29. Januar 2016
Vorsicht: Zerbrechlich! Über Jacques Rivette
Die Filme Jacques Rivettes lassen sich leicht in eine systematische Ordnung bringen: Es gibt die, in denen das Theater eine wichtige Rolle spielt; die mit Jean-Pierre Léaud, die Historienfilme, die keine Historienfilme sind, die obskuren Werke, in denen alles möglich ist, auch Livemusik in abgelegenster Gegend, die mit Pascal Bonitzer und Christine Laurent gemeinsam geschriebenen und die im Team mehr oder weniger improvisierten, die Filme mit einer Frau als Heldin, die mit zwei Frauen als Heldinnen, die mit drei Frauen und die mit vier Frauen als Heldinnen und dann aber auch den Porträtfilm über Jean Renoir, «le patron».
Es gibt die Filme mit endlosen Plansequenzen, die langen und die ganz langen Filme und OUT 1 mit seinen 13 Stunden. Es gibt auch die, die in Deutschland im Kino liefen (nicht so sehr viele), die, die es in Deutschland auf DVD gibt (ungefähr zehn, Vorsicht: Zerbrechlich! ist nicht dabei, dafür seit diesem Jahr OUT 1, gelobt sei absolutmedien). Es gibt die Filme, in denen Paris zentraler Schauplatz ist, oder Spielplatz, ein Labyrinth, ein verzauberter Raum, in dem man sich wie in einem Brettspiel bewegt; in anderen fährt Sandrine Bonnaire in einer langen Sequenz mit dem Zug anderswohin. Es gibt die Rivette-Filme mit einer angedeuteten und die mit einer weiter ausgefalteten Verschwörung im Hintergrund und die, bei denen eine Ausfaltung nur angedeutet wird; es gibt aber sogar welche ohne Verschwörung. Es gibt die, die viele Fans haben, da zuerst Celine und Julie fahren Boot und Die schöne Querulantin, die, die kaum einer kennt (sagen wir Noroit oder Merry Go Round, wobei es letzteren dann erstaunlicherweise wieder in einer deutschen DVD-Edition gibt) und die, bei denen wirklich keiner weiß, was er mit ihnen anfangen soll: also etwa die ganz und gar unbrontesch geratene Verfilmung von Emily Brontes Wuthering Heights. Es gibt nur einen wirklich kurzen Film, das war der letzte, 36 vues du Pic Sant Loup, aber da ging es Rivette, der seit Jahren schwer an Alzheimer erkrankt ist, schon nicht mehr gut. Was es nicht gibt in diesem Werk, wirklich gar nicht, ist ein Film, den ich nicht mag. Und einen gibt es, den mag ich besonders gern, obwohl er keiner der bekannteren ist: Das ist Haut bas: fragile!.
Vorsicht: Zerbrechlich! hat drei Frauen als Heldinnen, Jean-Pierre Léaud spielt nicht mit (dafür Anna Karina!). Als Drehbuchautorinnen sind Rivette, Bonitzer, Laurent und die drei Hauptdarstellerinnen genannt. Der Film ist für Rivettes Verhältnisse mittellang (160 Minuten) und es gibt zwar einen Vater, der nicht mehr als eine sonore Telefonstimme ist, aber es gibt, ungewöhnlich genug, keine oder fast keine Hintergrundverschwörung und eigentlich auch keinen richtigen Plot (wobei Plot ja nichts anderes heißt als Verschwörung), sondern nur tastende und jähe, begonnenene und nicht zu Ende geführte Andeutungen und Antäuschungen eines Plots. Es gibt einen McGuffin, der erst in einem Geheimfach in einem Sekretär steckt und dann Unruhe bringt, aber am Ende wird er einfach zerrissen. Es wird nicht nur nicht um den McGuffin gegangen sein (wie bei Hitchcock der McGuffin eben immer das ist, worum es nicht geht), sondern auch nicht einmal darum, dass der McGuffin als Spannungsgenerator funktioniert. Er wird nur präsentiert und es fehlt nicht viel dazu, dass jemand sagt: Voilà, und hier der McGuffin.
Die drei Frauen, Louise, Ninon und Ida – Marianne Denicourt, Nathalie Richard, Laurence Côte – haben zunächst nichts miteinander zu tun, werden dann aber über Bewegungen in der Stadt und Begegnungen miteinander in Verbindung gebracht. Die eine lag fünf Jahre im Koma und erbt nun das Haus ihrer Tante. Die andere ist für die Firma Vitebien als Botin unterwegs, auf dem Motorrad oder auf Rollschuhen. Die dritte ist eine Waise, spricht mit sich selbst und ihrer Katze und arbeitet in der Bibliothek. Außerdem sind da noch zwei Männer, denen die Liebe widerfährt. Und am Anfang, in der zehnten Minute, steht Jacques Rivette in einem seiner gelegentlich vorkommenden Cameo-Auftritte an einem Crepestand.
Worum es geht in Haut bas fragile, ist nicht so ohne weiteres zu sagen. Im Grunde geht es, wie oft bei Rivette, aber genau darum: Die Frage, worum es eigentlich geht. Nicht um die Antwort auf diese Frage, sondern um Formen, diese Frage als Frage offenzuhalten und in diesem Offenhalten eine Welt zu gewinnen. Diese Frage wird also keinem Ergebnis zugeführt, sondern sie wird umspielt, in diesem Film so leichtgewichtig wie in wenigen anderen von Rivette. Alles ist in Bewegung: Flucht und Verfolgung, Beobachtung, Entzug und Verführung, Überbringen und Umkreisen, eine Serie von Spontanchoreografien, die sehr buchstäblich immer wieder in Tanz und Gesang übergeht. Die drei Frauen sind eigentlich von Anfang an und immer schon auf dem Weg zum Tanz. Der Weg mag weit sein, schließlich lag eine von ihnen fünf Jahre im Koma. Der Weg mag kurz sein, vom Skaten durch Paris bis ins geheimnisvolle Etablissement namens «Backstage» mit seinem noch viel geheimnisvolleren Boss Alfredo, bei dem die Fäden zusammenlaufen. Es gilt nur: die Fäden laufen zusammen, aber an ihrem anderen Ende ist eigentlich nichts.
Die Logik sagt, wo Backstage ist, ist auch Stage. Nun ist Haut bas fragile kein Film über das Theater, so wie OUT 1 oder La bandes des quatres oder Va Savoir Filme über das Theater sind. Ein Theaterfilm ist Haut bas fragile aber doch. Ein Film nämlich, in dem immerzu eine Bühne bereitet wird und auf dieser Bühne wird dann gesungen und getanzt. Eigentlich verhalten sich alle von Anfang an so, als wären sie in einem Stück oder mindestens auf der Bühne. Gleich zu Beginn wird jemand niedergestochen, aber man rechnet sehr damit, dass er gleich wieder aufsteht. Vielleicht muss man genauer sagen: Alle verhalten sich so, als wären sie in einem Stück, aber wüssten nicht so genau, was für eines es ist. Nochmal anders gesagt: Sie spielen in einem Spiel, dessen Regeln sie nicht kennen. Allerdings gehen sie recht unterschiedlich mit dieser Situation um, die eine recht forsch, die andere zögert. Es gibt ein Spiel, aber keinen Plan. Und wenn es Regeln gibt, geht es doch um etwas anderes als darum, nach diesen Regeln zu spielen. Man kann sie jederzeit ändern, die Regel ist selbst etwas, das wieder ins Spiel gebracht werden kann, wenn nicht ohnehin etwas, das man im Spielen erfindet. Man hält sich dann dran mit allem gebotenen Ernst, so lange, bis man sich nicht mehr dran hält. Die Lust am Spielen liegt darin, dass das Spiel weitergeht und zwar im Angesicht des jederzeit möglichen Abbruchs. Es kann in jedem Moment vorbei sein, weil die Regel es sagt, oder weil die Spieler keine Lust mehr haben. Es geht nicht zuletzt darum, diesen Moment, in dem es vorbei ist, hinauszuzögern oder Ende, Aus, Tod dreist zu leugnen. Das wird im Film selbst noch einmal allegorisch, denn im Backstage wird mit Karten gespielt, und zwar auf Leben und Tod. Denkt man. Aber Leben wie Tod sind doch wieder nur Spiel. Auf dem Dach wird geschossen, aber mit Platzpatronen. Es geht dann weiter, als wäre nichts gewesen. Ein Film, der nie endet, das ist, scheint mir, die Utopie des Kinos von Jacques Rivette.