10. September 2014
Mühe der Ebenen Filmhinweis für Berlin: Gamer von Oleg Sentsov
Was die Annexion der Krim durch Russland konkret bedeutet, wird an dem Fall von Oleg Sentsov deutlich: Ein Filmemacher, der den Maidan unterstützt hatte, und der im Mai dieses Jahres in Simferopol verhaftet wurde. Er wurde nach Moskau gebraucht, wo ihm ein Prozess gemacht werden soll – von einem Staat, dessen Bürger er nicht ist und nicht sein will. Es gibt inzwischen zahlreiche Solidaritätserklärungen und Bemühungen aller Ort, ihm zu helfen. Im Kino in der Brotfabrik wird am Donnerstag sein Film Gamer gezeigt. Er ist nun auch ein Dokument der Erinnerung an eine prekäre Normalität, bevor durch die Ereignisse des letzten Jahres die Geschichte der Vertreibungen und Okkupationen in Europa wieder von vorn begann.
Sentsov erzählt in Gamer, der 2011 in der Ukraine ins Kino kam und international anscheinend nur von zwei Festivals in Mazedonien und Japan wahrgenommen wurde, von einem Jungen namens Alexej Kosov, genannt Koss. Er ist ein Ass bei dem Computerspiel Quake, ein Spiel, das auch bei Contests gespielt wird. Fünf bis sechs Stunden pro Tag wird trainiert, dazu gibt es Snickers, Cola und Bier. Wenn Alex spielt, sammeln sich Scharen von halbwüchsigen Kiebitzen hinter seinem Schirm, an den er die eigene Tastatur anschließt, die er von zu Hause von den Club mitbringt.
Dass die Schule darunter leidet, ist klar, und seine Mutter macht sich auch Sorgen um ihn. Sie hat wohl schlechte Erfahrungen gemacht: «Dein Vater hat auch immer viel versprochen.» (Ein Satz übrigens, dessen Implikation für das Geschlechterverhältnis in der Ukraine sich für das ganze Nationalkino verallgemeinern lässt.)
Sentsov erzählt lose, die Jahreszeiten kommen und gehen, vieles bleibt Andeutung am Rande, zum Beispiel das schwere Auto, in das Katya steigt, eine Schulfreundin von Alex, die ihn offensichtlich mag – er aber bleibt hoffnungslos Nerd, sie trägt ihre Schönheit mit reicheren Männern zu Markte. Der ganze Mittelteil von Gamer ist semidokumentarisch auf eine unbekümmerte Weise, gefilmt auf großen Conventions zum Beispiel in Los Angeles, wo Alex antritt – am anderen Ende einer Reise, die auf einem ukrainischen Provinzflughafen so richtig postsowjetisch beginnt.
Der Held bleibt bis zu einem gewissen Grad ein Rätsel. Was treibt ihn um? Wie versteht er sich selbst? Er macht jedes Mal eine Kerbe in seine Maus, wenn er etwas gewinnt, aber kann man ein Leben darauf aufbauen, dass einen Kids um ein Autogramm auf ihr Mousepad bitten?
Der Abspann deutet an, dass Gamer aus einer lebendigen Community heraus entstanden ist, dass hier viele Jugendliche so ein bisschen sich selbst spielen, eine Generation ohne große Perspektive. Ciprian David, ein befreundeter Cinephiler, der selbst Gamer ist, war mit der Darstellung der Spiele im Film nicht so zufrieden. Ich musste an Truffauts Les 400 coups denken, wegen der Haarschnitte und vieler anderer Kleinigkeiten, die einen Moment in der Geschichte festhalten. An die Stelle des Kinos ist die Welt der Spiele getreten. Dort wird noch deutlicher, was der Entwicklungsroman schon immer wusste: Ebenen überspringen gilt nicht. Sentsov zeigt die Mühen der Ebenen, aber auch die Unbeschwertheit der Jugend, auf eine sehr schöne, fragile Weise.
Das Kino in der Brotfabrik zeigt Gamer am 11. September um 19.00