spielfilm

16. Mai 2023

Jean-Pierre Mocky

Von Ekkehard Knörer

Les Drageurs (1959)

© Lisbon Films

 

Les drageurs (1959)

Ganz Paris ein Pick-up-Paradies. Ein Spiel, zu dem das Übergriffige gehört und die Rollen-Asymmetrie. Er will und sie will, aber er ist es, der die Annäherung sucht; die Frauen, die suchen, sind nur die Professionellen, die sind raus aus dem Spiel. So weit, schwer auch erträglich. Im übrigen jedoch in seiner fundamentalen Unschuld zusehends reizend. Ein Kinderspiel ist das Ganze für einen nicht wirklich erwachsenen Mann wie Freddy, den Aufreißer-König, der alle Tricks kennt und den schüchternen Bankangestellten Joseph (Charles Aznavour) für eine Nacht unter seine Fittiche nimmt. So geht es in Passagen, das Anbändeln fast schon choreografiert wie ein Tanz; es geht in die Bar und es geht mit zwei Schwedinnen nach Montmartre, Freddys Auto muss hinten aufgeklappt werden, damit für mehr als zwei darin Platz ist. Es regnet, dann ist es auch wieder trocken. Man verspricht sich Dinge fürs Leben, sie sind im nächsten Moment, ein paar Tränen oder auch Prügel später, gleich wieder vergessen. So nämlich in der längsten Szene, einem von Verlobter und Verlobtem am selben Ort parallel gefeierten Junggesellenabschied. Davor jedoch sitzt in einem sehr magischen Moment Anouk Aimée mit ihrem kleinen Sohn in der Nacht an einem Tisch. Sie meint es ernst und erst beim Gehen ist ihre Behinderung zu erkennen. Sie geht, Freddy zögert, das wäre nun wirklich eine Sache fürs Leben, hinter der nächsten Ecke hat sie sich in Luft aufgelöst. Freddy fährt solo nach Hause, Joseph dagegen hat eine Krankenschwester gefunden, seine Träume haben, weil sie bescheiden sind, was Reelles. (77cp)

 

Un couple (1960)

Ein schöner Mann, eine schöne Frau, ein schönes Paar geraten hier aus der Bahn. Nach ein paar Jahren Verzauberung beginnen sie sich für andere zu interessieren. In Innenräumen mit Partys, am Arbeitsplatz mit der blonden Kollegin, in Außenräumen auf von Eugen Schüfftan wunderbar ausgeleuchteten schwarz-weißen Straßen. Blicke im Hausflur, Begehren im Treppenaufgang. Im Schaufenster, das mit Spielzeug umdekoriert wird, geht ein Kuss das erste Mal fremd. Der schöne Mann arbeitet für einen Spielzeugerfinder (der ist dick, Glatze, Zigarre, immer schöne Frauen zur Hand), ein Kollege hat seinen mechanischen Maulwurf bei Sonne und Regen dabei. Die schöne Frau hat einen schwarzen Ring um die Iris, den man bei den nicht wenigen Großaufnahmen sehr gut erkennt. Paare, Passanten, die Entfremdungsgeschichte, das Titel-Paar in der Einzahl, gerät nach und nach, Drehbucbeteiligung: Raymon Queneau, ihrerseits aus der Bahn. Setzt einen Mann mit Krücken in den Salon, der die anderen mit Vergnügen zu Fall bringt. Und nimmt ein anderes Paar als Refrain, dessen Abend immer auf dieselbe Weise verläuft: Mann hängt den Salat im Entwässerungssieb vor das Fenster, schließt die Läden, füttert den in einem von der Decke hängenden Korb liegenden Hund, begibt sich zur Frau ins Bett, deren Hand an einem baumelnden Schalter das Licht löscht. Einmal bleibt es an. Der Film geht dann aus. (73cp)

 

Un drôle de paroissien (1963)

Verarmt sitzt der Adel ohne Möbel in einst prächtiger Wohnung. Müßiggang ist das Lebensprinzip, Arbeit im engeren Sinn kommt deshalb nicht in Frage. Der Sohn aber hat eine schöne Idee: Warum sich nicht aus den Opferstöcken der vielen Pariser Kirchen bedienen, treuherziger Augenaufschlag des Understatement-Komikers Bourvil, er trägt sein Haar mittelgescheitelt. Er schreitet zur Tat, die Werkzeuge werden verfeinert, eingespeichelte Karamellbonbons erst (Haftkraft!), dann ein batteriebetriebener Kleinstaubsauger, zuletzt werden die Opferstöcke zersägt. Die Polizei beginnt den Hasen zu riechen, ist aber dümmer, als sie selbst es erlaubt, ein Freund, der Zahntechniker ist, wird zum Komplizen, es beginnt ein Räuber-und-Gendarm-Spiel der abgrundtief albernen Art. Verkleidungen und angeklebte Bärte, eins führt zum andern, Mocky folgt in aller inszenatorischen Unschuld (das Portal von Notre-Dame als tapetenartige Rückprojektion) der Logik der Sache, pfeift auf Realismus, lässt das Ganze, sieht man von einer farbigen Traumsequenz mit Polizei-in-Soutanen-Choreografie einmal ab, aber auch nicht ins Surreale entgleiten. Es gleitet, oh ja, sehr durchaus, in den Wahnsinn, der bleibt jedoch hell und von zarter Unschuld, Bourvil geht immer voran und der Film und wir auch gehen mit, bis zum glücklichen Ausgang. (74cp) 

 

La grande frousse (1964)

Das Monster geht um, hat sehr schiefe Zähne und sieht aus, wie von einem Trinker gebastelt. Ein Trinker ist durchaus in der kleinen Stadt Barge unterwegs, es ist der geachtete Arzt, der auf geraden Wegen in Schlangenlinien fährt. Nach Barge verschlägt es den Polizisten Triquet (Bourvil), denn hier versteckt sich der Fälscher Mickey, der die Guillotine, die klemmte, mit knapper Not überlebte (es hat stattdessen den Henker erwischt). Triquet ist eine eifrig-naive Bourvil-Figur mit Trencoat und kleinen Sprüngen im Schnitt. Hinter den Fenstern zittern die Menschen, das Monster lauert irgendwo draußen, der Polizist kämmt sich das Haar und gibt der Luft Küsschen, der Bürgermeister lacht ohne Grund und hat einen mächtigen Stuhl, der sich dreht, auf der Wendeltreppe stehen Bedienstete ohne Auftrag und Grund, der Metzger haut eine Hand ab, Würste fliegen, in der Scheune treibt es dieser mit jener, es regnet sehr viel, wenn auch meist lokal sehr begrenzt, auf der Tonspur ist es ohne Unterlass zugig. Alle sind, typisch Mocky, immer etwas neben der Spur, Charaktermasken, zur Dorf-Satire bestellt. Die Demaskierung des Monsters ändert so wenig, wie sonst irgendetwas irgendetwas ändert, der Tod geht um, alles bleibt trotzdem beim Alten. Der Gesuchte wird geschnappt, Triquet/Bourvil springt davon, der Irrsinn ist wieder bei sich. (71cp)

 

Solo (1970)

Unter Feuer: Die beste Pariser Gesellschaft, reiche Männer, die es sich mit nackten jungen Frauen gut gehen lassen, werden von jungen Revolutionären mit Salven belegt. Die Polizei in Gestalt zweier Biedermänner kommt einem Virgil auf die Spur, weil der Verfasser die Wörter des Drohbriefs nicht nur aus Le Monde und L’humanité, sondern auch aus dem Anarchistenblatt Fossoyeur entnahm. Der junge Mann verlässt seine Bude, mit Gewehr im Gepäck. Sein älterer Bruder Vincent (Mocky selbst), der Geiger und Juwelendieb ist, staubt einen Beischlaf bei der vollbusigen Nachbarin ab. Die Dialoge suchen attraktive Mittellagen zwischen Unernst und Ernst, es geht beinahe ernsthaft blutig zu, Georges Moustaki spielt zu allem das immerselbe Gitarrenmotiv, die politischen Phrasen bleiben dagegen in erster Linie Symptom für die mangelnde Seriosität der Linksradikalen. Mocky schlägt sich dabei entschlossen zwischen die Seiten, jagt mancherlei in die Luft, legt die Kamera schräg, filmt eigentümlich wackelnde Fahrten, findet einen Ton der Künstlichkeit, der die Angebote des Genres nicht ausschlägt und das kritische Bewusstsein der Jugend nie vollends denunziert. (72cp)

 

L’Albatros (1971)

Vom ersten bis zum letzten Moment ist der Mann (Mocky: Albatros) auf der Flucht, er hat einen Polizisten erschossen (Notwehr), er wird nun von Polizisten gehetzt, aber auch von zwei Politikern, von denen der eine nicht weniger korrupt als der andere ist. Die einen kleben Plakate, die anderen übermalen sie wieder, auf einer Party gabelt der Albatros eine Blondine auf, die die Tochter eines der Politiker ist: Erst zwingt er sie mit der Waffe, dann sinkt sie hin, es endet, spektakulär und vor viel Publikum, mit Schattensex auf der Gefängnismauer, ausgedehnte Szene, Bond-Scherenschnitt, reizend absurd, danach führt der Weg steil nach unten. Zu diesem Ende kommt es, alle Elemente des fliehenden Plots haben sich hier versammelt, in einem eigentümlich andersweltlichen Städtchen namens Burghoffen, Mocky hängt unten am Auto, drei Jungs werden noch eingeladen, eine Verfolgungsjagd folgt der anderen, ins Wasser hinein, Hänge hinab, bevor sich etwas beruhigen kann, ist der Schnitt immer schon weiter, für eine versuchte Vergewaltigung ist zwischendurch Zeit, für Intrigen und auch für die Annäherung und dann eben, als wäre das alles, was die Geschichte von Anfang an wollte, der Sex oben droben, dann Sturz und dann Schluss. (73cp)

 

Le témoin (1974)

Antonio Berti, der Maler, der mit einigem Karacho aus Italien (Alberto Sordi) nach Reims kommt, malt in der Kathedrale, er malt auch nackte und halbnackte Gestalten. Junge Mädchen stehen ihm dafür spärlich bekleidet Modell. Der reichste Mann der Stadt, Monsieur Maurisson (Philippe Noiret), ist sein Freund, geht sehr gern auf die Jagd, nach Frauen, aber auch, wie sich herausstellt, nach den sehr jungen Mädchen. Als eine von ihnen ermordet wird, werden Alibis durch die Gegend geschoben und gerät Berti in Not, denn er hat Maurisson in der fraglichen Nacht am fraglichen Ort in sehr verdächtiger Weise gesehen. Und hält die Klappe, aus Freundschaft, außerdem lassen Schüsse bei der Jagd keine Zweifel an der Entschlossenheit Maurissons. Noiret und Sordi haben sichtlich Vergnügen an ihren üblen Figuren, Mocky hat Spaß daran, eine Genregeschichte mit allem Drum (Kommissar, allerdings schwul) und Dran (Lustmolch, dieser und jener) im Graubereich zwischen Chabrol und Buñuel und commedia all’italiana einem entschiedenen Ende zuzuführen: Ein Schuss, der versehentlich den trifft, der unter die Guillotine gehört. Aber ganz der Falsche ist auch der nicht, dem der Kopf abgehackt wird. Ein paar Sekunden lang wird in der Totalen danach noch das Blut mit dem Schlauch weggespritzt. (67cp)

 

Y a t’il un Francais dans la salle? (1982)

Im Zentrum steht, wie es sich für einen Präsidenten gehört: der Präsident. Nicht der der Republik (an der Wand hängen Bilder von Giscard), sondern Rotes Kreuz und anderes, nicht wichtig, der Präsident ist hier etwas zwischen Eigenname, Funktion und, gewiss nicht zuletzt, Allegorie von Macht. Erkannt wird der Mann, der durchaus noch einen - gerne gesungenen - Eigennamen hat (Horace Tumelat), überall, ein bunter Hund, der Dreck am Stecken hat, eine Siebzehnjährige zu begehren beginnt und sich die Haare blond färbt. Früher, erfährt man nebenbei, hat er Juden an die Gestapo verraten. Jetzt ist sein Onkel gestorben, hat sich erhängt, oder war es doch Mord? Die Frage kümmert keinen so richtig, aber sie hält den Wirbel der Interaktionen in Gang. Hinter der Wand lebt ein alter Herr in Ketten, der den Präsidenten erpresst hat. Als Figur außer Rand und Band ist Jean-Francois Stévenin von der Partie, der ermittelnde Kommissar, er lebt mit einem transvestitischen Mann, vögelt aber auch die sehr reife Madame Fluck, von deren Wohnung aus sich der Tatort beobachten lässt: das Haus des Onkels, das eine Bruchbude ist. Dagegen: Paläste. Das alles ist, der ins Gemenge gezerrten Genres nicht achtend, polymorph à la Mocky, von nonchalanter Zwanghaftigkeit. Ganz vergessen: Die Assistentin Alcazar, die zu ihrem Leidwesen nur der Fuck-Buddy des Präsidenten ist, bringt ihren Mann um die Ecke. Ohrfeigen setzt es. Eine Komödie, wie stets, vor allem faute de mieux: Wie soll man ein Geschehen anders betrachten, das nicht der Wirklichkeit verpflichtet ist, aber auch nicht ihrer Kritik, oder beidem durchaus, angetäuschter Surreealisms, wobei es im Kern um etwas anderes geht, nämlich Mockys (und seiner Darsteller*innen) Lust daran, mit dem Realen, mit Genres, mit Figuren so rüde wie liebevoll über die Stränge der Konventionen (nicht zuletzt des Kinos) zu schlagen. (67cp)

 

Litan (1982)

Litan heißt der Ort, es gibt hier Höhlen, Berge, Gestein und rauschende Wasser. Eine Kapelle spielt zünftige Blasmusik, aber das sieht sehr unheimlich aus, denn die Musiker tragen rote Jacken und ausdruckslos-glatte silberne Masken. Gleich zu Beginn hat Nora (Marie-José Nat), die mit Jock (Mocky selbst) durch den Ort und die Höhlen und Berge und über rauschende Wasser stolpert und rennt und fällt und flieht, einen Alptraum. Der setzt sich allerdings nach dem Aufwachen fort, der Irrsinn selbst ist in Litan unterwegs: mit Musik, die den Marsch bläst; mit Zombies, die erstarren, und Menschen in Schweinemasken zum Beispiel, die Messer zücken und Metzger schlachten. Wer ins Wasser fällt, wird zu einer elektrischen Seele, Diskussionen über Leben, Nachleben, Tod werden geführt, Gesichter werden in Pupillen erscheinen, ein mad scientist möchte seine verstorbene Frau wiederbeleben. Dies alles geschieht, auch klopft ein Mann an eine Tür und viel später klopft er noch immer. Das Treiben ist brutal, Erklärungen gibt es keine oder sie sind so irre, dass sich nicht weiterhelfen. Ein einziger Alptraum, der das Groteske nicht scheut, das von Mocky vertraute Bizarre ist reichlich vorhanden, jedoch legt er sich die Horrormotive in diesem Fall so zurecht, dass wirklicher Schrecken, Genrekonsistenz also, in Reichweite bleibt. (76cp)

 

Le miraculé (1987)

Der Mocky-Zirkus auf ganz großer Fahrt, nämlich nach Lourdes. Mit an Bord neben vertrauten (Un)Gestalten wie Jean Abeillé sind Jeanne Moreau, Michel Serrault und Jean Poiret. Serrault (als eine Figur mit Namen Ronald Fox Terrier) ist stumm und macht groteske Geräusche und Gesten; Jeanne Moreau ist fromm, aber das glaubt sie nicht einmal selbst; Jean Poiret begibt sich, eines Versicherungsbetrugs wegen, in den Rollstuhl und wird Richtung falsche Wunderheilung gekarrt. Es gibt Kino im Zug, einen Priester, der sich, wenn ihn die böse Lust überkommt, knallrot verfärbt; noch einen Priester, älter, der den jungen begehrt. Gelegenheiten zur Absurdität werden nicht ausgelassen, ein nach einer OP zu einer Art Hintern verformtes Gesicht nur zum Beispiel; auch ein Affe taucht einfach so auf. Die Darsteller*innen sind von der Leine gelassen (Monsieur Fox Terrier trägt allerdings den Film hindurch ein Hundehalsband), outrieren bis zum Anschlag und darüber hinaus; nichts Groteskes, Gotteslästerliches, Obszönes ist hier irgendwem fremd: eine Klamotte, die bodenlos ist und die doch immer noch einen draufsetzt. Knallchargen unter sich: Kein Wunder, dass sich auch der liebe Gott am Ende vertut: Der Fox Terrier spricht, der betrügerisch Lahme kann nun in der Tat nicht mehr gehen. (72cp)

 

Noir comme le souvenir (1995)

Was für ein Cast: Jane Birkin, Sabine Azéma, Jean-Francois Stévenin. Und dann noch Matthias Habich dazu. La la la, es weht gleich zu Beginn, zur tosenden Gischt, ein Kinderlied wie aus dem Giallo herüber. Ein Kind wird entführt, stirbt, der Mörder wird nicht gefunden, der Film macht einen Sprung: zehn Jahre später. Da holt der Fall, holt die Vergangenheit alle Beteiligten ein, das Paar, das sich, durch den Verlust des Kindes zerstört, trennt, obwohl es sich liebt. Neu eingerichtet ist alles nur zum Schein. Plötzlich ist Garance wieder da, sucht die Gegenwart heim, mit Puppen und Morden. Etuihafte Innenräume, sprunghafte Kamera, geschnitten ist das ganze wie mit der Axt im Walde: holprigste Rhythmen, alle Kontinuität von Ort, Zeit, Handlung ständig bedroht. Wie Mocky mit allem, was dem Handwerk heilig ist, umspringt: nicht feierlich. Die Darsteller*innen sind nicht im selben Film, Azéma eher bei Resnais, Stévenin von wuchtigem Unernst, Birkin echt aufgelöst. Immer wieder Wasser: Fluss, Stromschnelle, Gewitterregen. Geisterhaft die Musik, von Gabriel Yared. Mocky schafft leichthändig Atmosphären, zerstört sie kurzerhand wieder. Das ist ruppig, das funktioniert als Spannungsfilm nicht, ist völlig eigen dabei, kleinstädtisch surreal. 

 

Noir comme le souvenir (1995)

© Odessa Films, Koala Films