9. März 2016
Paris. 3 Filme Deux Rémi Deux | Ce sentiment de l'été | C'est l'amour
Paris, 3 Filme. Erster Film. Reflets Medicis, Quartier Latin. Da läuft der neue Hong Sang-soo (den ich schon kenne), da läuft Chantal Akermans No Home Movie (den ich noch nicht kenne), aber ich sehe Deux Rémi, Deux von Pierre Léon. Der Regisseur, von dem ich noch keinen Filme kenne (es gibt einige) ist Kritiker (für Trafic) und gehört in den Freundeskreis, das Umfeld von Paul Vecchiali und Serge Bozon (der eine größere Nebenrolle spielt in dem Film); in La France, Bozons Meisterwerk, das mit einer Reihe von befreundeten Filmkritikern besetzt ist, spielt Léon, wie ich in seiner Filmografie sehe, auch mit.
Die Haupt- und Titelrolle in Deux Rémi, Deux spielt Pascal Cervo. Ihn sehe ich tags darauf wieder, weil er auch in Paul Vecchialis C'est l'amour die Hauptrolle spielt. Bei der Vorabpremiere von C'est l'amour mit dem ganzen Team im MK2 Beaubourg fehlt er allerdings, weil er Deux Rémi, Deux in Bordeaux präsentiert. Deux Rémi, Deux ist eine Verfilmung von Dostojewskis Erzählung Der Doppelgänger, die ich vor Ewigkeiten gelesen habe, die Erinnerung ist verblasst. Die Wikipedia erzählt aber sehr ausführlich nach. Léon weicht von der Vorlage in sehr vielen Hinsichten ab. Zwar erscheint auch bei im Leben des Protagonisten ein Mann, der ihm äußerlich gleicht (er ist aber aktiver, steht, obwohl doch der zweite, der Nachkömmling und Aus-dem-Nichts-Auftauchling, mit festeren Beinen in der Welt). Und wwar wird auch er am Arbeitsplatz des ersten Rémi auftauchen und dort beliebter sein als der erste.
Jedoch ist Rémi kein Beamter, sondern ein kleiner Angestellter in einer Firma, die online Katzenartikel verkauft. Sie heißt «Chat va bien». Der Vorspann von Deux Rémi, Deux bestand aus unzähligen Stills einer meist behaglich herumliegenden Katze. Der Katzen-Content kommt nicht von Dostojewski. Auch nicht der Humor. Der ist schräg bis sehr schräg. Die Reaktionen auf den doppelten Rémi sind gespalten. Während am Arbeitsplatz der neue der willkommenere ist, hält die Frau, in die Rémi sich verliebt hat, am alten fest. Diese Doppelreaktion verdreht und verwickelt sich aber dadurch, dass der Vater der Frau Rémis Chef ist. (Richtig toll neben sich stehend gespielt vom Kritiker Bernard Eisenschitz.)
Der Film ist kurz, nur eine gute Stunde. Es kommt zum Duell der Rémis, draußen im Garten. Das Licht ist plötzlich sehr fahl, nächtlich, mondhaft. Ein Schuss fällt, der neue Rémi gibt ihn ab. Der alte Rémi scheint tot, erwacht wieder. Keine Wunde zu sehen. Eine Wiedergeburt. Eine andere Szene: Serge Bozon, er spielt den Bruder des Helden, telefoniert auf einem nächtlichen Platz, von dichtem Bodennebel umwabert. Weniger Syberberg als Cocteau. Ansonsten: Weil Komödie, darum Happy End.
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Berlin, Paris, New York: Das ist, der zweite Film, Ce sentiment de l'été von Mikhael Hers. Zweiter Spielfilm des Regisseurs, dessen Name mir nichts sagt. Im Aushang am Kino La Bastille sehr positive Kritiken aus Les Incrocks und Télérama. Also denke ich: Mach's. Der Protagonist heißt Lawrence, kommt aus New York und lebt mit seiner französischen Freundin Sasha in Berlin (Prenzlauer Berg). Viel wird gegangen, flaniert, durch Parks gegangen (recht wahllos vom Görli über den Volkspark Friedrichshain, Weinbergspark, Mauerpark, Berlin als Stadt der endlosen Gänge durch Parks), gemeinsam, allein, die Kamera geht, spaziert, flaniert mit. Einmal bleibt sie zurück, Sasha geht, dann sackt sie weg, einfach so, ist bald darauf tot. Wie die Schwester, der Freund, die Eltern um sie trauern: Das zeigt Ce sentiment de l'été. Behauptet der Film jedenfalls.
Er folgt Lawrence und der Schwester der Toten, Zoe. Beim Gehen, beim Sitzen. Er folgt Lawrence, einem Autor und Übersetzer, auf einen Besuch in Paris, er folgt ihm im dritten Teil nach New York (Williamsburg, Bedford Avenue). Lawrence ist aus der Bahn geraten, am Ende ist er in einer neuen, anderen Bahn mit einer anderen Frau. Auch Zoe gerät aus der Bahn, man fragt sich, ob mit ihr und Lawrence etwas wird; es wird aber nichts. Es wird weiter viel durch Straßen gegangen, im zweiten Teil in Paris, im dritten Teil in New York. Es wird auf Partys gefeiert und getanzt. In New York hat Lawrence einen Freund, eine furchtbare Nervensäge, den spielt der Indie-Filmer Joshua Safdie.
Man könnte sagen: Ce sentiment de l'été zeigt Trauerarbeit als Bewegungsform. Aber ohne den Tod Sashas am Anfang wäre das, denke ich mir, ein nicht sehr interessanter Mumblecore-Film. Je länger das geht, je länger der Film diesen Tod aus der Erinnerung zu verlieren scheint, und je weniger mir das als intendiertes Verblassen gedacht scheint, desto mehr denke ich: Er ist auch so ein nicht sehr interessanter Mumblecore-Film. Und dass im zu Tod und Trauer und Aus-der-Bahn-Geworfen-Sein nicht mehr einfällt als das Flanieren, Partys und Gelaber, das ist etwas, das mich ziemlich verstimmt.
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Gestern abend dann, Film Nummer drei: Vorabpremiere von Paul Vecchialis C'est l'amour im MK2 Beaubourg, direkt neben dem Centre Pompidou. Der Regisseur ist da, Team und DarstellerInnen sind da (bis auf, wie gesagt, Pascal Cervo). Vecchiali wird in einem Monat 86, er ist lebendig, wach, sieht zwanzig Jahre jünger und fabelhaft aus, den nächsten Film hat er schon abgedreht, Le cancre, mit Catherine Deneuve, Mathieu Amalric, der Diagonale-Filmer erweitert spät in seiner Karriere die Filmfamilie um ein paar Stars. Brauchen tut er sie nicht. Und man weiß ja auch nicht, wie spät in seiner Karriere es eigentlich ist. Was die gesteigerte Frequenz seiner Filme angeht, ist er eher auf dem Weg zu einem zweiten Manoel de Oliveira.
Auch sonst. Kaum einer setzt so kühn wie er das Fantasmatische neben das Reale. Kaum einer braucht so wenig Welt, um im Film so viel Welt zu erschaffen. Wie meist in den letzten Jahren hat Vecchiali viele Szenen in seinem eigenen Haus in der französischen Provinz gedreht. Neben Pascal Cervo sind in kleinen Rollen die befreundeten Filmemacher Axelle Ropert und Serge Bozon dabei. Man bekundet einander persönlich die Nähe, die das gegenseitige Filmemachen auch ästhetisch besitzt.
C'est l'amour (die Titelschrift verläuft fast gialloesk im Vorspann blutend nach unten) ist eine Liebesgeschichte. Da verspricht der Titel etwas, das der Film hält. Am Anfang spricht ein Erzähler, das ist Paul Vecchiali, der aber auch intradiegetisch ziemlich würdig herumsitzt. Er erzählt von sich verbreitenden und in der Verbreitung mutierenden Gerüchten in der Provinz-Kleinstadt. Aus dem Bildhintergrund taucht Daniel Tonaire (Pascal Cervo) auf, so beginnt der Film, so beginnt seine Erzählung. Perspektivisch aus dem Kleine ins Große ziehen wie ein Zug, zu ratterndem Zuggeräusch, die Titel am Wegrand starwarsmäßig (aber eben nicht verschwindend, sondern auf uns zukommend) durch das Bild. Daniel geht an einem Haus vorbei (er trägt ein rotes Halstuch à la Querelle) und verschwindet, fürs erste, die Geschichte zweigt hier ab und bewegt sich, während Daniel weitergeht, hinein in das Haus.
Hier leben Jean und Odile. Odile glaubt, dass Jean sie betrügt. Sie schwört ihm Vergeltung durch Gegenbetrug. Diese Auseinandersetzung ist als Dialog ganz außergewöhnlich gefilmt. In Schuss-Gegenschuss-Manier, nur: Es gibt nur einen Schnitt, der Dialog wird zweimal gesprochen und zweimal gezeigt. Erst sieht man nur Jean und Odile bleibt im Off. Dann sieht man Odile, aber nicht Jean. Jeweils mehr als fünf Minuten. Der Dialog ist identisch, aber nicht ganz. Die Abweichungen, im Tempo, in kleinen Wörtern, sind gewollt, darauf hat (der studierte Mathematiker) Vecchiali geachtet.
Odile setzt ihren Plan um. In der Fantasie. Sie verliebt sich in den Schauspieler Daniel. Sie betrügt Jean mit ihm. In der Fantasie. Aber ihre Fantasie wird die unsere, wie sie vielleicht von Anfang an die Fantasie Daniels ist (oder gar des Erzählers Vecchiali, der im Film den Vater von Jean spielt und am Ende einen tödlichen Satz spricht). In dieser Fantasie tanzt Odile (Astrid Adverbe ist herb, schön, umwerfend) in einem sehr roten Kleid, es ist so rot wie der Vorhang in ihrer Wohnung (ein Theatervorhang, wird Vecchilai im Q & A sagen), es ist so rot wie das Querelle-Halstuch von Daniel. In der Wirklichkeit oder in der Fantasie oder an einem Ort, in einem Zustand, den der Film nicht eindeutig zu benennen erlaubt, lebt Daniel mit Fred zusammen, einem haarigen und gutmütigen Bären von Mann. Der ist Legionär und bekommt später Besuch von einem anderen Legionär, der von Afghanistan erzählt. Der Film ist sehr dialogreich, ich habe mit meinem schlechten Mündlich-Französisch nur die Hälfte verstanden.
Odile und Daniel stehen im Wald. Es ist sehr grün, aber das Bild wird, von Odile ausgehend, per wellenartig sich ausbreitendem Special Effect rot. Sie liegen am Strand, Odile hat sich Daniel geschnappt, sie haben Sex und es wird das Meer überblendet; also haben sie Sex unter Wasser. Das ist sehr einfach gemacht, aber es ist einfach sehr toll. Später gibt es eine Szene, die an den "falschen" Schuss-Gegenschuss anschließt. Hier sind nun Daniel und Fred im Dialog. Es geht um das Verlassen, das Töten, den Tod. Soviel verstehe ich. Überhaupt geht es viel um das Verlassen, das Töten, den Tod. (Ein Film über die Angst, sagt Vecchiali.) Auch hier wird der Dialog komplett wiederholt (mit Abweichungen), nur gleitet diesmal die Kamera in einer Plansequenz von Freds außerordentlich bärtigem Gesicht hinunter zum an ihn gekuschelten Daniel, der nun die Sätze, die er schon sprach, noch einmal spricht.
Zwischendrin singt Simone Tassimot ein Lied von Arletty und erzählt singend die Lebensgeschichte der von ihr gespielten Figur Esther. Musik muss sein bei Paul Vecchiali, die Hommage an die französische Filmgeschichte (und zwar immer auch an die nicht von der Nouvelle Vague abgesegneten Kapitel, Papas großartiges Kino) muss sein bei Vecchiali, der die Darstellerinnen und Darsteller liebt und ihnen aus Liebe immer wieder Plätze einräumt im Film, die wie freigestellt sind, die sich mit der Narration nur so verbinden, wie sich zwei Menschen verbinden, die einander die Hand reichen. Hier ist es Axelle Ropert, die Simone Tassimot die Hand reicht und dann gleich wieder, als wäre sie nie da gewesen, aus dem Film verschwindet.
Ich finde C'est l'amour großartig, aber auch anstrengend, schon weil ich eine ganze Menge Sätze nicht verstehe. Sätze darunter, bei denen das Publikum lacht. Aber in jedem Fall ist das zu hundert Prozent ein Vecchiali-Film. Weil er sich alle Freiheiten nimmt, auch die übrigens zu einer kleinen Hommage an Alain Guiraudies Inconnu du lac (nacktes Cruisen unter Bäumen), auch die zu einem hinreißend outrierten Auftritt von Mireille Roussel als Daniels Agentin, auch die zu einem langen, langen Dialog zwischen Jean und Odile, am Ende, nun gemeinsam im Bild, aber sie finden zu keinem gemeinsamen Ende. Dabei hat Vecchiali seine Freiheiten stets unter Kontrolle, das wird, wenn man es nicht geglaubt hat, im Q & A nach dem Film mehr als deutlich.
Eine Stunde geht das. Das Publikum ist geduldig, kaum einer ist nach der Vorführung gegangen. Sie stellen kluge Fragen, auf die Vecchiali noch klügere Antworten gibt. Es geht um Schuss-Gegenschuss und die Plansequenz, keiner will trotz Vecchialis Aufforderung etwas Negatives sagen. Dann fasst sich eine Frau das Herz und fragt, warum seine Figuren so unbeweglich, unveränderlich wirken. Vecchiali will etwas antworten, da stürmt im Seitengang Noel Simsolo heran, Schauspieler, Autor und Freund, Mitarbeiter Vecchialis seit Jahrzehnten. Pauls Figuren sind Phantome, sagt er, darum sind sie so unbeweglich. Simsolo, kein Phantom, steht dann neben Vecchiali, redet, erinnert ein wenig an Wallace Shawn, redet sich in eine Begeisterung für das Fantasmen-Werk von Paul Vecchiali. Hier noch ein Foto, das ich gemacht habe. Das war leider vor Simsolos fulminanten Auftritt.