17. Dezember 2012
Schöne Welt, Ferne Heimat 1978 Rheingold von Niklaus Schilling
Es fährt ein Trans-Europ-Express-Zug den Rhein entlang, charakteristisch rot-weiß. Zu Beginn von Niklaus Schillings 1978 in die Kinos gelangtem Film wird per Insert, das in einen majestätischen Kameraschwenk über den Rhein geschrieben steht, das folgende berichtet: «Am 15. Mai 1928 fuhr der berühmteste Expresszug der Deutschen Reichsbahn erstmals zwischen Hoek van Holland und Basel. Da er auf seiner Fahrt grösstenteils dem Rheinlauf folgte, wurde ihm in Anlehnung an die bekannte Sage der Name 'Rheingold' gegeben. Mit seinen violett /elfenbeinfarbenen Pullmann-Wagen war er bei jedem Halt eine Sensation, und nicht selten erwarteten ihn die Menschen an den Gleisen und winkten ihm zu.» In diesen Zug, der nun freilich bis Genf fährt, steckt Niklaus Schilling eine Dreiecks- und nicht wenig deutsche Mythengeschichte. Es spielt dazu, mit Anklängen an Wagner-Musik, die kaum minder schwerdeutsche Elektronik der Synthesizer von Eberhard Schoener, der übrigens im selben Jahr 1978 seine Kammeroper «Flashback» veröffentlicht, eine Kooperation mit Stuart Copeland, Andy Summers und Sting, kurz vor deren Durchbruch mit ihrer Band "The Police". Schoeners, wenn man so etwas mag, in sehr beeindruckender Weise Atmosphären ausprägende prä-Ambient-Musik war später vor allem «Rock Meets Classic»-Nächten und von Der Alte bis Derrick den ZDF-Freitagskrimis zu Diensten, von denen ich wiederum ab ca. 1978 wohl die nächsten zehn Jahre mit meinen Eltern jeden einzelnen sah. (Eine Geschichte der zunächst noch avantgardistisch-elektronischen Synthesizer-Musik auf ihrem Weg in die Niederungen des deutschen Unterhaltungsfernsehens wäre sicherlich noch zu schreiben.)
In den Zug steigt zu Beginn eine Frau von Welt, sie heißt Elisabeth Drossbach. Auf dem Bahnhof winkt ihr zum Abschied die Mutter, gespielt von Alice Treff, die unter vielem anderen im Jahr 1942 im Film Ein Zug fährt ab neben Ferdinand Marian auftrat. Der Zug fährt am Rhein lang, die Loreley ruft vom Felsen, das UFA-Melodram ruft aus jüngerer Filmgeschichte herüber, ein Großvater erzählt seiner BDM-artig zurechtgemachten Enkelin mit sehr blonden Zöpfen ihre und anderer deutscher Mythen Geschichte. Das sorgte damals, heute versteht man das kaum noch, für einen Skandal. Man kann aber ahnen, was Syberberg mit seinen viel affimativer, aber ästhetisch avancierter herbeigeraunten Mythisierungen damals ausgelöst hat. Heute ist er dafür ganz eingesponnen in seine privatheimatlich deutsch-deutsche Nossendorf-Mythologie. Filme dreht er fast aufs Jahr genau so lang schon nicht mehr wie Niklaus Schilling. Deutschmythen, die sich in den Siebzigern in Schräglagen trafen, sind so in die Winde zerstreut.
Zur Dreiecksgeschichte. Von Schweizer Schulzeiten her kennt Elisabeth Drossbach den nun als Zugkellner tätigen Wolfgang Friedrichs, mit dem sie zwischen Düsseldorf und Genf eine andeutungsweise grafisch gezeigte Affäre im rollenden Zug unterhält. Der Abschied von ihm will ihr auf dieser letzten Fahrt nicht recht gelingen; ihr Ehemann geht als UN-Diplomat nach New York, mit dem Zugsex ist es, wenn sie mitgeht, zuende. Freilich steigt zur Vollendung des melodramatischen Dreiecks in Bonn just dieser Ehemann zu, ertappt Kellner und Frau in flagranti, führt überdies als Geburtstagsgeschenk einen Brieföffner im Gewande. Das Rattern des Dolches auf dem Ablagebrett im fahrenden Zug überlagert als Drohgeräusch für Momente eindrucksvoll Fahrtlärm und wagnerisierenden Schoener. Dann sticht der Dolch, soll heißen: der eifersüchtige Ehemann, zu.
Nicht als Reichswasserleiche, nicht als Floßhilde, Wellgunde oder Woglinde, aber als blonder sterbender, innerlich verblutender Schwan (mit Anfortas-Wunde) hängt im Abteilsitz zusehends blasser von da an Elke Haltaufderheide, die im Münchner Umfeld um Thome und Schilling erst als Schauspielerin auftauchte und bald als Produzentin von Autorenfilmen wie Rheingold eine noch interessantere Figur macht denn als Bundesbahnleichen-Söderbaum-Reinkarnation. Im Sterben hat Elisabeth Drossbach Visionen, erinnert zu Wasser und zu Land Liebesglück. Einmal, in einer Flashback-Sequenz, steht auf einem Plakat im Hintergrund am Germania-Denkmal zu Rüdesheim deutlich zu lesen «Durststreik gegen Totalisolation», während im Vordergrund das Liebespaar auf den Rhein schaut. (Die eigentliche nationalistisch-kriegerische Inschrift wird – wenngleich nicht buchstäblich – durch das viel deutlicher lesbare Plakat überschrieben. Sie lautet, bekanntlich: «Es braust ein Ruf wie Donnerhall, / Wie Schwertgeklirr und Wogenprall: / Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein: / Wer will des Stromes Hüter sein? / So lang ein Tropfen Blut noch glüht, / Noch eine Faust den Degen zieht, / Und noch ein Arm die Büchse spannt, / Betritt kein Feind hier Deinen Strand.»)
Bleibt: Rüdiger Kirschstein alleine zurück. Er macht hier als Liebhaber und Zugkellner Zwischenstopp im Neuen Deutschschweizer Film. Zuvor war er Ensemblemitglied der ersten Stunde bei Peter Steins Schaubühne am Halleschen Ufer gewesen, wie übrigens kein geringerer als Claus Theo Gärtner, der spätere Fall für zwei-Matula, auch. Kirschstein spielt im selben Jahr 1977, in dem Rheingold entsteht, in der gerade anlaufenden Brummifahrerserie Auf Achse neben dem soeben aus der DDR ausgereisten Manfred Krug eine Hauptrolle und wird so im ARD-Vorabendprogramm berühmt oder jedenfalls zum Helden von Menschen wie mir, die etwa zu diesem Zeitpunkt ihre Kindheit und Jugend auf diesem Sendeplatz häuslich einzurichten beginnen. Rüdiger Kirschstein übrigens lebt heute vor allem auf einer Finca in Spanien und malt.
Mit seinen vielfachen, manchmal überdeutlichen (aber was soll's) Überblendungen von Gegenwart Geschichte, Mythos und Realität hebt Niklaus Schillings Rheingold mit Absicht, aber über seine Absichten gewiss noch hinaus, deutsche Gegenwart und deutsche Vergangenheit in seiner fahrenden Zeitkapsel auf. Das ständige In- und Nebeneinander von Innen und Außen ist dabei Programm; immerzu fliegt vor dem ins Bild gerückten Zugfenster Landschaft vorbei. Rheinlandschaft, zwischen am Fluss angesiedelter Industrie und in die Spätestromantik der Gegenwart übersiedelter Mythologie. Heimatfilm ist Rheingold in genau diesem Sinn: Der Film bietet Materialien zur Seelen- und Rheinlandschaftsbeobachtung, datierbar sehr genau auf die Züge und Realien und Mythen der Jahre 1977f. Von August bis Oktober erstreckt sich die Drehzeit: Deutscher Herbst.
Draußen liegt Deutschland in schlimmen Zügen, dabei fährt immer weiter die keineswegs unschuldige Landschaft vorbei. Drinnen blättert man in der Schönen Welt, der Kundenzeitschrift der Bahn, die Elisabeth Drossbach bei der Dolchattacke noch hochreißt und so fürs erste Allerschlimmstes verhindert. Die Schöne Welt erschien ein letztes Mal 1990, zuvor schon, 1987 nämlich, mit der Einführung der EuroCity-Züge, ging es mit dem Rheingold zu Ende. Einige ehemalige Wagen der 62er-Bauart allerdings fahren heute noch im Allgäu-Express zwischen München und Oberstdorf: ein Nachleben der sehr unspektakulären Art. Allerdings war es mit dem Glanz der Züge schon in den Siebzigern so weit nicht mehr her. Niklaus Schilling schreibt in einem Text zur Entstehung des Films über die Erstbegegnung: «In großen, goldenen Lettern konnte ich das Wort ‹Rheingold› lesen. Verwaschen zwar, das Gold stumpf geworden. Der Zug muß seine große Zeit in den 50er-Jahren gehabt haben, gebaut ganz im Stil der neuen, aufstrebenden Republik. Heute bekommt bei seinem Anblick nicht einmal mehr ein Kind große Augen.» Auch das ist ein Kommentar zur deutschen Geschichte.
Im Zug des Jahrs 1977 – der Film ist tatsächlich im Originalschauplatz Rheingold gedreht – sitzt in einem Abteil ganz für sich das Zugsekretariat (eine Zugsekretärin) und nimmt Anrufe entgegen. Etwa den von Karl-Heinz Drossbach, der auf seine Frau einstach, impulsiv aus dem Zug lief, in einer Verfolgungsjagd mit dem Taxi das Wettrennen gegen den Zug aufnimmt und zwischendurch von einer Telefonzelle aus das Zugsekretariat anruft («Ruf doch mal an» steht am Seitenfenster; zur Geschichte der Telefonzellennostalgie im deutschen Film vgl. Rainer Knepperges: Die Quereinsteigerinnen). Gespielt wird dieser Drossbach, UNO-Diplomat auf dem Sprung von Genf nach New York, von Gunther Malzacher, dessen erstaunlichster Rollen-Credit vielleicht die Rolle des türkischen Restaurantbesitzers Mustafa Tüyen in einem Ehrenmord-Krimi der Serie Ein Fall für zwei im Jahr 1991 sein wird. Das ist offenbar ein Axiom: Wer aufs deutsche Kino der Siebziger und Achtziger schaut, landet verlässlich im Vorabendprogramm oder bei den Freitagskrimis des ZDF. Nicht Wenders und Herzog und Schlöndorff, schon gar nicht Thome und Lemke und Schilling, sondern Reinecker und Willschrei und Ringelmann haben die seelische Grundausbildung deutscher Bewegtbildbetrachter besorgt. Das ist die wahre Heimat der armen in diesen Jahren aufgewachsenen Kleinbürger- und Mittelschichtseelen.
Auch die Werbewelt ist übrigens da. Im Zugabteilfenster klebt ein Kaffee-Hag-Schild. Am Bahnhof in Basel sitzt der traurige Held zuletzt unter fast ironisch zu lesenden Plakaten. Auf einem davon durchbohrt ein Tell-Pfeil die Schaumkrone eines Schweizer Biers («Im Schweizer Bier steckt etwas drin».) Daneben setzt eine Rivoli-Zigarre die Motivreihe des Phallischen fort, der Werbespruch ragt eher kastriert nur als «-Stumpe» ins Bild. Das ganze endet in einer merkwürdigen, wohl bildmedienkritisch zu nehmenden Sequenz. Seine letzten Bilder überantwortet der Film nämlich den Aufnahmen einer zielfernrohrhaft-phallisch auf die Tote gerichteten Super-8-Kamera. Es ist ein lächerlicher Mann, der das filmt. Finis Germaniae. Finis Autorenfilm.