29. Juli 2009
You know John Dillinger is going to die in front of the Biograph Notizen zu Michael Manns Public Enemies
Michael Mann hat einen Sachbuchbestseller von Bryan Burrough verfilmt, in dem die These vertreten wird, dass die Geschichte der Konstituierung des FBI in den 1930er Jahren die Geschichte der medialen Fabrikation öffentlicher Feinde ist: die Barrow Gang, die Barker Karpis Gang, die Baby Face Nelson Gang und eben die Gang um den Bankräuber John Dillinger. Bei Burrough geht es um die Etablierung einer Institution, deren Machtvolumen mit der Größe der Gefahr, die sie zu bekämpfen vorgibt, wächst: «take off the white gloves»; am Horizont Hoovers Polizeistaat.
Ein period picture, ein Film im historischen Kostüm der Depressionsära, ein Film «zur rechten Zeit» über die bad banks von damals und heute hätte Public Enemies werden können. Dass es dazu nicht oder nur nachrangig kommt, hat mit einem neuen Bildtypus zu tun, der das eigentliche Sujet dieses Films ist. Dazu im Folgenden einige Überlegungen.
Wer Public Enemies werkgetreu in digitaler Projektion sieht (in Deutschland läuft der Film leider bis auf vereinzelte Ausnahmen in der Synchronfassung: als 35mm-Kopie), verspürt wenig Neigung, diesem Film vorzurechnen, dass Johnny Depp weder James Cagney noch Warren Oates ist (immer noch toll, der Dillinger-Film von John Milius) oder dass Mann keine politische Deutung im Sinne einer Zeitdiagnose Post-Lehman Brothers anzubieten hat usf. Public Enemies ist einer jener sehr seltenen Filme, die mit voller Wucht die formalen Routinen des Kinos verrücken, die genuin innovativ sind, weil sie Vertrautes fremd reformulieren, weil sie in diesem Nachsprechen permanent umdeuten, verschieben, lockern, unterbrechen, neu verknüpfen.
Public Enemies spricht digital, wie man es bisher nur von den hochaufgelösten Screens der Kunsthallen kannte. Buchstäblich jedes Bild in diesem Film, der high definition nachhaltig als (riskante) ästhetische Option des Erzählkinos markiert, ist ein Ereignis; man sucht die Bilder vergeblich ab nach irgendeinem vertrauten Zeichen, das «Kino» sagt und das herkömmliche meint. Im Kino ohne Anführungszeichen sitzt Johnny Depp gegen Ende des Films. In seiner ganzen hyperrealen Unwirklichkeit sitzt er da, im Biograph Theater an der Lincoln Avenue in Chicago und sieht sich Van Dykes Manhattan Melodrama mit Clark Gable an. Kaderfüllend, für einen diskreten Moment sogar in slow motion zitiert Mann das körnige Kinobild in dieser Sequenz. Die Geste ist eindeutig: er historisiert es und stellt sich doch völlig unsentimental in seine Tradition.
Wie soll man diesem Film beikommen, der sich wie eine Zäsur anfühlt und doch Brücken schlägt, Anschlüsse herstellt (der «Blickwechsel» zwischen Depp und Gable handelt genau davon). Mit einer Auflistung? Das Rot einer Ampel, die eine Fluchtbewegung unterbricht; gelber Lampenschein in einem Haus, das schon lange umstellt ist; Maschinengewehr-Sperrfeuer, das blendet; Nebelschwaden in einem Wald; Wasserperlen nach einem Regenguss, transparent auf einer Motorhaube, die umso schwärzer glänzt; weiße Kacheln, so hell, dass man sie fast nicht anschauen kann; davor eine Frau, die in glasklare Tränen ausbricht; das Lichtermeer einer Telefonzentrale, der Ort des Films in dem das FBI sich als Behörde zu formieren beginnt; und immer wieder, fast enzyklopädisch: Materialabtastungen (Tapeten, Waffen, Gitterstäbe, menschliche Haut, Kleiderstoffe).
Beliebig ließe sich diese Liste verlängern, weil nichts, was dieser Film zeigt, unmittelbar anschließt an Darstellungskonventionen, die z.B. «30er Jahre» oder «Depressionszeit» oder einfach auch nur «damals» signifizieren. Man sieht mit der versammelten Akkuratesse einer großen Hollywood-Produktion recherchierte und rekonstruierte «Geschichte», in allen Details des Setdesigns, in den Anzügen, den Hüten, den Streichholzschachteln, Frisuren, Schnürsenkeln, Pflastersteinen usf. Und doch setzt das HD-Bild so starke eigenlogische Mediensignale dagegen, dass sich kaum die Möglichkeit eröffnet, diesen Film als Vergangenheitswohlfühlraum zu betreten. Ein Film, der einen auf Distanz hält (insofern: reflexiv bis zum Geht-nicht-mehr).
Dazu trägt auch die Umwertung des Schauwertes eines Stars wie Johnny Depp bei, der nie «Dillinger» wird, weil man beispielsweise jeden einzelnen Bartstoppel sieht (ob man will oder nicht). In gewisser Hinsicht kommt einem HD (noch?) zu real, zu obsessiv wirklichkeitsnah vor, um einen geschlossenen fiktionalen Raum aufzustellen. Man könnte auch sagen: Der Erzählraum bekommt die vielen Details, die diese Bild speichert, nicht unter Kontrolle (Zu fotografisch statt post-fotografisch? Zuviel Punctum statt mangelnde Indexikalität? Ein Film, der die Fotografietheorie durcheinanderbringt).
Verwirrend ist auch die Temporalität des HD-Bildes, als funktioniere seine Informationsüberfülle seine Hyperpräsenz nur im und als Präsens. Dieses Präsens lässt einen an der Oberfläche der Bilder entlang driften (144 Minuten, die viel zu schnell vorüber sind), führt aber manchmal auch für Momente zu jenem Effekt, den Michael Mann als Zielgröße seines Ansatzes beschreibt: Es gehe ihm nicht einfach um Vergangenheit, sondern um Vergangenheit als vergangene Gegenwart, d.h. um Bilder der Vergangenheit, die von den etablierten medialen Codierungen für «Vergangenheit» maximal weit entfernt sind. Immer wieder gibt es in diesem Film diesen leicht irre machenden Gegenwärtigkeits-Effekt, der einen spüren lässt, was das heißen könnte, dass dieser Oldtimer, diese Dampflok, diese Tweedstoffe einmal ultramodern und heutig waren. Vermutlich ist es neben den zahllosen technischen Verfeinerungen, die Mann und sein famoser Kameramann Dante Spinotti durchdeklinieren, vor allem dieser Rekurs auf das period picture, der Public Enemies mehr noch als die HD-Vorgänger Collateral (2004) und Miami Vice (2006) zu einer hochkomplexen Erfahrung macht (ein Film, den man jede Sekunde genießt, obwohl oder gerade weil man nie richtig «drin» ist; man kann nicht aufhören die Formen als Formen zu sehen).
Weil all das, was sich so ungesehen anfühlt und fraglos relativ unbegriffen ist, mit der trockenen handwerklichen Perfektion der Michael Mann-Signatur daherkommt (die manche, man glaubt es kaum, mit auteuristischer Interesselosigkeit verwechseln), weil das anti-barocke Sounddesign das Beste ist, was es im Surround-Modus je zu hören gab, weil es Montage-Sequenzen wie die im Finale vor dem Kino gibt und diese wunderbar kluge, sonnenlichtdurchflutete Szene in den Räumen der Chicagoer Polizei (Print the legend!), weil Public Enemies erst ganz versteckt, dann immer ungeschützter ein Film über das Kino ist (alte Bewegungen, Gesichter, Gesten, Schnitte in einem neuen Bild), weil kein zeitgenössischer Hollywood-Regisseur ein vergleichbares Gespür für das Verhältnis von Kamerabewegung und Bewegung im Bild, für die Dynamik der Handkamera, für den abrupten, vorwärtstreibenden Schnitt, für kleine, explosive, emotionsgeladene Gesten hat, weil Michael Mann der einzige an Frauenfiguren vollkommen desinteressierte Filmemacher ist, bei dem das Pathos der men at work nicht lächerlich wirkt (sondern fatal), weil er auch in den Details des Erzählens ständig Sachen macht, auf die man erst mal kommen muss (zackige Ellipsen, vom Genre diszipliniert; nie wird wehleidig abgeblendet) und weil er die Vorstellung, dass das alte Medium Kino weiterhin ästhetisch eigensinnig auf technische Innovationen reagieren kann, aus dem Klammergriff dieser ganzen CGI-Nerds befreit, ist Public Enemies nicht nur ein Meilenstein des amerikanischen Kinos, sondern hoffentlich auch seine Zukunft.
Mehr dazu: High Defintion. Digital Filmästhetik (August Verlag 2013)