es politisch und ästhetisch auf total uninteressante Weise immerzu besser als Godard und wenn man das so liest, müsste man so ziemlich alle Filme zwischen Weekend und Sauve quit peut (la vie) für recht langweilig halten.

Dass sie das trotz aller Längen und Härten nicht sind, habe ich mit eigenen Augen gesehen. Früh nämlich war mir klar, dass ich mir diese Biografie versüßen muss, um sie durchzuhalten. Also beschloss ich, all jene Godard-Filme, die ich noch nicht kannte (oder ewig nicht gesehen hatte und darum so gut wie nicht erinnerte), begleitend zu sehen. Meine private Godardretrospektive, komplett übrigens gespeist aus Heimkino-Bordmitteln (with a lot of help from anonymous internet friends). Also: keine Kinoretrospektive, sondern teils DVD-gute, teils ganz schön runtergekommene Versionen, allerdings auch der nie sonderlich hoch drauf gewesenen Video- und Fernsehproduktionen der Siebziger. Ganz bis in die Gegenwart gekommen bin ich bis zu Godards 80. Geburtstag, auf den das alles dann so zufällig wie zwangsläufig zulief, knapp leider nicht. Ausgelassen habe ich die kürzeren Filme, eine kleine Lücke gibt es zwischen Prénom Carmen und Nouvelle Vague.

Ich habe meine private Retrospektive mit kurzen Texten begleitet, die auch eher privat als öffentlich sind – oder jedenfalls auf allzu Explikatives verzichten. Notate, Mitschriften, teils während der Filme, teils kurz hinterher, jedenfalls stets zwischen dem einen Film und dem nächsten geschrieben. Manches versteht sicher nur, wer seinerseits den Film sieht, aber das, denke ich, macht nichts. Der Ton und Inhalt der Texte sind sicher von der Laune des jeweiligen Films wie meiner eigenen nicht unbeeinflusst geblieben. Wie aber Jean-Luc Godard als verrückter Onkel Jeannot in Prénom Carmen zweimal an ziemlich unpassender Stelle so hinreißend sagt: Tant mieux!

 

Allemagne 90 Neuf Zero

Begegnung mit einem fernen Land. Am Straßenrand ein Mercedes mit Kennzeichen M-RX. Auf den Straßen die Trabis. Lemmie Caution stapft durch Räume und Landschaften, mit denen ihn sichtlich wenig verbindet und zwischendrin geht er aufs Eis. Hanns Zischler liest deutschen Idealismus auf Deutsch und telefoniert auf Französisch. (Zischler erinnert sich später: «Minutiös zeichnete Godard in briefmarkengroßen Bildern Einstellung für Einstellung in sein Schulheft und strich sie durch, sobald das Bild im Kasten war - wie der Geist in der Flasche.») Im Schlamm das Karl-Marx-Straßen-Schild und daneben die weggeworfenen Blumen. Spionagegeschichte, die aus dem Nirgendwo kommt und ins Nirgendwo läuft. Don Quijote sitzt auf dem Pferd und reitet zum Schaufelradbagger. Godard hat einen Godardfilm über Deutschland gemacht und nun bewegen sich schwankende Gestalten durch einen godarddeutschen Osten. Verrätseltes, mit Goethe und Thomas Mann und was das Zitatkästlein sonst noch hergab. Die Hand auf der Schulter von Eddie Constantine, die zerteilte Postkarte mit dem Gemälde von Tamara Lempicka auf einer Ausgabe von «Max und Moritz». Bei Godard kommt eh nie zusammen, was zusammengehört. Montage ist Zwang und eben darum steht der Sinn, der sich ergibt, vorher niemals ganz fest. Auch Film- und Terrorgeschichte west an in körnigsten Bildern, verlangsamt, mit Musik konfrontiert, Leichen in Nebel und Nacht, Murnaus letzter Mann steht im Hotel Atlantic an der Drehtür, bis heute, Deutschland im Jahre Neu (0). Was bleibt, ist der Wind, ist die Bibel, ist Eddie Constantine auf dem Hotelzimmerbett: «Ah, les salauds.»

 

Nouvelle Vague

Es gab schon viel und mehrfach Grund, die Seitwärtskamerafahrten in den Filmen Godards zu bewundern. Aber hier nun endgültig des bewegt Lateralen endgültiger “Triumf! Triumf! Triumf! Wir steigen aus! Triumf! Gottlob! Triumf!” (Quirinus Kuhlmann). Recht früh im Film geht es im Haus von merkwürdig verrenkter Paarkonstellation ins Foyer und zurück und übers Zurück per Schnitt (eine Lateralfahrt, die tatsächlich trotz Schnitt weiterfährt) ins Wasser. Dieses, sowieso immerdar in Ton und Bild nah, plätschert auch unter der Kamera Gleiten an der Hauswand entlang, später dann. Im Dunkeln, Licht ist aus einzelnen starken Quellen in Räumen. Etwas Schöneres als die Rückfahrt hinter der Bediensteten her, die Quelle für Quelle die Lichter dann ausmacht zur Nacht, habe ich selten gesehen.

Alain Delon taucht in dieser unheimlichen Einstellung auf (Er), neben Domiziana Giordano (Sie), aber so dezentriert wie in diesem Film erlebt man einen Star selten: Godard macht, wie sonst nur im Theater Richard Foreman, alle Elemente zu gleichberechtigten Spielern. Foreman allerdings als Primitivist, Godard als Verwirbler von ausgestellten Hochkultur-Strata (mit allerdings Populärkultureinsprengseln, z.B. Gerard de Villiers). Da sind die lateinische Zitate von Lukrez bis zu Christus, römisch antik bis also christlich, serifenlos, weiß auf schwarz, grabinschriftartig eher als einst das handschriftliche Gekritzel und das blauweißrote Geletter. Und da sind die selten ausgewiesenen, schroff gegeneinander geschichteten Fetzen aus Texten von Lacan bis Schiller. Und zentral Dante: Mitten im Leben, der Wald, Godard, ein Mann von sechzig Jahren. Im Wortraum als sprechende Namen teils mancher Figur unterwegs Joseph Mankiewicz und Dorothy Parker. Godard braucht als Zitatkomponist und Zitatkomposteur keine eigenen Worte mehr – also zitiert er nicht, also ist nichts eigen, es ist alles in einem Zwischenreich, das alles schier neu macht. Musik fährt hoch und dazwischen, bricht ab, ECM, Schönberg, Hindemith, der versehentlich Totschuss Anton Weberns durch einen Soldier in Mittersill wird, versteht sich, den USA zur Last gelegt wie überhaupt der Totschlag am Kino, der in Übernahmeverhandlungen von Warner immerzu mit im Spiel ist. Auch um Drinnen und Draußen und darum, wie nah Männer und Frauen einander sein können und wie fern sie einander bleiben müssen, geht es. Alain Delon ersteht, dynamisiert, als Ertrunkener oder als Bruder des Ertrunkenen wieder auf und nimmt den Film dann doch fast in die Hand. Die Erinnerung als das einzige Paradies, aus dem uns keiner vertreibt. Und leitmotivisch eine tote Biene, so ganz verschmäht auch der späte Pathetiker Jean-Luc Godard nicht den (auch) komischen Effekt. Und was er für Töne hat! Und für Fahrten hinauf in den Baum! Und der Chor ist diesmal der Gärtner! «Manchmal habe ich das Gefühlt, etwas stimmt nicht mit einer Szene — und vielleicht wird eine andere Tonspur das Problem lösen. Dann ersetze ich etwa ein Stück Dialog durch das Bellen von Hunden. Oder mit einer Sonate. Ich experimentiere, bis ich damit glücklich bin.» In Wellen und neuen Wellen rollt das Wasser heran. In dunkelsten Himmel mit hellen Stellen geht dann auch der Blick. Die Elemente als Elemente: Durch Montage von Bild und Klang, Dingen mit Sinn und solchen, die nicht einfach etwas bedeuten, enthebt der Film alles dem Zwang zur Eindeutigkeit. Ein Gesang der wiederkehrenden, der verhallenden Dinge. Neue Welle, zuhause beim ganz Alten. CONSUMMATUM EST.

 

Prénom: Carmen

Onkel Jeannot in der Klapse: Godard spielt Godard, der wie (lang ist es her) David Goodis an der Schreibmaschine sitzt. Er schreibt komisches Zeug, ist ein komischer Onkel, den seine Nichte Maruschka Detmers besucht, weil sie im Haus am Meer, das ihm gehört, einen Film drehen will. Die Dinge entwickeln sich dann Hals über Kopf anders. Ein Banküberfall, eine Liebesgeschichte, Schüsse und Küsse, Hiebe und Liebe geraten dazwischen. Sehr sogar. Es geht ans Meer mit dem Wachmann und Liebe passiert zwischen und in Dialogen. Der Film hat Sex mit dem Rauschen des Meeres, mit dem Gischten des Lichts im Stockdunklen, mit der Silhouette von Carmendazwischen die Hochbahn. Der Film hat Sex mit Beethovens Streichquartett, löst sich minutenlang fast ganz auf, das Rauschen, das Streichen, die Liebe: am Meer, in den Minuten achtundreißig bis zweiundvierzig kommt, handgestoppt, die Filmgeschichte zu einem himmelmeerbeethovenelementarkinematografischen Höhepunkt. Da ist ungefähr Halbzeit im Film. Ein Zitat fällt, wie ein Schuss: «Die Polizei ist für die Gesellschaft, was fürs Individuum der Traum ist.» Eine geträumte Verhaftung, ein geträumter Prozess, ein Aufschrei gegen Big Business, Onkel Jeannot (Godard spielt Godard spielt verrückt) rechnet und plant seinen Film, für dessen Finanzierung doch eigentlich noch ein Funktionär entführt werden soll. Ankleiden Auskleiden gelb sind die Bademäntel aber nicht wie in den Bildern van Goghs. Die Kamera schießt an der Decke Aufnahmen von Lüstern, darauf wieder Revolver und Schüsse und Schläge und Küsse, ein hysterisches Treiben wie in einem Film der Marx Brothers, hier aber auf der verzweifelten Suche nach der Pointe. Kommt dazu eine onanistische Vergewaltigung in der Dusche, Tom Waits singt plötzlich und hört nicht mehr auf. Godard macht, ein Hamlet schon auf dem Weg zu seinem King Lear, Scherze mit Mao («ein großer Koch»), sagt «umso besser» auf schön irre Weise und kämmt sich über den Schädel, als wär es der Yoricks. Grandios ist der Wahnwitz, hinreißend schön vor allem das Mittelstück. «In memoriam small movies.»

 

Passion

Wieder der Himmel, die Kamera schwenkt wie blöde (suchend, findend, suchend), ein Flugzeug zieht einen beigeweißen Strich ins Blaue. Dann Isabelle Huppert, kaum wiederzuerkennen mit Jungsfrisur, an der Maschine in der Fabrik. Und, scharfer Kontrast, die als lebende Bilder nachgestellten Gemälde. Mit der Nachtwache fängt es an, Godard jedoch hat anderes als viel später dann Peter Greenaway im Sinn. Nicht die Kunstgeschichte, sondern reflexive Kinoverhältnisse. So ist das, beides, die Fabrik, das tableau vivant, Film im Film namens Passion. Ein Regisseur namens Jerzy ist zugange, es spielt ihn ein Schauspieler, der auch Jerzy heißt (Jerzy Radziwilowicz), wie überhaupt alle hier im Film dieselben Vornamen wie im richtigen Leben tragen: Isabelle, Hanna (Schygulla, die man sich auch nach Ansicht von Passion nicht als Godard-Schauspielerin vorstellen kann), Jean-Francois (Stévenin, der Beleuchter), Michel (Piccoli), der Besitzer der Fabrik. Michel hustet, die ganze Zeit, so wie Isabelle stottert. Nichts rundet sich. In die Schönheit der lebenden Bilder fährt Godard immer wieder hinein. Die Furie der Unterbrechung, der Regisseur Jerzy als Wüterich, nichts läuft, wie es soll, nackte Frauen werden durchs Bild gescheucht, die schönste von ihnen ist taubstumm. Autos stoßen an Autos, Gesprächsrunden sind in Ton und Bild asynchron: das Hemmnis, die Unterbrechung bestimmen einen Film, der sich immerzu selber durchkreuzt, der sich um verfehlte Anschlüsse weniger dreht, als er einen verfehlten Anschluss um den Anderen produziert.

 

Sauve qui peut (la vie)

Erst einmal Himmel (mit regulären Daten des Vorspanns). Rückkehr zum Spielfilm – oder etwas in der Art – über das Landschaftsbild. Godard hebt den Blick und schreibt neue Werke ans Firmament. Bis zum Schnitt zurück auf die Erde dauert es ein Weilchen. Dutronc/Paul Godard telefoniert zu Opernmusik. Beginn der neuen Zeitrechnung: minus eins (Sauve qui peut), null (la vie). Auf dem Rad Nathalie Baye: Verlangsamung ist Dekomposition. Also ist Sauve qui peut (la vie), englischer Titel: Slow Motion, eine Geschichte en train de se décomposer. Zugleich komponiert sie sich doch. Mann Frau Ex deren Tochter. Radler und Fußball. Lateralfahrt an Kühen vorbei, denen im nächsten Bild eine Bauersfrau den nackten Hintern entgegenstreckt. Ein Romanprojekt, Camille, MAZ ab, vor den Spulen und Bändern des Magnetbandgeräts. (Spuren von Godardfilmbilder: das Materielle des Mediums bleibt diesseits oder jenseits des Himmels erst mal präsent.) Immer nur im Zimmer nebenan ist Marguerite Duras. Sie spricht auf der Tonspur, sie ist präsent in Zitaten, an der Tafel steht nach der Vorführung seines Films Paul Godard und hinter ihm liest man beziehungsreich «Kain und Abel» sowie «Video und TV». Isabelle Huppert wird dann tätig und bekommt es zu tun mit der Unabhängigkeitslitanei: Niemand ist unabhängig, die Hure nicht, nicht das Schulmädchen, und auch der Tennisspieler ist es nicht. Nur die Banken, die sind es. Aber die sind auch Mörder. Panzer rollen vorbei an anderer Stelle. Ein Formel-1-Wagen steht auf dem Bahnhofsvorplatz. Ein Herr im Auto versohlt Isabelle Huppert den Arsch. Später eine Räuberpistole am Essenstisch zu den erstaunlich weichen Zügen Hupperts. Auch die läuft hinaus auf sehr grafische Einzelheiten zu den harten Fakten der Prostitution. Der blanke Hintern blickt nun einer Sex käuflich erwerbenden Manns-Person namens Person, der dabei mit seiner Frau telefoniert, ins Gesicht. Isabelle, die den Namen Isabelle trägt, hat in der Imagination Sex mit der Mutter. Und sonst? «Was wollen Sie, dass ich tue?» Pornografisches Verlangen en détail mit Bild-und-Ton-Synchronisation. Zuletzt der Tod und kein Himmel, der aber voller Geigen.

 

Comment ca va

Der Beginn, eine Autofahrt, Gespräche auf Vordersitzen – sieht fast aus wie ein Spielfilm. Ein Sohn an der Werkbank, ein Vater bei der kommunistischen Zeitung. So sieht die erste Ebene des Films aus, weiter tut sich da allerdings wenig. Der Spielfilm wird stillgestellt, auf der Stelle. Man sieht den Mann und die Frau, diesen Mann, diese Frau, weitere Male, in häuslichen Szenen, Orangensaft auf dem Tisch, und auch im Freien. Daran ist dann aber die Schrift an der Wand (Hakenkreuz, Graffiti gegen Faschismus) interessanter als das, was die beiden, die im Auto zur gemeinsamen Nacht unterwegs waren, verbindet. Ins Zentrum rücken der Vater und eine Frau namens Odette, deren Gesicht man kein einziges mal sieht (mal von hinten gezeigt, mal in tiefem Schatten mit Lichtauriole ums Haupt) – das ist Anne-Marie Miéville. Godards Stimme ist, man hatte sich so dran gewöhnt, nicht zu hören. Es wird eifrig vor Bildschirmen reflektiert, auf Linien, die bereits durch die Werke der jüngeren Vergangenheit führten. Um ein Foto aus Portugal geht es, das mit einem Foto aus Frankreich in Beziehung gesetzt wird. Protestfoto, erhobene Faust, kaleidoskopisches Überlagerungsgewitter in der Montage, das gab es bisher noch nicht. Wie eine kommunistische Zeitung mit diesem Bild umgehen sollte: Umgangsformen mit Bildern. Diskutiert wird, hin und her. Auf einen klaren Punkt kommt es nicht. Der Hände Arbeit: Frau tippt im Bild. Schreibmaschine, kopflos. Das, was man nicht sieht, führt Regie, soll  heißen: die Strukturen und Zusammenhänge der Dinge liegen nicht offen zu Tage. Das wird wohl so sein.

 

France/tour/detour/deux/enfants

12 (5) x3 Teile. Der Vorspann, der Junge (Arnaud) am Ton, das Mädchen (Camille) an der Kamera. Man sieht nicht, hört nur: den Mann (Jean-Luc) und man sieht nicht und hört nicht die Frau (Anne-Marie). Jean-Luc, der insistiert und insistiert, Fragen stellt, die beim ersten Hinhören philosophisch klingen, im Grund aber ganz schöner Quatsch sind. Das ist immer Teil zwei. In Teil eins ist der Rahmen anders, enger und weiter. Verlangsamung ist Dekomposition: Brutal der Blick gleich zu Beginn auf Camille, die sich auszieht. Auch geht es um Monster, den Staat, das Monster, das Staat heißt. Und Teil drei, die Kommentatorin, der Kommentator des ganzen, die beiden im durch immer dieselben Worte eingeleiteten Gespräch. Seine Geschichte, ihre Geschichte, eine Frage immer auch der Geschlechter. Am Ende des vierten Kapitels feiert auch Godards geliebter machin/machine-Pun einen nicht sehr fröhlichen Urstand. Die Frauen am Tresen sagen: Arbeit. Sie sagen: Industrie. In der Wiederholung verlangsamt. Musikaufladung: pathétique. In Teil fünf dann die nackte Frau als Verkörperung eines feministischen Diskurses über die Verachtung der Arbeit der Frau durch den Mann. Sekretärinnendenke. Im zweiten Teil stets der hoch problematische Close-Up: auf Camille, auf Arnaud. Die Kinder werden im Alltag gestellt. Werden hingestellt in einen Kameraalltag. Zuhause, zur Schule, auf der Straße.  Arnaud nimmt es hin, er hält Distanz, es kümmert ihn wenig, was Godard (als Robert Linard – Fiktion einer Fiktion) da so fragt. Camille dagegen nimmt ihn ernst und begehrt, indem sie sich zurückzieht, indem sie zumacht, gegen den inquisitorischen Ton auf. Er fragt immer so, dass sie, die sehr intelligent ist, den Eindruck gewinnen muss, dass er sie für blöd hält. Die Kamera hält aber weiter drauf. Godard fragt im selben Ton denselben Quatsch weiter. Die schmallippige Camille, die nicht weiß wohin mit dem Unmut. Die sich windet und standhält. Ein ungleicher Kampf, der nirgendwo hinführt. Die Theorie verselbständigt sich in Teil eins und Teil drei meist auf uninteressante Weise. Die Praxis aber, in der die Kamera und das Fernsehen in den Händen Jean-Luc Godards dem Mädchen Camille ein Leids tun, spricht allem, was an emanzipatorischen Diskursen diese Serie vor sich hinproduziert, Hohn.

 

Ici et ailleurs

Der Ton ist ein anderer, sanfter. Der Film ist ein Nachruf. Auf ein Projekt, zu dem Godard im Jahr 1970 nach Palästina aufbrach als bezahlter Dokumentarist des Widerstands gegen jenes Israel, das Godars Ansicht nach, wir erinnern uns, in historischer Pervertierung nun die Rolle der Nazis gegenüber den Juden an sich gerissen hat. In einer Passage wird von den Lagerinsassen geraunt, die den Namen der Muselmanen erhielten. Absurde translatio-Konstruktion, typisch für Godard: wortspielgestützt. (Bernard-Henri Lévy wird später, als es um ein Dreierprojekt mit Godard und Claude Lanzmann zum Thema Holocaust und Holocaust-Bildverbot geht, sagen: Jean-Luc Godard wird von antisemitischen Anfällen heimgesucht und wolle sich mit Ideen wie der zu dem Dreierfilm dagegen selbst imprägnieren.) Und doch dieser sanfte Ton in Godards Voiceover. Der Film ist nicht nur der Nachruf auf ein anders nun nachlebendes unvollendetes Projekt, sondern eben zugleich ein Nachruf auf die doktrinärste Werkphase, die der Regisseur nun hinter sich lässt. (Ein Abschied, die Sanftheit eines Neuanfangs mit Anne-Marie Miéville.) Godard meditiert, und die Nachdenklichkeit scheint nun nicht mehr serialisiertes rhetorisches Fragen vor Gewissheitshintergrund, über die Zusammenhänge von Bild und Ton, verdoppelt und verdreifacht diese Opposition zu «Ici» und «Ailleurs» und «Politik der Palästinenser» und «Das Privatpolitische einer Familie in Frankreich». Dazu Hitler und der Holocaust und Golda Meir und Henry Kissinger. Godard erteilt sich die Lizenz, das alles zusammenzubringen in, das muss man zugestehen, nie ganz eindeutiger Weise. Er plädiert für das Sprengen der Bildtonketten und also verkettet er neu. Mit Diashow, Bild im Bild, Bild neben Bild, Ton zum Bild, Schrift zum Bild: Auschwitz, Majdanek, Treblinka. Es ist heikler denn je und so wenig starr wie schon lange nicht mehr. Eine Elegie, daher der Ton: Fast alle der Palästinenser, die man im Bild beratschlagen sieht, leben nicht mehr. Sie kamen ums Leben im Kampf, zu dessen Unterstützung der Film und Godard, der in den zwischen Reise und Film ein anderer wurde, endgültig in ein reflexives Verhältnis getreten sind.

 

Six Fois Deux (Folgen 2A und 2B)

Der Tisch, der Close-Up, die Zigaretten, die Zigaretten, (Gitanes), die Tasse, die Tasse: Kaffee, Zigaretten, deux fois deux. Aber nur ein Bild auf einmal. Zu beiden Seiten des Bildes die Sprecher: Ein Dialog. Hände noch, Stimmen (eine unverkennbar die Stimme Godards), Gesichter nicht. Die Dinge sind nicht, was sie sind. Der Fisch, der sich in den Schwanz beißt, ist niemand anderes als der Kapitalismus, der sich, sich verändernd, gleich bleiben muss. Die Glühbirne ist ein Traum, das Baby ein Kriegsgefangener. Da wird der Kieselstein in der Pfanne verrückt. «So sprechen die Leute sonst nicht.» «Nein. Mal was anderes.» «Aber was ist dieses andere.» Veränderung, CHANGEMENT, darum geht es in dieser ersten Hälfte des zweiten Teils von 6 FOIS 2 EMISSION TELEVISION CINEMA, Lecons de choses, Lehre von Dingen, im Paris-Exil namens Grenoble.

Jetzt, Teil 2, Godard im blauen T-Shirt (JEAN-LUC JEAN-LUC). Was Brecht nicht hatte, waren die Bilder, die er darum in Wortform zu finden versuchte. Wie man Bilder und Worte montiert. Die Tageszeitung und das Tägliche als Problem. Die Bedeutung der Form. En cadre. Fernsehen als tägliches Kino. Öffentliche Rede und private. Das Wort, das alle Welt kennt, auf der Welt, hat die Unesco statistisch erhoben, ist nicht Hungersnot, ist nicht Geld: Es ist, sagt Godard, Kamera. Genehmigungen, die man braucht, um Menschen bei der Arbeit zu filmen. Topoi der Medienkritik. Je mehr wir wissen, desto weniger wissen wir. Der wahre Verbrecher ist der Journalist, der Informationen nicht weitergibt. Lektion: Es gibt Dinge, die mir besser gefallen als kaum gegenfragengestützte Monologe von Jean-Luc Godard.

 

Numéro Deux

Porno oder Politik? Fragt Anne-Marie Miéville, die man im Bild, so weit ich erkennen kann, niemals sieht. Dafür Jeannot Godard, der sich und seine Bilder und seine Töne zum neuen Dispositiv aufstellt. Ein Projektor, eine Kamera, ein Bildschirm: Screen-Vervielfachung. Er ist der Boss. Er redet und redet. Wortspiele mit machin und machine. Gedanken zu Wortspielen. Sätze über Bosse und Arbeiter und die Fabrik. Godard, der raucht und redet. Umdispositionen des Dispotivis: Zwei Bildschirme, an die Ränder gedrückt. Oder ein Bildschirm im Zentrum. Wörter kommen noch immer dazwischen, aber auch die nun tipptipptipp auf dem Screen. Ach, die Godard-Lettern sind weg. Dafür lassen sich die Videobuchstaben einer nach dem anderen umdrehen. So schlecht ist das nicht. Aber zurück zur entscheidenden rhetorischen Frage: Porno oder Politik? LE TRAVAIL LA MERDE. Die Politik jedenfalls des Privaten. Zerlegung des Innenraums, der Familie heißt, durch Entblößung. Mama und Papa erklären dem Sohn und der Tochter, was Sex ist. Ein Loch und ein Mund, die sich küssen. Später sitzt auch der Großvater, nachdem er von Dachau erzählt hat, untenrum nackt am Tisch und zieht ausgerechnet seinen Schwanz ausgerechnet dem Kino vor. Auch die Waschmaschine gehört ins neue, ins Godard-Miéville-Dispositiv. Es gibt sehr intime, sehr direkte, sehr sachlich zupackende Worte und Bilder. «Ich mag es, wenn sie mir einen Finger in den Arsch steckt.» Überblendungen, näher am Datamoshing als an der Doppelbelichtung. Weniger wie Kino hat, was Godard macht, bislang nicht angemutet als das. Etwas Neues. Porno und Politik. Eine Nacktheit des Videobilds, die die Vielfalt der Screens nicht als Schutz- oder Vorwand begreift. Wäre es zu einfach zu sagen: Die Nacktheit kommt von Miéville, die Screens sind die von Godard? Und wenn schon. Das Neue geschieht, wo das eine auf das andere trifft, ohne dass das eine das andere instrumentalisiert. Die Ehefrau auf dem Hintergrundscreen lehnt sich auf gegen den Mann/gegen Godard, der im nunmehr erleuchteten neuen Dispositiv schläft. Und erwacht. Und schweigt. Und zuhört: «Ich», sagt sie, «erfinde die Grammatik. Ich finde die Worte.» Kurz darauf: Musik. Licht aus. Ende.

 

Letter to Jane: An Investigation About a Still

Jean-Luc Godard und Jean-Pierre Gorin besitzen die Höflichkeit, ihren Bild-und-Text-Brief an Jane Fonda in englischer Sprache zu verfassen. Sie lesen ein Bild, Fonda in Vietnam, kritisieren es, kritisieren die Hauptdarstellerin, aber höflich, in englischer Sprache, in der dritten Person (Dear Jane, wir sprechen zu Dir in der dritten Person). Es reicht nicht, finden die beiden, dass Fonda als US-Amerikanerin, als militante Gegnerin des Kriegs in Vietnam, sich im Gespräch mit den Vietnamesen fotografieren lässt. Das Bild geht, wie sie es wünscht, um die Welt. Es genügt ihren Ansprüchen nicht, sagen Godard und Gorin, den Ansprüchen der Revolution. Sie lesen es nach allen, teils sehr eigenen Regeln der bildanalytischen Kunst. Der Aufnahmewinkel ist verdächtig. Die Tatsache, dass Fonda im Vordergrund steht, belässt die Gewichtung der Weltaufmerksamkeit, wo sie ist. Nur im Hintergrund ein einziger Vietnamese erkennbar. Und Fonda schweigt. Sie hört zu, sagt nichts, spricht also nicht mit dem Feind der eigenen Nation, mit dem sie sich ostentativ solidarisiert. Godard & Gorin zeigen viel Scharfsinn, ihr französisch akzentuierter Text hält die Balance zwischen Indoktrination und Inkantatorik. Vom direkten Umweg sprechen sie, der über Vietnam zum Film Tout Va Bien und zurück nach Vietnam führt. Zwischen hier und da setzen sie ihr Denken in eine Bewegung und das Bild und die Bilder dazu ins Verhältnis. Es ist Godard und Gorins letzter gemeinsamer Film. La bande à part, la groupe Dziga Vertov: disbanding, regrouping, mit freundlichen Grüßen, erste, zweite, dritte Person. Jane Fondas Antwort auf diesen Film: Sie schweigt, wie im Bild, das der Film auseinandernimmt.

 

Tout va bien

Ein Ende, ein Anfang. Geschriebene Schecks, gekaufte Stars (USA-Frankreich), haben wir sie geliebt, unsere Revolution? Yves Montand ist ein Regisseur in der Krise. Jane Fonda ist eine Journalistin, auch in der Krise. Krisenfilm, Filmkrise: Tout va bien. Eine Geiselnahme, ein bühnennahes Haus mit offener Wand. Zum Kameradranvorbeigleiten ist das. Zum Ausdemfensterpissen ist das. Apropos: Lateralfahrt Supermarkt, Kassen im Vordergrund. Keine Autos, kein Blut, nur das Klappern der Kassen, die Stapel von Waren, das Schieben der Wagen der Kunden, Jane Fonda am Kassenband der Supermarktwarenwelt, in der die Kommunistische Partei am Phrasen-Sonderstand für sich wirbt. (Lateralfahrt zurück. ) Fleisch und Wurst (vorher, in der Fabrik): gepresst und gehackt, der Mensch als taylorisiertes Schwein, vom Aufpasser unter Druck gesetzt. Arbeiterbewegung (vorher, im wandlosen Haus) als Tableaux Vivants, Herren mit blutigen Schürzen, auch die Damen kennen mit dem Chef kein Pardon. Das Politische kommt zu Besuch beim Privaten und Jane Fonda macht beziehungstechnisch an zehn Fingern Tabula Rasa. Filmemacherbedenken (vorher, im Studio, Frauen tanzen sehr bunt auf dem Tisch für einen Musikwerbefilm): Sehr eng geführt ist, was Yves Montand sagt, an der Biografie von Jean-Luc Godard. Lang ist sie her, die Nouvelle Vague, sagt Montand, sagt Godard, lieber einen ehrlichen Werbefilm als noch eine Verfilmung eines David-Goodis-Romans. David Goodis, der in Made in U.S.A. im Pyjama am Tisch saß und schrieb, jetzt als abschreckendes Beispiel zu Besuch bei Groupe Dziga Vertov. Journalistinblockade (vorher, in der Redaktion, sie zerreißt einen Brief in der Luft): Was zu sagen wäre über die Revolution – 1968 FRANCE 1972 -, kann sie nicht mehr sagen. Godard und Gorin machen, mit dem Tod eines Studenten, mit prügelnder Polizei und dergleichen, noch einmal weiter. Nicht Resignation, aber Veränderung liegt in der Luft. Zuletzt schweigen die Kassen im Hypermarché, aufgeregt fährt die Kamera hin und her auf den Schienen, die Polizei verprügelt revoltierende Konsumenten. Die Liebesgeschichte macht den Sack zu. Frankreich. 1972: «C’était un conte pour ceux qui n’en tiennent aucun.» Und jetzt: Chanson.

 

1 PM

Indianerschmuck auf dem Kopf von Rip Torn. Im Gras spricht er Revolutionstexte vom Band nach in eigenwilliger Intonation. Später eine sehr lange Aufzugfahrt einen Wolkenkratzer hinab. Torn weiter als akzentuierender Papagei, nun ohne Kopfschmuck. Später sieht man Godard, der dem Schauspieler das Verfahren erklärt: Du kannst es gerne auch einmal singen. Es muss einfach, sagt Godard, und macht dazu wellenartige Bewegungen mit den Händen. 1 PM ist das unvollendete One American Movie (1 AM), zu dessen Produktion Godard im Jahre des Herrn 68 nach Amerika aufbrach, um mit den direct cinema-Männern Pennebaker und Leacock den Stand der Dinge der US-Revolution zu dokumentieren. Darauf ließ Godard das Material und die Kollegen grußlos zurück. Pennebaker montierte vier Jahre später One Parallel Movie als Parallelaktion im Sinne des Schweizers aus Frankreich. Wenige Schnitte, einzigartige Dokumente. Tom Hayden im Garten (einer der Chicago Eight, die man von den hysterischen Reenactments in Vladimir und Rosa her kennt), Eldridge Cleaver (Mitbegründer der Black Panther) vor Gang ins Exil und evangelikalchristlicher Wiedergeburt, die Jefferson Airplane bei ihrem legendären Konzert auf dem Hausdach. Godard an der Kamera zoomt und schwenkt wie ein Blöder. Godard programmatisch und oft mit im Bild. Godard, der Hayden erklärt: Um Natürlichkeit geht es niemals im Kino. Godard, der bei einem Straßenkonzert schwarzer Musiker am Rande herumsteht. Der Filmemacher als Ikone mit wackliger Stimme auf fremdem Terrain. Die Voiceover-Indoktrination fehlt mir schon fast, die lose Dokumentar-Kopplung mit durchs Bild stapfendem Regisseur ist sehr ungewohnt, hat aber was.

 

Lotte in Italia

Wo waren wir stehengeblieben? Klassenkampf. Jetzt aber: Individualbewusstsein. Jetzt aber: Italien. Jetzt aber: RAI. Auftragsarbeit fürs italienische Fernsehen. Eine Frau denkt, mit Althussers Hilfe, über «die Konstruktion namens Ich» nach. In vier Teilen, Aufklärungsarbeit, Lehrstück, in dessen Verlauf ein Bewusstsein entsteht für den konkreten Kampf in der konkreten Situation. Streng, kartenspielartig auf- und zugedeckt die vergleichsweise wenigen Bilder, mit denen Godard und Gorin arbeiten. Familie, Fabrik, Universität. Rotbild, Schwarzbild. Teil eins: Das Leben der Bourgeoisie. Pulloverkauf, Unterricht, Liebe. Teil zwei: Beginn der Reflexion, Einführung des Widerspruchs. (Schlagworte: Sexualität, Wissenschaft.) Teil drei: Synthese, Rückblick. Wo waren wir stehengeblieben? Wir haben dies und das gelernt. Über die Apparate des Staates, die Hegemonie des Jurido-Politischen. (Althusser) An die Stelle des Schwarzbilds tritt die marxistisch korrekte Relationierung von Praxis, Theorie und Montage. Auf dem Weg zu einer Montagetheorie der Revolution. Teil vier dann der Übergang zu Arbeit und Kampf. Direkte Kameraansprache, vom Blatt gelesene Überzeugung. Ich in der RAI. Ich spreche zu Ihnen, aus dem Staatsapparat. Arbeit und Kampf als letzte, in eine Endlosschleife geschickte Worte. Diese spezielle Revolte fiel allerdings aus. Das Staatsfernsehen hat den von ihm in Auftrag gegebenen Film niemals ausgestrahlt.

 

Le vent d'est

Im Gelände ein versprengter Trupp von Schauspielern in Fantasiekostümen, als wären sie eine Agitprop-Abspaltung der Endzeitguerilla von Weekend. Sie sind aber die Figuren des Westerns, den sich Daniel Cohn-Bendit nicht träumen ließ. Sie sind mitten im Klassenkampf und diskutieren, Tonangel im Bild, mit Jean-Luc darüber, welche Art Film gemacht werden muss. Auch die Tonspur ist wieder über die Maßen aktiv und bewegt sich mit Schrifttafelhilfe in einem Siebenodersopunkteplan in revolutionären Spiralen zur Theorie und/oder zum bewaffneten Kampf. Im zweiten dieses Films in zwei Teilen nimmt die Selbstkritik, die, wenn sie du sagt, den Film selbst kaum nicht mitmeinen kann, vorderhand überhand. «Du sprichst noch immer in Slogans und Plakatsprache.» Du glaubst, dass das Kino über dem Klassenkampf stehen kann. Das bekommt etwas Flagellatives, bis der Feind wieder ausgemacht ist. Die Hollywood-Litanei: Hollywood ist, wenn sie dir ein Bild von einem Pferd für ein Pferd vor machen und du bezahlst Eintritt. Hollywood ist, wenn sie behaupten, dass das Bild vom Pferd wirklich als das Pferd sei. Filmgeschichtsrevisionen sind an der Ordnung. When Eisenstein, Vertov et. al. jumped the shark. Selbstkritik und Bildkritik in schrillen Tönen. Daten, zu denen die Revolution im Film den Bach runterging. Abrechnung mit den Mitteln der Illusion, die das Kino kennt. Breschnew-Mosfilm ist die Filiale von Nixon-Paramount, die sich mit einer Widerstandsbewegung verwechselt. Ein Soldat, der kein Soldat ist und von Götz George gespielt wird, sitzt auf einem Pferd, das kein Pferd ist und führt am Seil einen Indianer im weißen Anzug, der kein Indianer, sondern ein Schauspieler ist, hinter sich her. Wenn der Soldat, der kein Soldat ist, dabei ruft «Ich bin General Motor», dann ist das ein Witz, der ein antiamerikanischer Witz ist. “Entschuldigen Sie, dass ich Sie beim Klassenkampf störe”, sagt die Frau zu Glauber Rocha, der halb als Gekreuzigter, halb mit dem Victoryzeichen auf einem Feldweg steht. «Aber wo bitte geht es hier zum politischen Film?» Sie schlägt sich, den Hinweis Rochas aufs Kino der Dritten Welt ignorierend, die Kamera auf dem Rücken, in die Büsche. Später geht es der bürgerlichen Kultur, die im Kostüm Marcel Proust liest, mit Hammer und Sichel an Kopf und an Kragen. Wir haben gelernt: Der Marxismus besteht aus einer Vielfalt von Prinzipien, die sich zusammenfassen lassen als: Es gibt Grund zur Revolte.

 

British Sounds

Once again, Lateralfahrt. Once again, nach rechts an Autos vorbei. Diesmal Autos nicht im Stau, sondern am Laufband. Das Geschrei höllisch laut der Maschinen im Hintergrund. Voiceoverstimme klärt auf über die Verdinglichung menschlicher Beziehungen im Kapitalismus. Ausbeutung. Kapital. The Whole Marxist Shebang. Kind spricht Historisches zur Revolution nach. Hände schrauben, Auto: ab. Weiter. Bildwissenschaft, offene Tür, Frau auf der Tonspur, nackte Frau auf der Bildspur, rechts-links, treppauf-treppab, am Telefon. «Here are some pointers.» Geschlecht im Close-Up: «Sexual perversion and Stalinism.» Klassenkampf ist Bilderkampf ist Tonkampf. Als Film: Bildtonkampf. Revolutionäre Filmtheorie. Rechtsextremes Arschloch im Anzug (echt/fake?): «Let’s repress these long-haired sex perverts.» Klassenkampf als Wortabschneidkunst und Bildeinfügkunst. «Let’s exterminate them.» Ortswechsel, im Hintergrund hängt Picassos Guernica an der Wand. Roundtable-Diskussion über Kapitalismus und Sozialismus. Danach begibt sich eine Runde von Hippies mit einem modifizierten «Hello Goodbye» von den Beatles auf die Suche nach der Filmrevolution: «I say US, you say Mao». Bilder mit Selbstevidenz gibt es nicht. Solidarität mit dem offenen Kino, mit Agitprop, mit der Arbeiterklasse. Faust aus dem Union Jack: ikonisches Bild. Solidarität, der Klassenkampf darf nicht enden. Rote Fahne voran.

 

Pravda

«Es lohnt nicht, Rosa, tschechisch zu lernen.» Vera Chytila, die Godard im Schnittraum besucht, redet, sagt Vladimir auf der Tonspur, wie Arthur Penn, nicht wie ein Arbeiter in einer chinesischen Fabrik. 1969 fährt Godard mit kleinem Team Richtung Prag. Er bringt Aufnahmen mit aus dem sozialistischen Alltag, Straßenbahn fährt im Kreis. Kein Bild in den dokumentarischen Montagen, die die Form des Dziga-Vertov-Films Pravda sind, spricht für sich. Die Voiceoverstimme nimmt, was man sieht, nur zum Anlass, den Westen im Osten zu erkennen und zu verdammen. Zwar scheint die filmische Godardform in Montage und Abruptheit intakt. Nie aber springt eine Funke von Bild zu Bild. Man schweige vom Text. In der englischen Version Sätze, die wiederholt werden, weil der Sprecher und viel öfter die Sprecherin sich verhaspeln. Niemand interveniert. Man ist sehr allein mit den Stimmen, die konkret über das Konkrete zu sprechen versprechen und doch an Apodiktik, zieht man das Haspeln ab, kaum übertreffbar sind: Revisionismus ist das Wort und das Feindbild, in dem die per Panzer einmarschierenden Sowjets mit den aufbegehrenden Tschechoslowaken, blickt man von weit genug östlich, vereint sind. Marxistisch-leninistische Ideologie wird wie in Formeln verlesen. Wir bewegen uns, sagt Rosa, im Kreis. Dann geht es, antwortet Vladimir, endlich voran.

 

Vladimir et Rosa

Die sprechen sehr komisch, die stottern am Netz auf dem Tennisfeld, die Bälle fliegen vorüber, der Mann mit der Wollmütze (Klammer Godard Karl Rosa) und der Mann mit dem Nagragerät (Klammer Gorin Friedrich Vladimir). (Klammer Deleuze, via: «In gewisser Weise handelt es sich immer darum zu stottern. Nicht im Sprechen zu stottern, sondern in der Sprache selbst. Im allgemeinen kann man Fremder nur in einer anderen Sprache sein. Hier dagegen geht es darum, Fremder in der eigenen Sprache zu sein.») "Das Nagragerät und die Kamera und Lenin (Klammer Vladimir) und Praxis und Theorie. Als Prozess: die Chicago Eight und der Richter, der auf ein Playboy-Centerfold kritzelt, à la Godard, à la Debord (Praxis einer Bildkritik mit schwer kontrollierbarer Ambivalenzkoproduktion). Der Film entsteht, um den Film über die Palästinenser zu finanzieren. Sagt die Stimme, die sagt, dass sie nur Stimme ist; bloße Stimme, als Defiguration einer Sprecherposition. Anne übt mit Yves ohne Hoffnung auf Erfolg Feminismus ein: Sprich mir nach, jedoch wird deine Stimme nie die meine sein. Eine andere Stimme, die ihr Stimmesein ausstellt. «Ich spreche mit der Stimme, die Gott mir gab», sagt theatralisch wie immer der Richter, Himmler, das Arschloch. Der Prozess, die Chicago Eight, im autistisch aufgelösten Raum. Das Publikum, Kopf-an-Kopf-Staffelung halbnah, beobachtet als schweigend bezeugende Gruppe (in wechselnder Zahl) den Prozess, und wendet die Hälse, als wär er ein Tennisspiel. Später von Godard im semidebilen Singsang über Schwarzbild die Ankündigung, Vladimir und Rosa hätten sich nun für einen Schwenk entschieden, der den objektiven Zusammenhang der Befreiungskämpfe ins Bild setzt. Gesingsangt, getan, Schwenk. Später eine Meditation aus dem Off über die Bedeutung des Schwarzbilds. Der Bruch mit den Dingen und wie sie sind, ist das, was im Grundsatz in Frage steht. An diesem Bruch laborieren Gorin & Godard (Vladimir & Rosa), und sei es als Clowns im Kostüm, wenn Godard als Polizist mit Motorradbrille den Knüppel aus dem Hosenschlitz zieht. Dabei, deutscher Gruß, apropos Antizionismus: Amerika. Frankreich. Israel. Sieg Heil, Godard auf Deutsch, der Akzent ist französisch. Später schießt Godard, Zigarre im Mund, die Kamerafrau hinter der Kamera weg. Bald darauf ist sie wieder da. Die Urteile fallen harsch aus. Auch Anne Wiazemsky und Juliet Berto bleiben keineswegs straffrei.

 

Le Gai Savoir

Es treffen sich im Dunkeln, aus dem Lichter und Schatten gestanzt sind, Patrice Lumumba – Juliet Berto - und Emile Rousseau – Jean-Pierre Léaud - wie bald darauf Marlon Brando und Maria Schneider in einem Pariser Appartment. Nur geht es mitnichten um Sex, hier und jetzt, bei diesem «süßen Spiel des Beisammenseins», mehr um Sprachuntersuchung, Bild- und Tonanalyse, Überlegungen zum Dokumentartheater und zu T-E-L-E-V-I-S-I-O-N. (Die Ausstrahlung ebenda verschob sich ad calendas graecas, 1977.) Sprechende Namen, ausdruckslose Gesichter, der Schirm ist sehr schön. Fröhliches Wissen, also Nietzsche: nein, eher nicht. Bühnenartiger Dunkelraum als geschützter Ort für fröhliche traurige Zweisamkeit im Namen von Theorie und Mao Tse-tung. Politisierter Intimismus, dyadische Ab- und Zuwendung zueinander, zur Welt, «Tricks von Schiffbrüchigen». Rückzüge aufs Dunkeltheater, dann Interventionen in den quasi situationistischen Außenraum: Die Katze lässt das Mausen nicht, Bilderwelt aus Comics und Pinups und prekäre Verbindung nach draußen zu einem Kind, einem alten zahnlosen Mann, denen Patrice und Emile Stichworte als Litanei hinwerfen. Dazwischen vollständig ortlos, flüsternd JLG mit/als Störsendergeräusch. Dazwischen kurze Filme anderer Art: Mozartanimation, sinnlose Worte, Batman, Hulk und Spiderman sind meine Zeugen. «Ein Partisan Israels ist objektiv ein Reak-zionist.» Hier fehlen die Bilder, die Rudi Dutschke gemacht hat. Da bleibt die Außenwelt der mit scharfen Lichträndern abgedunkelten Innenwelt schwarz. Am Ende: Léaud dreht einen Film mit Skolimowski. Man reicht die Staffette weiter an Bertolucci, Straub und auch Rocha. Rauch steigt auf, man verabschiedet sich beim richtigen Namen. «Dies ist nicht der Film, der gemacht werden muss.»

 

Sympathy For The Devil

Wieder eine Runde, nicht im Gras diesmal, sondern im Studio. London. Fünf Männer, keine Frau, plus one plus one plus one: Figuren im Hintergrund. Diesmal sieht man Körper, sieht man Gesichter. Es sind nicht die Worte, die zählen. Man argumentiert nicht, man zerbricht sich nicht den Kopf der Arbeiter oder Studenten, sondern man spielt. Spielt einen Song ein: Please allow me to introduce myself. Fünf Männer, nicht im Gestrüpp, sondern zwischen monochromen Stellwänden, die sehen aus, als träfen sich die Farbflächen aus einem der klassischen Brice-Marden-Gemälde zum Pow-Wow mit den Stones. Die Kamera fährt auf Schienen und lautert auf den Schnitt, der ewig nicht kommt. Was kommt, sind ganz andere Sachen. Stone komm raus, du bist umzingelt: Revolutionsdiskurse sehen dich an. Mit Nazis, Hitlergruß und den Kindern von Pulp & Porno im Zeitschriftenladen. Die Black Panther auf dem Autofriedhof, weiße Frauen, revolutionäre Parolen, geworfene Gewehre, Blut. Und Anne Wiazemsky, im Wald, nicht allein, Unschuld, vom Dokumentarfilmteam ständig verfolgt. Sie ist Eve, die Demokratie, die kein Wässerchen trübt, ahnungslos. Ein Ja ist kein Ja. Ein Nein ist kein Nein. Die Voice-Over-Stimme: ebenfalls Pulp & Porno, weiß der Teufel, was das wieder für Text ist. Graffiti an der Wand: CINEMA CINEMARXIST. ETC ETC. Auf Autos gesprüht: Keins fährt mehr. Fürs Ende hat Godard den Produzenten versohlt. Sympathy For The Devil. Rote Fahne, schwarze Fahne, die Leiche der Demokratie auf dem Kamerakran. Gelobt sei die Revolution in der Höhe.

 

Un film comme les autres

Fin de cinéma: Ein Film wie die anderen. Un film comme les autres: ein Film wie kein anderer, sorum und sorum. Dziga Vertov signiert (nicht), so wie ein Kollektiv einen Film (nicht) signieren kann. Ein Film von Godard: Ja. Nein. Im hohen Gras sitzen sechs. Fünf Männer, eine Frau. Und diskutieren. Ein Hochhaus im Hintergrund. Brachlandgespräch. Sie sprechen über die Revolution und wie man sie macht. Schon gar als Student, solidarisch mit der Arbeiterklasse. Wie man mit streikenden Arbeitern streikt und wie man vielleicht auch in die Schule oder Universität gehen kann und eine Ordnung auf den Kopf stellt, so dass etwas anderes rauskommt als Reform, mithin Social-Demo. (Ein Schimpfwort, das fällt.) Menschen im Gras fast ohne Gesichter. Stimmen in Farbe, Argumente für und wider auf gemeinsamer Basis (alles nur nicht social-demo), Kreisdiskurs. Brecht auch und das Theater. Zweite Ebene: das schwarz-weiße Dokumentarmaterial aus dem Jahr 1968. Menschen auf der Straße, Streik, le joli Mai. Dritte Ebene: Vollends körperloser Theoriediskurs, der Guy Debord zitiert und Daten nennt und Achill sagt: Seien wir auf das Schlimmste gefasst. Un film comme les autres: Solidarität mit dem Gedanken der Revolution heißt Askese des Bilds. Die Gesichter der streikenden Masse und ihrer Vorkämpfer auf den Barrikaden. Die Gesichtslosigkeit der jungen Menschen im Gras. Die Stimme des einen erinnert ein wenig an die von Godard. Ist das ein Godard-Film: Ja. Nein. Am Ende bleiben: Ästhetik und politische Ökonomie. Und Blau/Rot in Schreibschrift auf weißem Grund. Argumente für die kommende Revolution.

 

Weekend

Sackzement, Lateralfahrt. Am Stau lang, Blech as Blech can: Stoßstange, rums, stehende, brennende Autos in allen Lagen, mit Leichen, mit Blut, ein Film für niemanden unter achtzehn, kaputt, zerdrückt, postapokalyptisch in die Landschaft gestreut. Auto – Bataille – Sex. Das Ei zwischen den Schenkeln im frühen Unterwäsche-Halbdunkel, später unter den fröhlich schlachtenden, trommelnden, schießenden Kannibalen im Wald: Guerillas der Liebe zum Materialismus, die durch den Magen geht. Gleich zu Beginn verortet Godard den Film driftend im Kosmos; er hat ihn, zweite Texttafel, auf einer Müllhalde gefunden. 

Auf Schritt und Tritt: Literaten. (Sakrament, Literatzitat.) Zwischen den Bäumen brennt lichterloh Emily Bronte an der Kreuzung zu Du coté de chez Proust. Vorher liest sie noch was vor über tanzende Fische. Alice in den Wäldern. Jedoch vom Flusspferd niemals zu schweigen. Kleines Sechstagekriegpolitquiz auf der Straße. Ägypten hat angefangen, das Auto fährt weiter. Die Figuren wissen, wie stets, alles meta: «Was für ein Scheißfilm, wir begegnen ausschließlich Verrückten.» Hinreißende Musikaktion mit dem Bechstein-Klavier mitten im 360°-Schwenk-Bauernhof. Mozart: Zu leicht für die Anfänger, zu schwer für die Virtuosen. Der Mann am Piano ist Godards Freund Paul Gégauff, der am Weihnachtsabend des Jahrs 1983 an einer Messerattacke seiner zweiten Ehefrau starb. Weihnachten fiel auf ein Weekend in jenem Jahr. (Fin de conte, Fin de cinéma.)

 

Made in U.S.A.

David Goodis an der Schreibmaschine im gestreiften Pyjama. Wir schreiben das Jahr 1968. Paula Nelson, das ist Anna Karina, lang sind die Wimpern, blau ist der Lidschatten, im gescheckten Pullover. Mit im Spiel: Richard Nixon, Richard Widmark, Inspector Aldrich, Don Siegel, letzterer ist Jean-Pierre Léaud, der in einem hellblauen Anzug steckt sowie in exquisitester Durchgeknalltheit, der man da schon ansieht, dass man sie irgendwann nicht mehr so gut erträgt. Nicht im Spiel: Donald Westlake, auf dessen Roman The Jugger das irgendwie, sehr irgendwie, äußerst irgendwie aufruht. So also kam es, dass Made in U.S.A. den Atlantik ewig lang nicht überquerte. Wie aber kam es, dass Richard P. starb, der mit JLG’s Stimme vom Tonband quäkt? Anders gefragt: Whodunit? Bloß was? Whodunwhat, Marianne Faithfull singt ein trauriges Lied: As Tears Go By. Zwei Fragezeichen in Comicpopart füllen die Leinwand. Krieg läuft als Ticker rein, Léaud läuft als Irrer raus, Karina blickt in schöner Melancholie in die Kamera, Trauer kriecht durch alle Ritzen: du kannst die Filmzuschauer verscheißern, mich nicht. Made in U.S.A. stülpt den Kriminalroman um und fördert Szene für Szene zu Tage, dass nichts dahintersteckt. Das Nichtdahintersteckende ist der eigentliche Protagonist und fächert sich auf zu redenden, sterbenden, von roten Schusswunden geküssten Genrefiguren. Bleibt noch der Larousse als Container für Waffen, die Sprache in der Bar als grammatisch korrekter Semantikkomplott: Colourless green ideas sleep furiously, hätte Chomsky gesagt, der aber nun wirklich nicht vorkommt. Man unterlasse jeden Versuch, dieses Endspiel zu verstehen.

 

Pierrot le fou

Das Gefühl, als hätte Godard jetzt seinen ersten GODARDFILM gedreht. Es fehlt ja nichts, es ist alles da. Karina Belmondo Eastmancolor Gesang Gruß ans Publikum spielerische Parekbase Zitate von Zitaten in einer Tour. Solides Cameo: Sam Fuller. Kürzeste Blicke auf Jean-Pierre Léaud, sitzt im Kino. Stichomythisches Konfabulieren in Primärfarben. Schusswundenrot ist das Auto, lichterloh Vietnam und Dynamit um den Kopf. Alles bleibt Episode. Ins Tagebuch wird geschrieben, Godard unterstreicht sich selbst. Merkwürdige Diskrepanz zwischen fast schon marmorn klassifiziertem Kamera- und Einstellungsstil und der alten atemlosen Aufziehvogelspontaneität des Darstellertreibens. Und doch: als müsste alles immerzu neu angeschubst werden, oder reanimiert sogar, dass es weitergeht im Modus des Irgendwie Anything. Fast schon verzweifelte Einfallsflucht. Vielleicht sogar weniger das Musterexemplar eines GODARDFILMS als die liebevolle installative Reduplikation eines solchen, durch die sich, als Ikonen ihrer selbst nun, Belmondo und Karina Karina und Belmondo bewegen. Hinreißende Autofahrten durch Studiolichtkegel: ja. Ein reizender Einfall begegnet dem andern: sicher. Man gräbt sich aus, man liebt sich und neckt sich und findet schon beim Vornamen nicht zueinander. Genremomente brausen durchs Bild, Leichen sind zu Zitaten grässlich entstellt. Es darf der Krieg nicht fehlen, es darf die Literatur nicht fehlen, es darf das Kino nicht fehlen. (Beethoven fehlt.) Godard siegt souverän, alle Probleme gelöst. Manche nennen es die schönste Sackgasse der Welt.

 

Une femme marié: Suite de fragments d'un film tourné en 1964

Körper vor strukturreduziertem Hintergrund. Hand (mit Ring), Arm, Bein, Bauch. Der Körper der verheirateten Frau in einzelnen Teilen: der vom Mann (von der Kamera, von der Kamera des Mannes) begehrte Körper. Von Anfang an mit im Bild: Der Körper des Geliebten in ergänzenden einzelnen Teilen: der begehrende Körper des Mannes. Im elegant-matten Schwarz-Weiß formt die Kamera die Körper in ihren Teilen zur Skulptur. Sex findet nicht statt, überhaupt kein Austausch von Körperflüssigkeiten - ein seltsam trockener Film, der die Körper in aufgeräumte strukturarme Bilder, die Gesichter und andere Körperteile in Körperdiskurse, Philosophiediskurse packt. Sex findet statt: in Worten. Madame Céline, die Haushaltshilfe, macht beim Besteckputzen keine Gefangenen und geht sehr ins Detail in Sätzen, die handgreiflich sind (und von Céline). Worte finden statt: die Kamera formt Schrift ausschnittspielerisch zur Skulptur, EVE REVES, ANGE DANGER. Körper und Schrift: Fetischisierung. (Darunter das Flüstern, das eher ein Du adressiert als eine symbolische Ordnung, und seis aus Fragmenten einer Sprache des Körpers.) Eine Abendgesellschaft als reihum fortgesetzter monologischer Einschließungsakt: Nachdenken über die Erinnerung und die Gegenwart. (Kapitelüberschriften, 1, 2, 3 ff). Kapitel Körper Fragmente des «Films, der im Jahr 1964 gedreht wurde». Die Frau und ihr Körper: theoretisches, von der Kamera und der Sprache und dem Frauenarzt bearbeitetes Problem. Am Flughafen landet der Mann der verheirateten Frau und war mit Rossellini beim Auschwitz-Prozess. Charlotte, die Frau, die ganz in der Gegenwart lebt, verwechselt die Shoah mit Thalidomid. Am Flughafen von Orly geht es ins Kino. Aus dem linken Augenwinkel des Hitchcockporträts fällt ein Lichtkeil. Es hebt sich der Vorhang: wieder Auschwitz, Nacht und Nebel. Die Erinnerung lässt auch dem Imaginären keine Ruhe. Etwas schiebt sich zwischen die Körper. Die Skulptur steht niemals für sich. Es spielt stets noch die Beethoven-Streichquartettmusik. Und es singt von 1.08.32 bis 1.11.15 Sylvie Vartan «Quand le film est triste», ihr Lied vom Mann, der sie im Kino mit der besten Freundin betrügt: alles endet bei Godard unterm riesigen BH an der Werbewand. Nicht der Film ist traurig in Sylvie Vartans Lied, sondern das Leben. Im folgenden Clip zum Song sieht man als scharfen Kontrast zu Godards fragmentiertem Diskurs über die werbewirtschaftliche Zurichtung perfekter Körper ein Bild aus Freaks von Tod Browning.

 

Les carabiniers

Von Ewigkeit zu Ewigkeit – von Omo zu Omo übrigens auch – spannt sich, mit viel Tod, Verwesung, Totschuss und sogar Wortspiel dazwischen, der Film. Borges-Zitat zu Beginn: «Ich neige immer stärker zur Einfachheit. Ich  verwende die abgenutztesten Metaphern. Im Grunde ist genau das das Ewige: die Sterne ähneln den Augen, zum Beispiel, und der Tod gleicht dem Schlaf.» Am Schluss aber Godard: «Darauf schliefen die beiden Brüder für immer, im Glauben, dass das Hirn in seiner Verwesung über den Tod hinaus funktioniert und dass es seine Träume sind, die das Paradies ausmachen.» Ist das eine einfache Metapher, ist das, der Tod als ein Traum als ein Leben, die Ewigkeit, von der Borges spricht? Derselbe Schlaf, derselbe Traum? Und welche Ungeheuer gebiert er? Man blicke auf das, was dazwischen liegt, Bomben wie Sterne am Himmel, ein ausgestochenes Auge, mehr als nur ein Messer im Rücken. Das alles, gewiss, gewiss, eine Allegorie, zum Krieg ruft der König, (das Skript ist von Rossellini), eine Allegorie, die simpel scheint, kindisch fast. Wie die Kinder freuen sich die Mitglieder dieser dümmsten und rohsten, in ihrer rohen Dummheit fast aber schon wieder anrührenden Fantasiefamilie aus Venus Cleopatra Michelangelo Ulysses (ceci n'est pas un poème épique). Sie wollen nur spielen: um Krieg, Raub, Mord, Macht, Reichtum. Das Bild vom Krieg, das sie sich machen, ist ein Schönheitskatalog des Grauens, der Gier, der Gewalt. Sie sind so roh und so dumm, Venus Cleopatra Michelangelo Ulysses: Wie im Spiel werden ihnen die Dinge real, sie wollen und können zwischen den Dingen des Lebens und ihren Abbildern nicht unterscheiden und Godard schneidet, Bild ist Bild, Aufnahmen des realen Krieges zwischen seinen erfundenen und Ulysses, Bild ist Wirklichkeit (gerade umgekehrt wie bei Jean-Luc Godard), reißt die Arme hoch bei der Einfahrt des Zuges im Kino und er reißt die Leinwand zu Boden bei seiner Annäherung an die nackte Blondine im Filmbad.  Eine andere Blondine im dürren allegorischen Wald als kommunistische Scheherezade, die ihren Tod mit Worten von Lenin und einem Gedicht von Majakowski (über den Tod) auch nicht aufhalten kann. Zirkusorgulös untermalt kulminiert der gierige Raffzug in einer Rückkehr, die sich die Welt als Mitbringselkoffer aus Bildern und Aufzählung vorstellt. Meine Pyramide, meine Akropolis (blöde Ruine), mein Rolls-Royce, mein Stuttgarter Bahnhof (sic!), mein Angkor Wat. Eine Allegorie, in der so vieles godardesk querschießt (das Paffen der Zigarren, das Streichen der Hand durch das Haar, Autos, Autos, Autos, das Kino von Santa Cruz), ist keine Allegorie für die Ewigkeit, sondern ein sehr eigenes Zwischending, das das Abgenutzteste hinstellt in ein Niemandsland, in dem keiner zuvor war.

 

Une femme est une femme

Jurypreis Berlin wegen seiner Originalität, seiner Jugend, seines Wagemuts, seiner Impertinenz. Sagt der Vorspann und fährt in kapitaler Godardschrift fort: IL ETAIT UNE FOIS BEAUREGARD EASTMANCOLOR PONTI FRAN CHEMENT SCOPE GODARD COMÉDIE FRANCAISE COUTARD MUSICAL LEGRAND THÉÂTRAL EVEIN SENTIMENTAL GUILLEMOT OPÉRA LUBITSCH 14 JUILLET CINÉMA BRIALY KARINA BELMONDO. Godard ist erst sein elftes Wort, nach Produzent, Farbe und Form. (Bescheidenheit: In der Cahiers-Bestenliste 1962 nennt Godard seinen Vivre sa vie erst auf Platz sechs.) Lubitsch, Alfred Lubitsch: Rollenname Belmondo. Der drängelt einmal, als Belmondo, als Lubitsch, weil am Abend im Fernsehen Godards Atemlos läuft. Später steht Jeanne Moreau am Tresen und antwortet auf die Frage, wie es mit dem Dreh von Jules und Jim steht: moderato. Auf den Pianisten wird gleichfalls geschossen. Am Telefon im Treppenhaus nebenan reges Männleinlaufen (Prostitution). Viel Komplizenschaft mit der Kamera, ein Lächeln hier, ein Zwinkern da, Verbeugung vor Brecht: die häusliche COMÉDIE FRANCAISE kann beginnen. Legrands Musik reitet Attacken, mal mit dem Bild, mal dagegen, RRRR: gurgelnd, legato. Rot und Blau kommen groß raus, in die Tasten haut der Mann mit der Sonnenbrille an der Legrand-Orgel in der Zodiac-Bar. Brialy Récamier zwischen Puskas und Wortspiel, Real Barcelona, Treffer versenkt am 11. November. Infam schaut mit den Augen Anna Karinas der Titel des Films am Schluss aus der Wäsche: une femme.

 

Le petit soldat 

Die Untertitel, ausgedruckt: 72 Seiten. Es redet redet redet Jean Bruno Luc Godard Forestier. Im Bild: Michel Subor (cameokurz: JLG). Genf, die Stimme unter dem Bild, über dem Bild, im Bild, 24 mal pro Sekunde: Gerede. Velazquez-Grau und Paul Klee, der gute alte Haydn, die Plattenhülle vor dem Gesicht von Anna Karina. Eine Waffe hier, eine Waffe da. Töten Sie Arthur Polivoda! Bruno! Bruno Forestier! (Der Bandaufzeichnungstrick.) Veronica, VERA IKON, Dreyer, Godard, der mit Namen und Anspielungen, Zitaten und Hochkultur um sich schießt. (Bach am Morgen, Beethoven zur Nacht.) Velazquez-grau, Genf, Hotel Century, Hotel Beau Rivage. Man wird gefoltert in den Badewannen zu Genf, man stirbt auch darin. Autofahren Imzimmerstehen Liebesgeschichte Algerienkrieg. Rechts und Links, Mao und Stalin und Lenin und der Straßenbahnschaffner in Peking (oder war es in San Francisco?). Feuerfolter, Wasserfolter, Stromfolter, beherzt der Sprung aus dem Fenster, die Kamera huscht die Hochhausfassade (Beton, unterbrochen) empor. Genf, eine Stadt wie ein Reißschwenk. Die Liebe zu Joachim du Bellay oder Vom Einsatz des Dubbing bei puckernder Bootsfahrt. Der Krach, den ein ausbleibendes Geräusch macht, die Schönheit des Kamms im Haar von Anna Karina und das sanfte Zischen ihres Akzents, wenn sie S sagt, dänisch und dreyerhaft. Zuletzt wird eine komplexe Geschichte ganz einfach, aber nicht alles, aus dem ein Erzähler lebend rauskommt, nimmt deshalb schon ein glückliches Ende.