spielfilm

16. November 2009

Option Brocka Ein Gespräch über Lino Brocka, dem im Rahmen der diesjährigen Viennale eine kleine Retrospektive gewidmet war.

Von Lukas Foerster und Nikolaus Perneczky

 

«...findet sich der Filmemacher der Dritten Welt oftmals einer analphabetischen Öffentlichkeit gegenüber, die von amerikanischen, ägyptischen oder indischen Serien sowie von Karatefilmen gesättigt ist; gerade da muss er hindurch, und gerade diesen Stoff gilt es zu bearbeiten, um daraus die Elemente eines Volkes zu gewinnen, das noch fehlt (Lino Brocka).»

(Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild, Frankfurt am Main 1991, S. 279)

 

Individuum und Gesellschaft

Nikolaus Perneczky: Schon die Wortwahl ist falsch: Weder Individuen noch Gesellschaft als solche sind bei Brocka anzutreffen, sondern immer Angehörige sehr genau spezifizierter sozialer Gruppen. Es gibt nicht «die» Gesellschaft, zu der sich das abstrakte Subjekt der Ideologie so oder so verhielte, sondern eine Reihe von Modellen gesellschaftlicher Organisation, die fast sämtlich ins Pathologische spielen: Groß- und Kernfamilien, Slums und Villengegenden, dörfliche Gemeinschaften und urbane Zusammenballungen, anarchische Lumpenproletarier und stramme Gewerkschafter, Grundbesitzer, Genossen, Ganoven... Ihnen gegenüber stehen Brockas Protagonisten. Obwohl auch sie zumeist klar im sozialen Nexus verortet sind, sträuben sie sich verzweifelt gegen ihre Zuordnung. 
Brockas Figurenbezogenheit ist nicht (oder nicht ganz) die des klassischen Hollywoodkinos, seine Figuren keine mit individueller Handlungsmächtigkeit ausgestatteten Einzelnen. Aber auch mit jenen fensterlosen Monaden, die das westeuropäische Autorenkino in großer Zahl hervorgebracht hat (z.B. Bertoluccis Partner oder Antonionis La notte), sind Brockas Figuren nicht zu verwechseln, nicht einmal jene Bürgerssöhne und -töchter, in deren Mitte er sich immer wieder begeben musste, um seine Filme finanziert zu bekommen: «Ein Produzent [...] kontaktiert mich und verlangt von mir, dass ich in Zukunft das und das nicht mehr sage, mich nicht mehr beschwere, keine Kritik mehr übe, keine Filme mehr in den Slums drehe, und ich sage: Wunderbar! Also drehe ich ein Jahr lang keine Filme in den Slums, ich bin in die Bourgeoisie aufgestiegen» (Brocka im Gespräch mit Olivier Assayas und Charles Tesson, zitiert nach dem Katalog der Viennale, Wien 2009, S. 260). 
Warum ficht Brocka diese Einschränkung nicht an? Während die neurotische Weltsicht der Charaktere bei Bertolucci und Konsorten den Bildraum durchdringt und gegen jede anders verfasste Wahrnehmung abdichtet, insistiert Brocka auf eine Erkenntnisposition außerhalb der «bürgerlichen Entropie» (Pasolini). Noch in einem so klassisch gestrickten Melodram wie Ina, kapatid, anak stellt er dem Bürgertum im ersten Stock darum die Unterschicht im Erdgeschoss zur Seite. Obwohl deren Stellung marginal bleibt, öffnet sie die Welt der Bourgeoisie auf den Kontinent Brocka, von dem sich die Slums nicht so leicht vertreiben lassen. 
Individuen bei Brocka sind nie Einzelne, höchstens Vereinzelte, deren Verhältnis zum gesellschaftlichen Ganzen selbst da nicht aus dem Blick herausfällt, wo es vollständig gekappt zu sein scheint. In vielen Filmen Brockas, prominent in Bayan ko: Kapit sa patalim, figuriert die philippinische Gewerkschaftsbewegung als Gegenentwurf zum allgemeinen Mangel an Solidarität. Anstatt in dieser alternativen Lebenswelt zu schwelgen, streifen die Filme sie aber nur am Rande, da Brockas Interesse eben jenen gilt, die am Rand stehen; die in einem intuitiven, kreatürlichen Sinn zwar «gut» sind, sich aber nicht zur Selbstorganisation entschließen können. Deshalb finden sich über Brockas Oeuvre verstreut unzählige Variationen der folgenden Szene: Eine Menschenmasse drängt sich durch den Kader, während der Protagonist zusieht, nebenher oder durch sie hindurchschreitet, ohne jemals Anschluss zu finden.


Lukas Foerster: Ich würde schon sagen, dass das Hollywood-Modell des individuell handlungsmächtigen Protagonisten (das ja, zunächst einmal, nicht unvereinbar sein muss mit einem Begriff von kollektiver Handlungsmacht) konstitutiv ist für Brockas Kino. Aber eben nur als Fluchtpunkt, nicht als Aktualität. In den Szenen, die Du beschreibst, wird das deutlich: Es geht nicht darum, dass das Individuum nicht in der Lage ist, in einer Bewegung «aufzugehen», weil es zu sehr aus einer individualistischen Perspektive denkt. Ganz im Gegenteil laufen die Filme ja immer wieder auf Akte der Individuierung heraus, auf Gesten, in denen sich die Protagonisten gegen die Determinierung ihres Schicksals durch Milieu und Tradition zur Wehr und sich selbst als Subjekt setzen. Die selbstbewusste Position des Hollywood-Helden ist aus der Perspektive Brockas in diesem Sinne Grundvoraussetzung für die soziale Revolte, die immer erst nach einem Akt der Selbstentwurzelung (und deshalb auch: erst nach dem Ende der Filme Brockas) stattfinden kann. Sicherlich wird das auch damit zusammenhängen, dass die Zensur eine explizite Darstellung sozialer Revolten verunmöglicht hat. Eher hat es mich überrascht, dass in einem Film wie Maynila: Sa mga kuko ng liwanag, der zur Hochzeit des Martial Law entstand, überhaupt linke Protestmärsche im Bildraum zugelassen sind.
Es ist tatsächlich auffällig, dass viele der eindrücklichsten Brocka-Figuren sich durch eine geradezu bornierte Passivität auszeichnen. Das gilt für Jaguar und den Protagonisten aus Bayan ko: Kapit sa patalim, fast noch mehr gilt es für die beiden Mütter in Ina, kapatid, anak und Stardoom, beides Filme, die nicht zum Kanon des «relevanten Brocka» zählen. Mit versteinerter Miene und abgewandtem Blick sitzen diese Mütter in ihren Stuben und beharren auf dem, was sie für ihr gutes Recht halten, weil Tradition und zugehöriges moralisches Empfinden es so vorschreiben. Immer wieder gibt es dann Szenen, in denen andere Figuren auf diese versteinerten Mütter einreden und versuchen, sie zu aktivieren, ihre Wahrnehmung den sozialen und ökonomischen Realitäten eines Landes zu öffnen, das sich Tradition immer weniger leisten kann. In diesen Szenen figurieren Brockas Filme auch ihre eigene Sprecherposition, die ja nicht die der klassischen sozialrevolutionären Agitation ist, wie man es aus lateinamerikanischen Filmen der Sechziger und Siebziger kennt, sondern die sozusagen einige Ebenen tiefer ansetzt und versucht, das kollektive Bildarsenal um einige entscheidende Positionen zu erweitern.


NP: Du hast sicher recht, dass der Grund für die Randständigkeit von Brockas Protagonisten, für ihre tragische Vereinzelung auch im Wirken der Zensur zu suchen ist, und dass die Befreiungsschläge am Ende seiner (sub)proletarischen Filme auf eine politische Bewusstwerdung verweisen, die Brocka aus Rücksicht auf den Zensor nur als etwas andeuten konnte, dass «nach dem Film» geschieht. Aus anderen Gründen und auf ganz andere Weise als die angesprochenen Agitprop-Kinematografien Lateinamerikas gelangen die Filme Brockas zuletzt doch zu einem vergleichbaren Resultat. Die argentinischen Filmemacher Fernando E. Solanas und Octavio Getino halten die Textur ihres La hora de los hornos radikal offen, indem sie das Publikum fortwährend zur Diskussion des Gesehenen ermutigen. Am Ende steht die Aufforderung, die Passivität des Kinos endlich hinter sich zu lassen und ins aktive Leben einzutauchen. Brocka denkt das Verhältnis von Kino zu Leben anders, kontinuierlicher. Es zählt weniger, was der Zuschauer oder die Zuschauerin unmittelbar nach dem Film tun wird, sondern der Möglichkeitsraum, den das Tun der Leinwandfigur aufgerissen hat. Und der die Leinwand gerade deshalb, weil er auf ihr nicht mehr ausgestaltet werden kann, in Richtung auf das Leben transzendiert.

 

Generisches world building

NP: Brocka bewegt sich souverän durch eine Vielzahl von Genres und Milieus. So unterschiedliche Filme wie Insiang, Ina, kapatid, anak oder Jaguar treten über generische und soziale Grenzziehungen hinweg in eine reziproke Beziehung, die sich am ehesten als Teilhabe an ein und derselben Welt beschreiben lässt. Bei aller Disparität zwischen Melodram und Gangsterfilm, zwischen großbürgerlicher Villa und überbevölkerten Slums, sind die bezeichneten Pole doch stets miteinander vermittelt. Dieses manchmal dicht gewebte, manchmal fadenscheinige Band setzt sich aus geografischen, motivischen, personellen oder auch nur gestischen Charakteristiken zusammen, die in vielen der Filme auftauchen und einander zum Teil so sehr gleichen, dass sie bereits beim Sehen (und nicht erst in der unzuverlässigen Erinnerung daran) nur mit Mühe auseinander zu halten sind. Die verzweifelten Gewaltausbrüche am Ende von Jaguar, Bona und Insiang etwa nähren sich aus derselben Wut und aus demselben tragischen, weil uneinholbaren Willen zur Emanzipation. Auch jene allgegenwärtigen betrunkenen Männer, die am Straßenrand aufgereiht das Treiben von Brockas Figuren kommentieren, kontrastieren oder gar behindern, nehmen ihren angestammten Ort wieder und wieder ein, ohne sich von einem zum anderen Mal merklich zu verändern. Schauspieler wie Phillip Salvador (Jaguar, Bona, Bayan ko: Kapit sa patalim) und Lolita Rodriguez (Ina, kapatid, anak, Tinimbang ka ngunit kulang), die in etlichen Filmen oft in ähnlichen Rollen auftreten und dabei eine Art Mikrostarsystem begründen, tun ein Übriges, den Eindruck einer zusammenhängenden Welt zu befördern. Dadurch werden Randfiguren und Nebenstränge der Handlung in die Lage versetzt, ein virtuelles, auf andere Filme verweisendes und daraus sich speisendes Eigenleben zu entwickeln. Brockafilme schlagen ständig kleine Brücken zum Außerhalb des aktuellen Handlungsraums, die den eigentlichen Plot, so generisch-prägnant der auch sein mag, nachhaltig dezentrieren.


LF: Auffallend ist bei aller Disparität, dass ich bislang noch keinen Brockafilm gesehen habe, der nicht zumindest auch Familienmelodram ist. Die Filme mit männlicher Hauptfigur (Jaguar, Cain at Abel, Bayan ko: Kapit sa patalim) zieht es zwar in Richtung der Männergenres, aber jede dieser Figuren hat Schwester, Mutter oder Verlobte und auch wenn denen nur wenige Szenen im Film gehören, so ist doch schon in diesen wenigen Szenen in nuce das angelegt, was Filme wie Bona oder Insiang ausformulieren. Familie ist bei Brocka konsequent weiblich gedacht, die entscheidende Abwesenheit ist fast immer die des Vaters. Im zweiten Teil des Episodenfilms Tatlo, dalawa, isa wird das gerade in dem Moment deutlich, in dem der Vater – ein Amerikaner, der Mutter und Kind vor Jahren im Stich gelassen hat – doch wieder auftaucht. Die sich durch das gesamte Werk ziehende Kritik der Institution Familie als zentrale Unterdrückungsinstanz ist vielleicht das deutlichste Zeichen für den grundlegend politischen Charakter der Filme Brockas. In einem Land, in dem die (Groß-)Familie das einzige soziale Sicherungssystem darstellt, das außerdem streng katholisch geprägt ist und in dem sich auch der Diktator Ferdinand Marcos und seine Frau Imelda als Vater und Mutter der philippinischen Nation inszenierten, müssen Filme wie Insiang oder Bona um einiges radikaler wirken als man sich das in Mitteleuropa, wo eine bestimmte Form von Kritik am Familiären längst zu den Klischees des bürgerlichen Kunstkinos geronnen ist, vorstellen kann.

 

Kritik des Spektakels?

NP: Obwohl Brocka Genrefilme macht, die sich an ein breites Publikum wenden, und dafür eine zugängliche, «erleichterte» Form wählt, bringen seine Filme immer wieder selbstkritische Episoden hervor (wo diese nicht, wie in Bona oder Stardoom, das Gros der Erzählung ausmachen). Während sie die ästhetische Anlage des Genrekinos unangetastet lassen, thematisieren Brockas Filme ihre eigenen Entstehungsbedingungen ganz direkt – oder indirekt, je nach Standpunkt – als diegetisch verankerte Bildproduktion im Bild. Denkbar weit entfernt von einer Politik der Form also, öffnen sich allerorten die Vorhänge für Strichjungen und Gogo-Tänzerinnen, räkeln sich puppengesichtige Models im Scheinwerferlicht, bedrängen Statisten den Regisseur, sie endlich vor die Kamera treten zu lassen.

LF: Interessant ist an den Handlungssträngen, die sich mit der Unterhaltungsindustrie beschäftigen auch, dass der Traum vom großen Erfolg, vom Durchbruch zum Stardom von den Filmen nie ganz diskreditiert wird. In einer Gesellschaft, in der eben diese Unterhaltungsindustrie für einen Großteil der Bevölkerung auch objektiv eine der wenigen echten sozialen Aufstiegschancen bereit hält, wird A Star Is Born zwangsläufig auf eine andere Art und Weise erzählt. In Jaguar verläuft der Aufstieg Cristys von der Gogo-Tänzerin, als die sie bei ihrem ersten Auftritten noch ganz Blickobjekt ist, zum Filmstar parallel – und in vielem gegenläufig – zur Haupthandlung und sie ist eindeutig als Erfolgsgeschichte gekennzeichnet. Am Ende ist Cristy von Männern unabhängig, Subjekt ihrer eigenen Biografie; es gibt nicht viele Brocka-Figuren, die das von sich behaupten können. Auch in Stardoom wohnt Joeys Durchbruch als Popsänger ein real befreiendes Moment inne (primär die Befreiung von der Mutter, sekundär die von der Heteronormativität), während andererseits sein Scheitern am Ende des Films als eine bloße konventionsgerechte Genregeste der Bestrafung fürs amoralische Sexualleben lesbar bleibt. 
Man könnte noch weiter gehen, wie Du das ja bereits andeutest: Brockas Filme stehen der Kulturindustrie, deren Teil sie selbst sind, zwar oft kritisch gegenüber, aber sie interessieren sich nie für eine Kritik des Spektakels im engeren Sinne, also für eine Demaskierung der Lügen / Ideologie / whatever der dominanten Popkultur. Beispielhaft wiederum Cristy aus Jaguar, eine der interessantesten Figuren bei Brocka: Wenn sie sich für die Fotografen in Posen wirft, die zu ihren realen Lebensumständen in eklatantem Widerspruch stehen, dann wird da kein Trugbild denunziert und zerstört, statt dessen manifestiert sich gerade in diesen Szenen die neue Subjektposition, die sich die ehemalige Nachtclubtänzerin mühsam erkämpft hat. Nicht tritt da ein böser Schein neben / vor ein gutes Sein. Weder ist die Pose «falsch» (sie entspringt einem realen Begehren), noch verunmöglicht das Posieren echte Empathie jenseits der Kameras. Die anschließenden Tränen Cristys für Jaguar bleiben echt.

Die Kritik an der Kulturindustrie, die sich in den Filmen natürlich durchaus artikuliert, heftet sich konsequent an deren materielle Voraussetzungen, nie an die textuelle Produktion: Film- und Fernsehstudios treten als ein weiteres tendenziell korrumpiertes Machtverhältnis neben die Familie, die Arbeitswelt, die kriminellen Organisationen. Filmproduktion erscheint ganz buchstäblich als Akt der Gewalt, wenn Schaulustige und Möchtegernstars nur mühsam von den Dreharbeiten ferngehalten werden können.

 

Fünf für sie, einen für mich

LF: Was diese Reihe für mich noch deutlicher gemacht hat, ist, dass die Aufteilung des Werks in eine Handvoll politisch relevanter Meisterwerke auf der einen und eine Masse rein kommerzieller Ausstoßware auf der anderen Seite als Ausgangshypothese zwar ihre Berechtigung hat (und in mancher Hinsicht sowohl der Eigenwahrnehmung Brockas als auch den Produktionsrealitäten entsprach), dass die Sache sich bei genauerer Betrachtung aber deutlich verkompliziert. Einerseits, weil die Filme auf beiden Seiten dieser Demarkationslinie in stilistischer Hinsicht sehr heterogen sind, andererseits, weil es zahlreiche thematische Kontinuitäten gibt, die sie überschreiten. Zum Beispiel tauchen einzelne Figuren und Figurenkonstellationen aus den «ernsten» Filmen auch in den kommerziellen Arbeiten auf: die Mutter aus Insiang etwa in nur wenig abgewandelter Form in Stardoom und Ina, kapatid, anak, Hilda Koronel nahm wesentliche Aspekte ihrer Titelrolle in Insiang sowohl wiederum in Stardoom als auch in Tatlo, dalawa, isa vorweg. Auch hier gilt, was Du beschreibst: Die Welt Brockas ist eine kontinuierliche und in gewisser Weise sind deshalb in jedem einzelnen Film alle anderen enthalten.
«Fünf für sie, einen für mich» ist natürlich schon deshalb falsch, weil Brocka den einen Film, den ihm die Produzenten zur freien Gestaltung alle paar Jahre zugestehen, um ihn bei Laune zu halten, eben nicht für sich selbst, für die Befriedigung eines filmkünstlerischen Interesses, das sich von den Zwängen des Box Office fernhalten kann, drehte. Brocka war kein Gus van Sant und auch kein Steven Soderbergh. Ganz im Gegenteil war Brocka der Box-Office-Erfolg seiner «eigenen» Filme eben deshalb umso wichtiger, weil sie eben gerade nicht seine eigenen sind, sondern sich einem sozialen Ziel unterordnen. In Christian Blackwoods Dokumentarfilm Signed: Lino Brocka liest der Regisseur zu Beginn fast gelangweilt oder doch jedenfalls in erster Linie pflichtschuldig ein kurzes Statement über seine cinephile Éducation sentimentale vor. Eine solche ist durchaus vorhanden (das merkt man schließlich auch den Filmen an), sie ist aber für Brockas «Meisterwerke» fast noch peripherer als für die kommerziellen Arbeiten.

NP: Brocka ist ein öffentlicher Intellektueller überkommenen Typs, einer, dessen Künstlerpersona sich nicht in der selbstgenügsamen Autorenschaft seiner Filme erschöpft, sondern zu gleichen Teilen aus seinem politischen Engagement, aus der Strahlkraft seines offenen Protests gegen das Marcos-Regime erwächst. Darin ähnelt er Pasolini, der wie Brocka unter bis heute nicht restlos geklärten Umständen ums Leben kam. Ein Gericht schob die Schuld an Pasolinis Ermordung einem jungen Prostituierten zu, dennoch ranken sich um seinen Tod bis heute Theorien einer rechten Verschwörung. Auch Brockas Unfalltod 1991 ist bis heute Gegenstand konspirativer Spekulationen. Ungeachtet ihres Wahrheitsgehalts verdeutlicht die Insistenz solcher Mutmaßungen, welche politische Relevanz die philippinische Öffentlichkeit ihrem renommiertesten Helden bis heute zuschreibt. Zugleich werden heute Stimmen laut, die, gerade weil Brockas Person und Filme sich so restlos und entschieden in den Dienst ihrer Zeitgenossenschaft stellen, zumindest den Filmen ihre überhistorische Bedeutung absprechen wollen. Man kann sich natürlich darüber streiten, ob es jenseits der Historie überhaupt so etwas wie Bedeutung gibt. Was junge philippinische Filmemacher, die solche Einwände vorbringen, aber meinen, hat womöglich doch seine Berechtigung. Raya Martin etwa, dessen Independencia du in deiner Viennale-Korrespondenz mit Recht großes Lob angedeihen lässt, meint: «Er ist wichtig, aber er ist total überholt. Er sagte etwas über seine Zeit, zu seiner Zeit, das machte ihn so brisant. Ich spüre sein Engagement, aber für mich ist er ein Artefakt. Ich bin kein Fan seiner Strukur. Zu kommerziell, zu narrativ.» (Martin im Gespräch mit Lav Diaz, Khavn und Kidlat Tahimik, abgedruckt im Katalog der Viennale, Wien 2009, S. 246). In einem ähnlichen Sinn, wenngleich weniger scharf und von bewundernden Beiworten gerahmt, äußern sich Lav Diaz und Khavn. Was sie mit Brockas Erbe abzuschütteln suchen, ist vor allem die Verpflichtung auf einen bestimmten Adressierungsmodus, den sie nicht länger für angemessen erachten. Für die Proponenten des unabhängigen philippinischen Kinos kann es sich nicht mehr darum handeln, aus der Tradition des Genrekinos die Elemente eines fehlenden Volkes zu gewinnen und assemblieren.

LF: Ich denke, dass die jüngeren Regisseure in erster Linie den Glauben daran verloren haben, dass ein derartiger Adressierungsmodus noch möglich ist. Man muss natürlich die Frage stellen, warum die «Option Brocka" heute zum einen nicht mehr zu bestehen scheint und zum anderen von den jungen Regisseuren auch gar nicht mehr angestrebt wird. Eine mögliche Antwort gibt Khavn in dem bereits zitierten Gespräch: Er sieht Brockas Kino mitsamt seines soziopolitischen Selbstverständnis eng mit einer gesellschaftlichen Konstellation verbunden, in der die Fronten in radikaler Weise geklärt sind, schon allein, weil der Unterdrückungsapparat eindeutig identifizierbare Namen und Gesichter trägt. Heute dagegen, so Khavn, «ist es ambivalenter. Als ein Post-Brocka-Filmemacher erscheinen meine Filme in gewisser Weise reaktionär. Er hatte eine kohärente Agenda, ich habe keine.» In der Tat lässt sich ja auch im lateinamerikanischen Kino beobachten, dass für das klassische Third Cinema personalisierbare Feindbilder konstitutiv waren. Das kann natürlich höchstens ein Teil der Erklärung sein und ein solches Argument müsste sich eigentlich selbst einer ideologischen Kritik unterziehen. Eine ergänzende Hypothese (die aber wirklich nicht mehr ist als eine solche) wäre, dass das Kino auch auf den Philippinen heute nicht mehr dieselbe Stellung einnimmt wie noch in den Achtzigerjahren. Lav Diaz hat, im Gegensatz zu seinen Kollegen, im populären Kino, in der Mainstream-Filmindustrie begonnen und mit Jesus Christ Revolutionary in diesem Kontext mindestens einen Film gedreht, der eine Form der politischen Flektion des Genrekinos (in diesem Fall: des Actionfilms) sucht, die eindeutig auf das Erbe Brockas verweist. Dass er unmittelbar danach angefangen hat, seine acht-, neun-, zehnstündigen Epen zu drehen, deren Addressierungsmodus das absolute Gegenteil zu dem Brockas darstellt, ist sicher kein Zufall. Lav Diaz glaubt nicht mehr an die integrative Kraft des Ortes Kino. Lieber redet er über das politische Potential von Raubkopien, erzählt über den Bauern, der beim Straßenhändler einen Tarkovski-Film ersteht und dadurch seinen Bezug zur Welt verändert. Natürlich weiß Diaz, dass der Bauer höchstwahrscheinlich statt dessen auch weiterhin die Radio-Soaps anhören wird, die in seinen Filmen immer wieder auftauchen. Aber die Idee eines raubkopierten Kunstkinos als subversiver Agent im kollektiven Imaginären verdeutlicht die Position, auf die sich das sozial engagierte Filmschaffen der Gegenwart vielleicht nicht nur auf den Philippinen beschränkt sieht: Es gilt, weiterhin die richtigen Bilder zu produzieren, auch wenn kein unmittelbarer Adressat mehr vorhanden ist. Vielleicht wird irgendwann ein solcher auftauchen. Im Zeitalter der Digitalisierung verschwinden Bilder nicht mehr, sondern sie vervielfältigen sich. Auch, wenn sie das im Fall der Lav-Diaz-Filme nur sehr langsam tun.