13. September 2012
Peter Watkins In der Tate Modern
In der neuen Ausgabe der englischen Kunstzeitschrift Frieze gibt es einen ausführlichen Text über Peter Watkins, anlässlich einer heute beginnenden Retrospektive in der Tate Modern. Das nehme ich zum Anlass, einen alten Text von mir über Watkins hier öffentlich zu archivieren. Den Einstieg bildet der Film Munch, aus dem auch das Bild oben ist:
Im Jahr 1873 wird Hermann Göring geboren. Peter Iljitsch Tschaikowsky stirbt, und Edward Munch leidet an Agoraphobie. Im Jahr 1888 malt Vincent van Gogh die Sonnenblumen, der Gummireifen wird erfunden, und Wilhelm II zum deutschen Kaiser gekrönt. Der Mann, der diese Daten in einen Zusammenhang bringt und auf die Künstlerbiographie von Munch bezieht, heißt Peter Watkins. Sein Film über den norwegischen Maler ist zugleich Gesellschaftsgeschichte und paradigmatische Künstlerbiographie – in einem Medium, dessen technologische Differenz zur Malerei als synthetische Potenz begriffen wird. Watkins zieht eine Bilanz des bürgerlichen Zeitalters, und nimmt eine soziologische Perspektive ein. Zugleich ist Edvard Munch ein genuiner Kostümfilm, versucht also die Rekonstruktion einer vergangenen Epoche durch Authentizität im Detail, unterlässt dabei aber alle panoramatischen Einstellungen.
Identifikation fällt zweifellos ins Gewicht bei diesem Film über einen verkannten Künstler: Watkins fand an Munch, als er 1968 in Oslo zum ersten Mal dessen Bilder sah, einen verwandten Außenseiter, einen umstrittenen Modernisten. Fünf Jahre verwandte er auf die Fertigstellung des dreieinhalbstündigen Anti-Bio-Pics. Das skandinavische Fernsehen kam für den Großteil der Finanzierung auf. Watkins will Munch als eine Figur verstehen, die an dem Konflikt zwischen Libertinage und Puritanismus leidet, die aber – durch den frühen Tod der Schwester – konditioniert ist auf eine Erfahrung der Unterklasse: Sterblichkeit durch Schwindsucht ist ein Resultat von Armut. Die Verausgabung des Künstlers ist nur die Kehrseite der Ausbeutung der Arbeiterklasse.
Drei formale Entscheidungen weichen deutlich von dem ab, was Watkins die «Monoform» (eine konventionelle Form der filmischen Darstellung, vergleichbar dem klassischen Modus des Hollywoodkinos) nennt: die Stimme eines auktorialen Berichterstatters; das für einen Fernsehfilm ungewöhnliche Wechselspiel von Totalen und Zooms, das die geläufigen Großaufnahmen ersetzt; schließlich eine Struktur der Wiederholung, des Wiederaufsuchens zentraler Motive, die häufig mit Gemälden von Munch assoziiert sind.
Der Munch-Film bekommt dadurch eine szenische Qualität, die dem Werk von Watkins von Beginn an eigen ist. Seine Medienkritik läßt ihn nach Formen des «re-enactments» suchen, in denen die kritische Distanz des Beobachters in Anteilnahme und Empathie umschlagen kann. Sein erster Kurzfilm Forgotten Faces ist dafür wegweisend: Hier zeigt er seine Sicht auf die niedergeschlagene ungarische Revolution von 1956. Er findet in diesem Versuch, aus dem stalinistischen Sowjetsozialismus auszubrechen, eine Modellsituation seiner politischen Utopistik wie seiner ästhetischen Möglichkeiten. Politisch läuft der Konflikt auf vier Tage im November hinaus, während derer in Budapest eine freie Herrschaft des Volks besteht (der Begriff «Kommune» fällt nicht, die Reminiszenz auf Paris 1871 wird aber im späteren Werk von Watkins ausdrücklich). Danach stellen die sowjetischen Truppen den Zustand wieder her, gegen den die Revolutionäre angetreten waren.
Watkins rückt sie mit Namen und Großaufnahmen ins Bild: «These are their faces.» Die ungarischen Figuren werden jedoch von britischen Laiendarstellern gespielt. Watkins fand in den fünfziger Jahren während seines Militärdiensts Anschluss an eine Laientheatergruppe in Kent, die Playcraft Unit. Die Ruinen von Ujpest in Budapest wurden in einem ehemaligen Gaskraftwerk in Canterbury gefunden. Watkins konstruiert aus den Gesichtern seiner Darsteller eine eigene Internationale. Sie stehen ein für das unterlassene Engagement der NATO für die Zivilgesellschaft in Ungarn. The Forgotten Faces ist stumm zu einer Tonspur, die zum Teil die historischen Ereignisse nacherzählt und interpretiert, zum Teil aber ganz einfach die Protagonisten vorstellt mit Namen und Altersabgabe und Berufsbezeichnung sowie ihrer Stellung in der Front. Am Ende, als der Aufstand niedergeschlagen ist, zieht Watkins eine Bilanz der Opfer – Gesichter ohne Namen.
Sie sind «Living und Presumed Dead» analog zu einer Arbeit des Künstlers James Coleman, in der projizierte Dias mit kostümierten Figuren so überblendet werden, daß eine kontinuierliche Bewegung suggeriert wird. Dazu ist eine Stimme aus dem Off zu hören, die eine Erzählung mit Motiven der irischen Folklore vorträgt. Diesen Verfremdungseffekt, den Coleman gewinnt, indem er die synthetische Raumerfahrung des Kinos dekonstruiert, hat Rosalind Krauss als «Erfindung eines Mediums» bezeichnet, vergleichbar den Leuchtbildern von Jeff Wall: «Diapositivserie und Leuchtbild haben (...) keinerlei ästhetischen Stammbaum und sind für sich als Bildträger jeweils so einzigartig, daß man sofort ein ästhetisches Patent darauf hat, wenn man sie als Medien für sich entdeckt. Beide funktionieren daher jeweils auf ihre Weise als Paradoxon eines „Mediums“, das nur von einem praktiziert werden kann.»
Watkins verwendet im Gegensatz zu Coleman (mit dem er viele thematische Interessen teilt) oder zu Wall ein Medium, das eine ausgeprägte Genealogie hat, allerdings in einer Weise, wie es «nur von einem praktiziert werden kann». Die Stimme aus dem Off ist dabei nur das auffälligste Instrument. 1964 kann er seinen ersten Film für die BBC drehen. Er wählt ein historisches Sujet, das auf Vietnam verweist. Am 16. April 1746 standen einander bei Cullodeen nahe Inverness eine Truppe von Highlanders und eine Armee von protestantischen Loyalisten gegenüber. Diese brutale Schlacht stellt Watkins mit Mitgliedern der Playcraft Unit und zahlreichen Laiendarstellern, unter denen er direkte Nachkommen der Opfer der tatsächlichen Schlacht vermutet, nach. Watkins suggeriert eine zeitgenössische Fernsehreportage, indem mehrmals Fragen an die kommandierenden Männer gestellt werden, die sie in Interview-Manier beantworten. Auskünfte zur Taktik und Motivation stehen dabei im Mittelpunkt.
Dieser Anachronismus in einer eigentlich dokumentarisch rekonstruierenden Darstellung verweist auf die Fernsehreportagen aus Vietnam. Watkins nennt Cullodeen einen «Bericht» (account), geht dabei aber «technologisc» bewusst zu weit und lenkt das Augenmerk auch auf das Medium selbst. Er versucht dabei allerdings nicht, die historischen Sujets aktuell aussehen zu lassen. Der Abstand bleibt gewahrt und wird durch Kostüm und Maske eher noch verstärkt. Das Prinzip von «Living and Presumed Dead» überführt Watkins in eine Gedächtnis- und Repräsentationsstruktur, die weit über geläufige Schauspieltheorien hinausgeht: Laiendarsteller stehen für historische Opfer ein, weil sie potentiell an deren Stelle stehen.
Watkins will die sichere Distanz der Darstellung überwinden. In seinem Dokudrama The War Game (1965) unternahm Watkins den Versuch, die Folgen eines Atomangriffs zu veranschaulichen. Er tat dies so drastisch, daß die BBC sich veranlasst fühlte, den Film den Behörden zu zeigen, deren Ohnmacht im Fall eines Atomkriegs von Watkins vor Augen geführt wurde: das Home Office und das Verteidigungsministerium. The War Game wurde nicht im Fernsehen ausgestrahlt. Aus dieser Zeit rührt die Selbststilisierung von Watkins als Einzelkämpfer gegen die Monoform. Durch die Wahl von Wohnsitzen in Skandinavien und im Baltikum begab er sich auch persönlich an die Ränder (derzeit lebt Watkins in Vilnius in Litauen). 1971 konnte er in den USA noch Punishment Park drehen, eine Fiktion über einen Ausnahmezustand unter Nixon, über Schnelltribunale gegen Studenten und Intellektuelle. Die Verurteilten dürfen wählen zwischen Gefängnis oder «Bestrafungspark». Sie entscheiden sich alle für den Punishment Park, eine aride Gegend in Kalifornien, in der sie von Exekutivkräften in eine aussichtslose Verfolgungsjagd gehetzt werden. Ohne Wasser, ohne Ausrüstung, ohne militärische Fähigkeiten irren sie durch die Wüste, auf dem Weg zu einer amerikanischen Flagge, die das rettende Ziel darstellt.
Diese Phantasie eines sadistischen Staats hat ihr Zentrum wieder in einem medialen Situation: Scheinbar neutrale Kamerateams verfolgen diese Jagd. Sie werden schließlich auch involviert, begreifen ihre Komplizenschaft, und können nur einen ohnmächtigen Protest vorbringen: «This is all gonna be on European television.» Beim europäischen Fernsehen fand Watkins in den siebziger Jahren sporadisch Arbeitsmöglichkeiten. So drehte er auch seinen fast fünfzehnstündigen Film The Journey über die globale Friedensbewegung der achtziger Jahre in einer Form, die den Medienbetrieb durch Bürgerinitiativen und Netzwerke de facto ersetzte. Die Kultursender La Sept und Arte gaben ihm schließlich in den neunziger Jahren die Chance, auf eine zentrale Szene seiner Mythologie zurückzukommen: La Commune rekonstruiert die Pariser Kommune von 1871 mit den Methoden, die Watkins schon in Forgotten Faces und Cullodeen entwickelt hatte. Es gibt ein Kamerateam, das «vor Ort» ist, in einer Szenerie, die hinreichend «historisch» ist, ohne auf einen vollständigen Realitätseffekt zu zielen. Die Kommune als revolutionäres Experiment beschreibt Watkins wieder durch die «vergessenen Gesichter».