3. Juni 2009
Notaufnahme Über Der Tod des Herrn Lazarescu von Cristi Puiu
Der letzte Weg von Dante Remus Lazarescu beginnt an einem frühen Samstagabend mit einem Anruf. Er hat starke Kopfschmerzen. Das Aspirin, das er einnimmt, erbricht er wieder. Dem «Fräulein» von der Rettung trägt er seine Beschwerden vor. «Ich glaube nicht, dass es vom Magen kommt.» Er nennt seine Adresse, und dann wartet er. Herr Lazarescu lebt allein mit drei Katzen in einem Wohnblock in Bukarest. Seine Nachbarn sind angeekelt von dem Gestank, den die Tiere verursachen. Aber sie öffnen ihm bereitwillig die Tür, als er anklopft und um ein Medikament bittet. Sandu versucht, ihm im Stiegenhaus den Schmerz aus dem Kopf zu massieren. Er führt in zurück in die Wohnung, legt ihn auf ein Sofa, und redet ihm gut zu. Herr Lazarescu erbricht Blut. Nun ist es Sandu, der die Rettung anruft. «Er trinkt ein bisschen», hört man ihn eine Frage beantworten, die zur Routine zu gehören scheint. Herr Lazarescu muss plötzlich dringend auf die Toilette. Im Badezimmer finden ihn die Nachbarn auf dem Boden. Gemeinsam warten sie auf die Rettung. «An einem Samstag!»
Der Filmtitel Der Tod des Herrn Lazarescu lässt über das Ende der Geschichte keinen Zweifel. Von Beginn an steht fest, daß Herr Lazarescu sterben wird. Nur der Zeitpunkt ist offen, aber auch darauf gibt es bald deutliche Hinweise. Denn Cristi Puiu erzählt mit minimalen Sprüngen in einer Montage, die nahe an der Realzeit ist. Von Samstagabend bis Sonntagmorgen verläuft diese Fallgeschichte. Herr Lazarescu wird im Verlauf dieser Nacht immer mehr zu einem Objekt, zu einer «armen Seele», abhängig von der Gnade, die ihm die Institutionen gewähren. Während er anfangs noch selbst Mutmaßungen anstellt über seinen Zustand, gewinnen die Ärzte allmählich Aufschluß über seine Krankheiten. Der 63jährige Mann hat ein akutes und ein tödliches Syndrom, er leidet unter einem Bluterguss im Gehirn und unter Leberkrebs. Er selbst führt seine Probleme auf eine Operation zurück, die er vor 14 Jahren hatte, als ein Magengeschwür behandelt werden musste. Ein Zusammenhang mit seinem Alkoholmissbrauch liegt nahe.
Der Tod des Herrn Lazarescu hat eine Vorgeschichte, eine Anamnese, die weitgehend im Dunkeln bleibt. Cristi Puiu unterlässt es, das einzuholen, was Heidegger das «Erreichen der Gänze des Daseins im Tode» genannt, und was Pasolini als «Synthese des abgelaufenen Lebens» mit der Montage eines Films verglichen hat. Diesen anderen «Film» über Dante Remus Lazarescu deutet Puiu nur an. Die wenigen Informationen, die er über die Lebensumstände eines Mannes preisgibt, der während des 2. Weltkriegs geboren wurde und den größten Teil seines Lebens im kommunistischen Rumänien unter Ceauscescu zugebracht hat, fügen sich nicht zu einer Biographie. Er hat eine ältere Schwester, die mit ihrem zweiten Ehemann ebenfalls in Bukarest lebt. Zudem gibt es eine Tochter namens Bianca, die in Toronto lebt. Die Verwahrlosung des Herrn Lazarescu erstaunt seine Nachbarn aus einem bestimmten Grund: «Wenn schon Intellektuelle so leben, was erwartet man dann von uns?» Zweifellos bezieht sich dieser Sprachgebrauch auf die Zeit vor 1989. Es scheint, als wäre Herr Lazarescu ein Relikt aus einer anderen Ordnung.
Sein Tod ist in diesem Film zugleich vollständig durch Zufälle bestimmt (weil Möglichkeiten eines Aufschubs bestehen), und unausweichlich (weil die Krankheit unheilbar ist). Der Arzt, der die Computertomographie vornimmt und auswertet, bringt den Sachverhalt auf den Punkt: «Wir müssen ihm das Leben retten, damit er daheim an Krebs sterben kann.» Wie alle anderen Figuren im Film hat dieser Arzt einen individuellen «Stil». Er erscheint nicht als Person mit eigener Geschichte, er ist hier nur aufgrund seiner Funktion, und Puiu interessiert nur, wie er diese Aufgabe interpretiert. Der Tod des Herrn Lazarescu wird dadurch zu einer Meditation über das Funktionieren moderner Gesellschaften, in denen persönliche durch institutionelle Zuständigkeiten ersetzt werden. Der Kommunismus hatte das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft geschichtsphilosophisch bestimmt, praktisch jedoch häufig bürokratisch verhandelt. In der Transformationsordnung nach 1989 müssen die Zuständigkeiten neu geklärt werden.
Der Zyklus Sechs Geschichten aus den Vororten von Bukarest, den Der Tod des Herrn Lazarescu eröffnet, zielt auf die Darstellung dieses Übergangs als «moralische Krise» (in Anlehnung an den Zyklus Sechs moralische Geschichten von Eric Rohmer). Der Begriff Moral ist ein anderes Wort für den «Stil», in dem die Menschen ihre Rollen ausfüllen. Je weniger funktional sie ihre Aufgabe auffassen, desto moralischer wären sie in einem klassischen Verständnis. Dem stehen die Erfahrungen der Moderne gegenüber, dass man sich für eine Aufgabe nicht verausgaben soll, weil es um allgemeine Effizienz geht. Niemand muss sich aufopfern, wie es das christliche Ethos und die kommunistische Ideologie gleichermaßen noch vorgesehen hatten.
In einem ursprünglichen Konzept für den Film standen die Sanitäter im Mittelpunkt. Ihnen obliegt der Transport, nicht die Therapie. Die Frage, die wiederholt an die Sanitäterin gestellt wird («Hat er jemand?»), bekommt allmählich solches Gewicht, dass diese Frau Mioara, die mit Herrn Lazarescu von Krankenhaus zu Krankenhaus fährt, immer mehr auf dessen Seite wechselt. Sie ist nun nicht mehr die Vermittlerin zwischen privater Existenz und öffentlichem Fall, sie tritt vielmehr unwillkürlich als Anwältin eines Patienten auf, der selbst nicht mehr sprechen kann. Dass ihre erste, spontane Diagnose sich als Irrtum erweist, ist nur eine der vielen Ironien, mit denen Puiu arbeitet. Er misst das System an einem Fall. Herr Lazarescu ist die Vergleichsgröße – sein Zustand, der sich ständig verschlechtert, sollte eigentlich den Ausschlag für seine Behandlung geben.
Es sind aber die äußeren Umstände, die sich als wichtiger erweisen. Dieser triviale Sachverhalt bekommt in Der Tod des Herrn Lazarescu ein besonderes Gewicht, weil Puiu die anderen Patienten dieser Nacht nur in kurzen, andeutenden Einstellungen zeigt. Ein schwerer Verkehrsunfall mit zwanzig Toten und zahlreichen Verletzten beansprucht das gesamte notfallmedizinische System der Stadt: St. Spiridon, Universität, Filaret, Bagdasar heißen die Krankenhäuser. Puiu zeigt keine Situation, in der unmittelbar zwischen zwei Handlungen abgewogen werden muss. Das wäre die Perspektive einer dramatischen Fernsehserie, in der das medizinische Personal im Mittelpunkt steht und versucht, die jeweils neuen Herausforderungen zuerst zu reihen und dann zu meistern. Puiu zeigt jeweils nur die Auswirkungen auf diesen alltäglichen Fall eines kranken, alten Mannes, der nach Alkohol riecht, sich in die Hose macht und verwirrt ist.
Herr Lazarescu bringt eine andere Zeitdimension ins Spiel. Er hat keinen Unfall gehabt. Seine Krankheit ist mit seinem Leben identisch. Dass er nach Alkohol riecht, scheint der Beweis dafür zu sein. Er ist selbst dafür verantwortlich, dass er jetzt nicht mehr die Verantwortung für sich übernehmen kann. Der Arzt, der ihn in Filaret operieren soll, sich aber als unwillig erweist, versucht, Herrn Lazaresczu zu einer Unterschrift unter einen Revers zu bewegen. Er besteht darauf, dass der Patient sich als Subjekt zu erkennen gibt. Der Mann ist zu diesem Zeitpunkt schon zu geschwächt und angegriffen, um noch bewusst zu reagieren. Er bedarf dringend der Behandlung, weil er nicht mehr in der Lage ist, deren Implikationen abzuschätzen.
Diese Paradoxie ist die Zuspitzung dessen, was Puiu in Der Tod des Herrn Lazarescu über die Medizin als System zu sagen hat. In dem Dokumentarfilm Near Death (1989) von Frederick Wiseman wird die Behandlung von todkranken Patienten zu einer Angelegenheit permanenter Verhandlung. Die Ärzte und das Pflegepersonal untereinander und im Gespräch mit den Angehörigen legen jeweils neu fest, welche Behandlung sinnvoll ist und welche Maßnahmen nur einen Zustand verlängern würden, der als Grenzbereich zwischen Leben und Tod erscheint. Die enorme Geduld, mit der die Ärzte bei Wiseman auf Patienten einreden, die kaum mehr in der Lage sind, zu verstehen, geschweige denn, sich mitzuteilen, ist keine moralische Qualität, sondern professionelles Ethos.
Der Tod des Herrn Lazarescu setzt den Akzent anders. Während noch der Zugang zur medizinischen Versorgung verhandelt wird, wird schon an dem Patienten gearbeitet. Er ist zugleich drinnen und draußen, er bekommt eine Diagnose, aber keine Behandlung. Er dämmert allmählich in die Nacht, wie der medizinische Betrieb auch, in dem sich am frühen Morgen eine unerwartete Intimität einstellt. Im Bagdasar-Krankenhaus findet Herr Lazarescu die Aufmerksamkeit und die Behandlung, die ihm gebührt. Das Personal verfährt hier auf eine beinahe zärtliche Weise mit dem nun schon bewusstlosen Mann. Sein Körper wird auf eine Operation vorbereitet. Seine Nacktheit ist das Zeichen, das noch auf sein Leben verweist, aber schon seinen Tod meint.
Wie bei Pasolini ist der Tod ein Schnitt, mit dem der Film hier ins Dunkel fällt, in das hinein ein fröhlicher rumänischer Schlager erklingt. Genau genommen fällt der Schnitt aber mit dem Moment der Wahrnehmung des «unerzählbaren Augenblicks» (Vladimir Jankélévitch) zusammen, der zu diesem Zeitpunkt schon in der Vergangenheit liegt. Der Film hat sein Programm (seinen Titel) erfüllt, aber er hat es in einer Weise erfüllt, in der sich eben gerade nichts erfüllt – dem Tod des Herrn Lazarescu kommt kein Sinn zu. Er ist kein Stellvertreter. Er ist einer weniger. Aber wir haben ihn gekannt.