spielfilm

9. April 2009

Kritik der Gewalt Umordnen und Neuordnen von Werkspuren: Die Welt des Clint Eastwood, gesehen durch Gran Torino

Von Matthias Wittmann

Gran Torino

© Warner Bros.
 
Every tool has a purpose, everything has a job to do.
Walt Kowalski

Ich denke in Arbeitseinheiten… exakt dann am Bahnhof sein,
wenn der Zug einfährt. Das ist die Kunst.
Clint Eastwood
 

Wenn der Fetisch eine Geschichte ist, die sich als Gegenstand ausgibt, dann finden wir in Eastwoods Universum nichts als Fetische. Es geht um Dinge, die Spuren tragen und Geschichten erzählen, um Dinge, die dem Leben angehören und im Leben auf den Tod verweisen, manchmal auch um Dinge, die einfach nur da sind, um vom Publikum belebt zu werden.

Wir finden nie abgeschickte Briefe auf Iwo Jima und in Zement geritzte Namen auf einem Bostoner Gehweg (Letters from Iwo Jima / Mystic River).  Wir können einem hingeworfenen Schlagzeug-Becken dabei zusehen, wie es in Zeitlupe durch die Luft segelt und auf dem Boden aufschlägt, um Charlie «Bird» Parkers Leben nach- und seinen Tod vorzuzeichnen. Wir treffen auf Figuren, die sich mit Boxbirnen herumschlagen und Zitronenkuchen essen (Million Dollar Baby),  einen Pick-Up-Truck fahren und Fotos für National Geografic schießen (The Bridges of Madison County),  mit Kautabak um sich spucken, einen (ge)folgsamen Hund nicht loswerden (The Outlaw Josey Wales), oder sogar von einem imaginären Hund begleitet werden; Figuren, die von (an Drähten befestigten) Pferdebremsen umschwirrt werden (Midnight in the Garden of Good and Evil),  weinrote Hemden oder Predigerröcke tragen (Unforgiven / Pale Rider),  Gitarre spielen, oder Saxophon (Honkytonk Man / Bird); Figuren, die nicht einmal mehr ein funktionierendes Megaphon besitzen (A Perfect World),  mit Peitschen knallen und Messern werfen (High Plains Drifter / Bronco Billy),  ab und zu eine 44er Magnum benutzen (Dirty Harry),  oder wir stoßen auf Figuren, die – nebst vieler Werkzeuge und einem Feuerzeug – in ihrer Garage einen Ford Gran Torino, Baujahr 1972, haben und in ihrem Keller eine Schatzkiste mit der Aufschrift: Live the Legend». So, let’s print the legend!

Gran Torino (2008) nimmt sich innerhalb Eastwoods Universum nicht nur wie eine Wunderkammer der Fetisch-Dinge aus, sondern auch wie eine Echokammer, in der ein knapp vier Jahrzehnte umspannendes Werk eine ironische Brechung findet. Eastwoods 29. Regiearbeit ist eine Summe, die das, was sie summiert, neu konfiguriert. Es geht um Re-Membering im buchstäblichen Sinn: um ein Umordnen und Neuordnen von Werkspuren, und somit auch um ein Angebot. Eastwood macht uns das Angebot, sein Werk neu zu bewerten, umzuarbeiten, nach Insistenzen und Reminiszenzen, Kontinuitäten und Diskontinuitäten zu fragen.  Vor allem auch macht uns Eastwood das Angebot, die vieldiskutierte Frage, wo sein Alterwerk den Ausgang nimmt – bei Unforgiven (1992)? Honkytonk Man (1982)? Oder gar bei Bronco Billy (1980)? –, mit einer Antwort zurückzuweisen, die paradox klingen mag: Eastwoods Alterswerk hat immer schon begonnen, denn Eastwood war nie jung. Während Dennis Hopper, Henry Fonda und Jack Nicholson auf ihren Counterculture-Motorrädern unterwegs zu Mardis-Gras in New Orleans waren, schoss sich Eastwood als Deputy Sheriff Walt (WALT!) Coogan durch die Hippieszene New Yorks. Während Monte Hellman in Two-Lane Blacktop (1971) zwei frisierte Autos, drei Männer und eine Frau auf einen ganz und gar ziellosen Asphalt-Trip schickte und Dennis Hopper mit The Last Movie (1971) an den Erfolg von Easy Rider (1969) anzuknüpfen versuchte, spielte Eastwood in seiner ersten Regiearbeit Play Misty for Me (1971) einen einzelgängerischen Diskjockey, der zum Opfer einer fatal attraction wird und ganz nebenbei das Monterey Open Air Jazz Festival besucht.

Bemerkenswert ist, dass sich Eastwoods Low-Budget-Thriller – in dem Mentor Don Siegel einen Cameoauftritt als Barkeeper hat – von der formalen Experimentierwut des New Hollywood gänzlich unbeeindruckt zeigt, abgesehen von dem einen oder anderen Schnitt-Katarakt im blutigen Showdown. Stattdessen pflegt der Film die Kunst des reibungslosen, bedächtigen und (durchaus schon) weichen Erzählens, vermeidet Brüche mit der Tradition des continuity editings und nimmt sich Zeit für Figurenentwicklungen, oder dafür, Musiker bei der Arbeit zu zeigen. «Das was wahrhaft bedeutende Kunst hervorbringt, ist Einfachheit», wird John Wilson alias John Huston alias Clint Eastwood in White Hunter, Black Heart (1990) einmal gesagt haben. Ein Credo, das Eastwood, der Pragmatiker, genauso gut für sich selbst beanspruchen könnte. Hinzu kommt, dass Eastwood in Interviews immer wieder seine Intention betonte, Filme machen zu wollen, die keine Spuren ihrer Entstehungszeit tragen. So etwa in Zusammenhang mit Million Dollar Baby (2004): «I wanted the film to look like an anytime film. It could have taken place in the Thirties or Forties, and it’s only the cars or what’s on the radio that tells you you’re in one time and not another. I try to design the light and time the color to go with the drama. A lot of times I do the old John Ford lighting gag. I go around and I shut off lights.»

Eastwood, dessen Leben sich fast wie eine Country-Ballade (ohne Gnade Gottes) liest, nimmt sich wie ein Monolith innerhalb der Filmlandschaft aus, allerdings ein Monolith, der sich selbst bearbeitete und in ein ganzes Spektrum an Figuren zerklüftete. Eastwood ist ein Mythopoet, der die amerikanische Mythologie aus einem genuin amerikanischen Erzählverständnis heraus reflektierte und ja: auch dekonstruierte. Versteht man Dekonstruktion als «Veränderung im Sinne einer maximalen Intensivierung der Verwandlungen», wie das Derrida in Gesetzeskraft (1990) nahe legt, dann erscheint dieser (zu große) Begriff zumindest annähernd angebracht. Kaum jemand hat es verstanden, die genreimmanente, produktive Kraft der Wiederholung und Variation derart zur Geltung zu bringen, wie Eastwood. Und Wiederholungen produzieren immer auch Singularitäten, Einzigartigkeiten. Wenn Stanley Cavell in The World Viewed (1971/79) feststellt, dass ein Leinwandtypus sich nicht über Ähnlichkeiten mit «anderen Vertretern dieses Typus», sondern über «seine auffallende Gesondertheit von den anderen» konturiert, dann hat Eastwood eine Serie von Genre-Individualitäten geschaffen. Vielleicht kommt Eastwood bei seinen höchst ökonomischen Dreharbeiten nur deshalb ohne second takes aus –  zumindest wir ihm das nachgesagt – , weil er sich die second takes für den nächsten Film aufhebt.

Gran Torino ist die nachträgliche Einholung eines Versäumnisses und gleichzeitig eine Bestätigung dessen, was bei Eastwood immer schon vorgezeichnet lag, erahnbar war oder zwischendurch aufblitzte. Es wäre eine allzu klare Konstruktion, Eastwoods Filmographie als Entwicklung vom Reaktionär zum altersmilden Liberalen zu lesen. Vielmehr haben wir es von Anfang an und immer noch mit einem Tummelplatz diametraler Tendenzen zu tun, die sich ständig neu konstellier(t)en. Eastwoods Werk ist voller Brüche und (Dis-)Kontinuitäten, voller Vorgriffe und Rückfälle, voller Aufschübe und Nachträglichkeiten, voller Insistenzen, Divergenzen und Konvergenzen.

 

The Outlaw Josey Wales

© Warner Bros.

 

Schon in den 70er Jahren findet sich humanistische Filme wie The Outlaw Josey Wales (1976), Eastwoods Version von Easy Rider: ein epischer Bürgerkriegsfilm – mit Vietnam als implizitem Anspielsystem –, der den Westerner einen Menschwerdungsprozess durchleben und ihn die «erste Hippie-Kommune des Wilden Westens» (F. Schnelle) gründen lässt. Am Ende steht eine paradiesische Pionier-Sozietät, bestehend aus einem alten Mexikaner, einer Indianerin und einer Salon-Hure.

Auch die Thematisierung von schwächelnden oder kaputten Körpern setzt nicht erst mit Unforgiven oder Million Dollar Baby ein. Erinnert sei an den Blut hustenden Country Sänger Red Stovall, den Honkytonk Man (1982), der mit seinem Neffen – gespielt von Eastwoods Sohn Kyle – einem letzten Ziel nachfährt: dem Auftritt in der legendären Grand Ole Opry in Nashville. Am Ende dieser John  Fordesquen, US-proletarischen Ballade über (Bordell-)Initiationen ins Leben und vorlaufenden Entschlossenheiten zum Tod findet sich eine transgenerationelle Übertragung: diesmal keine Trauma-Übertragung, wie etwa in Unforgiven, sondern die Übertragung eines Traums, versinnbildlicht in der Country-Gitarre.

Mit Gran Torino wird aus der Gitarre ein Ford und aus der 44er Magnum eine zur Waffe geformte Hand. Dirty Harry bekennt sich zum Taxi Driver (vielleicht Eastwoods Entschuldigung dafür, Scorsese einmal den Regie-Oscar weggeschnappt zu haben). Die Sprache der Gewalt ist geblieben, jedoch als Farce und pantomimische Geste, die eine Tat simuliert, die sich selbst überlebt hat. Gran Torino ist das letzte Kapitel einer jahrzehntelangen Erkundung der Gewalt, und es ist Eastwoods komplexestes wie ironischstes Kapitel geworden. Versteht man Kritik – in Kant’scher und auch Benjamin’scher Nachfolge – als Urteilsfindung, Abwägung und Exploration, dann kann von einer Eastwood’schen Kritik der Gewalt gesprochen werden, und die gilt es erst zu schreiben.

Eastwoods Filme sind getragen von einer alles durchdringenden Skepsis gegenüber den waltenden Gewalten und der Integrität der Rechtssprechung. In dieser Hinsicht ist er dem Western-Genre bis heute hinauf verhaftet geblieben. «Wenn jemand gegen das System ist, dann bin ich es, aber solange nichts besseres nachkommt, werde ich es verteidigen», gesteht Callahan (sinngemäß wiedergegeben) in Magnum Force (1973), dem zweiten Teil der Dirty Harry-Serie.  Während jedoch Callahan – trotz Verabschiedung des Cop-Zeichens am Schluss des ersten Teils – die Ausgeburt eines Amok laufenden Gesetzes bleibt, beginnen sich die Individualisten in Eastwoods Alterswerk in zunehmendem Maße den Funktionsmechanismen der Gesellschaft zu verweigern. Der Entschluss des Boxtrainers in Million Dollar Baby Maggie aktive Sterbehilfe zu leisten, ist in der Logik des Films zwar sehr problematisch, schließlich schwingt sich Frankie zur Bio-Macht über Leben und Tod von Maggie auf (wie dies übrigens, ganz anders perspektiviert, auch Albert Finney in Lumets großartigem Before the Devils Knows You're Dead tun wird, wenn er seinem Sohn die Lebensberechtigung entzieht, genauer: den Herzschlag nimmt), gleichzeitig allerdings richtet sich Eastwoods Film gegen die Prinzipien von Staat und Kirche und brachte ihm vehemente Kritik von amerikanischen Rechten ein.

Immer wieder verhandeln Eastwoods Filme die Frage nach dem Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit. Ist das Recht eine gerechtfertigte Gewalt? Kann es eine gerechte Gewalt und ein gerechtes Recht überhaupt geben? Agiert das Recht im Namen der Gerechtigkeit oder im Namen der Selbsterhaltung? Hat das Recht das Recht, sich mit Gewalt geltend zu machen? Es geht um Paradoxien der Macht und der (Selbst-)Ermächtigung, um Fragen nach der Angemessenheit von Gewalt und der Gerechtigkeit bzw. Gerechtfertigtheit (Wahrheit) von Entscheidungen, Setzungen. Die Gewalt nistet sich bei Eastwood wie eine «gespenstische Erscheinung» ein, wie eine «Gestalt ohne Gestalt» (Derrida), ein Fremder ohne Namen, unfassbar und heimsuchend.

Ohne Zweifel sind Eastwoods Stellungnahmen zur Todesstrafe mehr als fragwürdig, und True Crime (1999) ist nur so lange ein Statment gegen die Todesstrafe, so lange es Unschuldige trifft, doch der analytische Scharfsinn, mit dem der Film diese Thematik verhandelt, sucht im Genrekontext seinesgleichen. Was auf den ersten Blick wie ein konventioneller Last-Minute-Rescue-Showdown in D.W. Griffith’scher Tradition wirkt, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Analyse der Wahnlogik eines Systems. Indem Eastwood mittels Cross Cutting Verfolgungsjagd und Vollzug der Hinrichtung des unschuldig verurteilten Beachum eng führt, also ein «Emplotment» (H. White)  des Strafvollzugs betreibt, entlarvt er den Plot, der dem Vollzug der Todesstrafe, insbesondere jener mittels letaler Injektion, zugrunde liegt.

Sequenz I: Betäubung durch Natriumthiopental; Sequenz II: Lähmung der Muskeln, des Zwerchfells und der Lunge durch Pancuroniumbromid; Sequenz III: Herbeiführung des Herzstillstands durch Kaliumchlorid. Sequenz IV: Feststellung des Todes. Hinzu kommt das Telefon, das Warten auf die Begnadigung, der Vorhang, und, und, und. Wenn es die Todesstrafe auch gibt, «um ein Bedürfnis nach wahren Geschichten zu erfüllen» (H. Schifferle), dann steht die Zerdehnung der Hinrichtungsprozedur im Dienste dieser Wahrheitspraxis. Die Bestätigung der Wahrheit wird hinausgezögert, um sie dann umso mehr zu besiegeln. Vielleicht resultiert die rationale Kälte und Unerbittlichkeit, mit der Eastwood Hinrichtungen inszeniert, wie auch zuletzt in The Changeling (2008), aus seiner wertkonservativen Haltung, vielleicht aber auch daraus, dass es im Herzen des Rechts bei Eastwood immer auch eine «Nacht des Nicht-Wissens und der Nicht-Regelung» (Derrida) gibt. Die Gesetzeskraft ruht, wenn schon nicht auf mystischem, dann zumindest auf morschem und verdorbenem Grund.

Hinzu kommt, dass sich Eastwoods Figuren niemals in einer metaphysischen Ordnung aufgehoben wissen dürfen. Walt Kowalskis Wertorientierung in Gran Torino ist die eines säkularisierten Protestanten, der weder die Autorität der Kirche noch die Entlastung durch Bußübung anerkennt. «I’m not a hero... not a good man... I’ve done horrible things, but things I live with.» Es geht um Verantwortung für das eigene Tun, um Ablehnung eines prüfenden Gottes und um den Wert, die Bewährung der Individualität gegenüber anderen Individualitäten (oder Sozietäten). «Wenn wir die Auffassung vertreten, dass der Tod zum Leben gehört, und ich vertrete sie, so liegt mir viel daran, den Tod mit ebenso großer Verantwortung zu behandeln wie das Leben. Und dies kann nur heißen: Auch hier lege ich, mit aller Demut, die Verantwortung nicht in die Hände eines Gottes, welcher Gestalt er auch immer sei. Sondern ich entscheide. Und das ist keine kalte Abwägung...», so Eastwood jüngst in einem Interview.

Kowalski wartet nicht darauf, von Gott einen Mercedes Benz geschenkt zu bekommen, sondern hat sich seinen Ford selbst zusammengeschweißt. Father Janovich (Christopher Carley) bekommt von Kowalski bei der Beichte nur Lächerlichkeiten zu hören – «I didn’t pay the taxes, it’s the same as stealing.» Das wahre Eingeständnis der Gewaltverbrechen findet zwischen Walt und dem jungen Thao (Bee Vang) statt, kurz vor jenem Showdown, der nicht hält, was sich der nach Vorbildern gierende Thao davon verspricht. Es handelt sich um dieselbe strukturelle Anordnung wie im Beichtstuhl: zwei Personen, durch ein (Keller-)Gitter getrennt.

Auch die Staatsgewalt spielt in Gran Torino, wie so oft bei Eastwood, eine marginale, lächerliche Rolle. «We didn’t call the police in Korea» (Kowalski). Die Gangmitglieder werden nicht etwa deshalb der Polizeigewalt und der Gerichtsbarkeit überantwortet, weil Walt plötzlich an die Gerechtigkeit der Gesetzeskraft glaubt, sondern weil er darin und durch seinen eigenen, indirekten Selbstmord die einzige Möglichkeit sieht, die Individualrechte der asiatischen Familie zu schützen. Immer noch, wie in Dirty Harry, gilt der Satz, dass wir im schlechtesten aller möglichen Systeme leben, doch Dirty Harry hat mittlerweile die Ironie und den Verzicht auf Selbstjustiz gelernt.

 

The Ox-Bow Incident

© 20th Century Fox

 

Institutionalisierte Justiz und Selbst-Justiz sind bei Eastwood immer zwei Seiten einer verrosteten Medaille. Eastwoods erklärter Lieblingswestern ist The Ox-Bow Incident (1942), ein humanistisches Drama gegen den Lynchmord. Der Film kann als Schlüssel zum Verständnis des Subtextes zahlreicher Eastwood-Filme betrachtet werden, die immer wieder (Selbst-)Justizirrtümer zum Thema haben: Butch Haynes (Kevin Costner), der flüchtige Kriminelle aus Perfect World (1993), findet im Gefängnis nicht Schutz vor seinen desolaten Familienverhältnissen, sondern nur weitere Gewalt. In dem Politthriller Absolute Power (1997) begeht der Präsident der Vereinigten Staaten – gespielt von Gene Hackman – einen Sexualmord. Gelöst wird der Fall nur hinter den Kulissen, vor den Kulissen siegt die Unwahrheit.

In Midnight in the Garden of Good and Evil (1997), einem Mystery-Thriller voller Skurrilitäten, der mit Südstaaten-Klischees (Hitze, Sinnlichkeit, Voodoo-Zauber) spielt, ohne diese zu reproduzieren, findet die Thematisierung des öffentlichen Desinteresses an «Aufklärung» eine Fortsetzung. Der Urteilsspruch, zu dem das Gericht nach dem mysteriösen Unfall in der Villa des neureichen Jim Williams (Kevin Spacey) kommt, entspringt reinen Vermutungen. Nur die Toten wissen, was wirklich passiert ist, und sie fordern auch ihr Recht. «To understand the living, you’ve got to commune with the dead.» Am offensichtlichsten scheint Mystic River (2003), Eastwoods bislang düsterstes Gesellschaftsporträt, Bezug auf die Selbstjustiz-Kritik von The Ox-Bow Incident zu nehmen: Jimmy (Sean Penn) richtet seinen ehemaligen Jugendfreund Dave (Tim Robbins) am Flussufer des Mystic River für einen Mord hin, den dieser nie begangen hat. «Admit what you did and I’ll give you your life», dies die paradoxe Vorgehensweise eines Selbstjustizlers, der seinem Opfer keinen Ausweg mehr lässt.

Gran Torino endet weniger mit einer Geste der Vergebung – die Taten, Kriegsverbrechen bleiben unforgiven –, als mit einer Geste des Gewaltverzichts und einer Aufhebung der Gewalt in Ironie. Dirty Harry hat seinen misanthropischen Zynismus in Selbstironie transformiert, als einzig effektive Waffe gegen die Metastasen der Gewalt. Gleichzeitig ist Gran Torino mehr als eine bloße Revision des Zur-Welt-Seins oder auch Gegen-die-Welt-Seins von Harry Callahan. Der Film ist eine Parodie, Variation und Re-Konfiguration sämtlicher Figuren, Konstellierungen und Motivbündel, die Eastwood bislang entwickelt und immer wieder weiterentwickelt hat. Wir finden den Hass auf die Institution Familie, vor allem auch auf die eigene Familie, und die Sehnsucht nach einer (hier: asiatischen) Ersatzfamilie; eine Sehnsucht, wie wir sie aus Space Cowboys (2000), Million Dollar Baby, Bridges of Madison County (1995) und Bronco Billy kennen. In Letzterem geht es um einen Versuch, den Westernmythos im Zirkusmilieu mit einer Zirkusfamilie zu restaurieren. Die Hühnerschlachtung im Garten der Hmong-Community legt eine Spur zu den Vodoo-Kulten aus Midnight in the Garden of Good and Evil und zu Eastwoods Vorliebe für jene spezifische Tradition des Unheimlichen und des Gothic, die sich in den amerikanischen Südstaaten herausgebildet hat. Darüber hinaus ist es eine Hühnerfarm, die in The Changeling zum Ort der Kinderschlachtung wird.

Mit den wiederkehrenden Speise- und Blumenschenkungen der asiatischen Nachbarn entwickelt Eastwood ein Leitmotiv, wie es sich auch in seiner persönlichsten Arbeit, dem einfühlsamen Porträt der Bebop-Legende Charlie «Bird» Parker findet. So wie das zu Boden gleitende Schlagzeug-Becken dort zur Lebens- und Todesmetapher wird, so wird auch Walt mit den Gaben seiner Nachbarn gleichermaßen verlebendigt wie – schon vor Ableben – zu Grabe getragen. My Home is my mausoleum. Eastwoods Figuren sind immer auch Vampire, die in dunklen Zimmern hausen, innerlich tot, er-graut sind, gleichsam sich selbst überlebt haben und einen Weg suchen, wieder ins Leben zurück- und aus dem Ausnahmezustand herauszufinden. «Dad's still living in the 50s», sagt der an Dieter Bohlen erinnernde, Toyota fahrende Sohn Walts. Es geht um Untote des Krieges, die aus der Zeit gekommen sind. Nicht ohne Grund hat Eastwood mit High Plains Drifter (1973) und Pale Rider (1983) das Genre des Gespensterwesterns entscheidend ausdifferenziert. In Blood Work (2002) ist es ausgerechnet das Herz eines psychopathischen Killers, über das der FBI-Profiler Terry McCaleb ins Leben zurückfindet. «Alter Jäger, frisches Herz», hat Filmkritiker Lukas Maurer einmal sehr treffend geschrieben.

Der Weg von Walt Kowalski, dem Kriegsheimkehrer, zurück ins Leben vollzieht sich über die Ironie und den ironischen Blick der Anderen – vor allem der Jugend – auf seine hasserfüllten Sprechakte. Wenn Eastwoods Filme den Krieg nicht direkt thematisieren  - wie etwa Heartbreak Ridge (1986) oder das Kriegs-Dyptichon Flags of our Fathers / Letters from Iwo Jima (2006) –, dann thematisieren sie ihn indirekt, über Heimkehrer und Männer mit gewalthaltiger Vergangenheit; wie z.B. über Bill Munny, den Schweinsfarmer, Gunfighter und versteckten (Golf-)Kriegsheimkehrer in Unforgiven, der am Ende aller Dinge angekommen ist. Anders als Kowalski, der noch Visionen und Träume entwickelt, hat Bill Munny außer dem Grauen, das aus seinen Augen schaut, nichts mehr zu hinterlassen.

Auch Million Dollar Baby verhandelt im Grunde einen Ausnahmezustand – einen von Lichtkegeln herausgeschnittenen, abgeschlossenen Ring – und die Frage, wie Gewalt und (Weiter-)Leben in Beziehung stehen. «Always protect yourself», ist die elementare Lektion des Boxtrainers Frankie für die 31-jährige Maggie, die ihre Gegnerinnen mit dem Kampfgeist einer White-Trash-Frau sekundenschnell k.o. schlägt. «Always protect yourself» ist auch die Antwort eines Mannes, der in der Gewalt lebt, keine andere Sprache kennt – wie Tom Highway in Heartbrak Ridge –, diese Sprache jedoch zu verachten beginnt.

 

Gran Torino

© Warner Bros.

 

Gran Torino findet für ein ähnliches Dilemma eine andere Lösung. Es wäre zu einfach, in dem Film die Verhandlung der Verwandlung eines Rassisten in einen Ex-Rassisten zu sehen. Auch am Ende bleibt Kowalski Rassist, oder sagen wir: ein Separatist und Anti-Assimilationist, der es am liebsten sieht, wenn die Hmong-Community unter sich bleibt, zueinander hält, und den Gangmitgliedern in erster Linie den Vorwurf macht, ihr eigen Fleisch und Blut vergewaltigt zu haben. «You raped one of your family.» Was der Film jedoch höchst komplex und vielschichtig verhandelt, ist die Frage, wie sich ein Gewaltverzicht und die Öffnung zum Anderen aus einer rassistischen Logik darstellen könnte.

Schon mit dem unterschätzten, oder zumindest spannend gescheitertem Heartbreak Ridge versuchte sich Eastwood darin, Logiken dazu zu bringen, über sich selbst zu stolpern: «Die europäische Kritik hasste schon immer eine bestimmte Art von US-Militärfilm, in dem die Armee aus sich heraus hinterfragt statt mit der Rechthaber-Ideologiekeule in Grund und Boden gehämmert wird – da hatte Heartbreak Ridge von Anfang an keine Chance, auch wenn er in der Feingeistigkeit, mit der die perverse Widersprüchlichkeit der Armee sichtbar macht – Zerstörung aller Individualität zwecks Verteidigung westlicher Individualitätsideale – zum Besten und Reifsten in Eastwoods Schaffen gehört», hat Olaf Möller einmal geschrieben.

Kowalski besitzt auch am Schluss keine andere Sprache als seine zur Waffe geformte Hand, doch diese Geste exponiert – zum ersten Mal bei Eastwood in dieser Form – die Lächerlichkeit der Gewalt. Zwischen verzweifeltem Moralismus und misanthropischem Zynismus findet Walt Kowalski den ironisch gebrochenen Pathos (als einzig gerechtfertigten Pathos überhaupt). Es sollte nicht vergessen werden, dass Gran Torino ein Lehrstück in Sachen romantischer, doppelbödiger Ironie ist, die den (Genre-)Pathosformeln – aller Eastwood-Filme – retroaktiv den Boden unter den Füßen wegzieht. Eastwood geht sogar so weit, bestimmte Einstellungen und Perspektiven u.a. aus Unforgiven oder Dirty Harry genauestens wieder aufzugreifen und zu ironisieren.

Gran Torino ist die Rückkehr, Einkehr des Fremden ohne Namen in eine Sozietät, vielleicht in die paradiesische Hippie-Farm aus The Outlaw Josey Wales, und ein Bekenntnis zur Verantwortung für eine Sozietät.  Hat sich Hawk Hawkins (Tommy Lee Jones) zu den Klängen von Sinatras Fly me to the Moon in Space Cowboys noch auf den Mond zurückgezogen, um zu sterben und auf den lächerlichen, kleinen Erdball hinab zu schauen, so ist in Gran Torino der Einzelgänger bereit, sein Einzelgängertum in den Dienst zwar nicht der Gesellschaft, aber einer Community zu stellen.

Möglicherweise ist Gran Torino Eastwoods letzter Auftritt vor der Kamera – oder zumindest sein letzter Auftritt in der Badewanne –, doch Eastwood hat auch hier einen doppelten Boden eingebaut. Er hat sich vor der Kamera zu Grabe getragen, um sich selbst als Regisseur hinter der Kamera zu überleben, vielleicht mit dem leisen, ironischen Lächeln eines abgebrühten Pragmatikers, der weiß, dass er der letzte Repräsentant des klassischen amerikanischen Erzählkinos ist, dem sogar Godard einen Film gewidmet hat.

Gran Torino ist Eastwoods erster Film der Post-Bush-Ära, The Changeling zählt nur mit vielen Abstrichen dazu. «Wir haben in Amerika in mentaler Hinsicht einen weiten Weg vor uns. Ich denke, dass Obama da an einem richtigen Punkt ansetzt, wenn er den Amerikanern wieder Mut macht, an sich selbst zu glauben. Die Leute sind misstrauisch geworden. Schauen Sie sich Walt Kowalski an!» (Eastwood) Gerade dreht Eastwood The Human Factor, einen Film über Nelson Mandela und dem Rugby Finale 1995. Wir sind gespannt. Eastwood hat sich mit seiner Produktionsfirma Malpaso ausdrücklich die Möglichkeit eingeräumt, keine kontinuierlichen Fortschritte machen zu müssen, sondern immer wieder Fehltritte machen zu dürfen. Das macht ihn so unberechenbar, so schillernd, so widersprüchlich, mindestens jedoch: so kritikwürdig.  «Ich schaue nicht zurück. Wie gesagt» (Eastwood)

 

Engine humms and bitter dreams grow,
heart locked in a Gran Torino
it beats a lonely rhythm all night long…

 

(für Elisabeth)