22. November 2015
Schreckliches Interesse Fernsehhinweis: Regeneration (1915) von Raoul Walsh auf Arte
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts muss die Bowery in New York eine ziemlich üble Gegend gewesen sein. Man kann das unter anderem aus der Tatsache schließen, dass eine karitative Einrichtung, die sich um die Verbesserung der Lebensverhältnisse bemüht, dort ein «settlement» unterhält, einen Außenposten, wie ihn früher die Pioniere jenseits der «frontier» errichteten. In Raoul Walshs erstem überlieferten Film Regeneration wird dieses Wohlfahrtsbüro zum zentralen Ort einer Geschichte, in der es dauernd darum geht, jemand «rauszuholen» – aus einem brennenden Schiff, aus einer desolaten Familie, aus dem Leben eines Gangsters.
Der Held, der von der falschen Seite auf die richtige wechselt, der sich (und stellvertretend das Milieu) also «regeneriert», blickt zu Beginn aus dem Fenster einer Wohnung auf die Straße. Seine Mutter wird im Leichenwagen weggebracht, nun ist Owen Waise, und wird von dem Ehepaar nebenan aufgenommen. Die Welt, in der ihm sein Weg vorgezeichnet ist, charakterisiert Walsh geschickt durch die mehrfache frontale Einstellung auf das enge Treppenhaus, in dem betrunkene Männer über verdreckte Kleinkinder hinwegsteigen, wenn sie nach Hause wanken.
Owen steigt schnell zum Boss einer Bande auf, mit der er genauso einen Tisch bei Grogan’s beansprucht wie die deutlich besser gestellte Familie von Marie Deering, zu deren Kreis auch ein District Attorney gehört, der (als «neuer Besen») unter den Gangstern aufräumen will. Marie aber findet, sie wären «awfully interesting people», womit man wohl in etwa das Publikumsinteresse an Regeneration bestimmt findet, einem typischen Sozialdrama der zehner Jahre, das mit «education, inspiration – and love» die Exkursion in die «world where might is right» rechtfertigt, also in eine Welt, in der das Recht des Stärkeren gilt.
Marie gibt ihrem Interesse nach und bezieht Station in dem «settlement», bald schon sieht man Owen dort am Tisch sitzen und das Rechnen lernen. Auch an der Tafel an der Wand stehen Zahlenkolonnen, und die Parole «God is Love». Walsh (damals noch R.A. Walsh) inszenierte einige packende Massenszenen, vor allem, als das Schiff in Brand gerät und Panik ausbricht – die Massen quellen aus einer engen Luke nach oben, der Überlebensinstinkt bricht sich chaotisch Bahn. Interessant auch einige «sozialtheoretische» Bildfolgen, vor allem deutet er an, dass die oralen Bedürfnisse des Kleinkinds sich das ganze Leben hindurch rücksichtslos durchsetzen (die Überblendung von einem Bierkrug mit einem Eis, an dem Owen als kleiner Junge schleckt, dazu immer wieder das Motiv, aus einem Topf zu trinken, der reihum geht, irgendwann sagt Owen sich davon los, sublimiert seine Prägung).
Marie ist in dieser Welt gefährdet, sobald sie das „settlement“ verlässt, aber ihr ist ohnehin die Rolle eines «guten Geists» vorgeschrieben, der schließlich in einer Doppelbelichtung eine andere Beziehung zu Owen eingeht, als das klassische Happy End. Der Klassengegensatz bleibt unaufgelöst, die «Regeneration» führt den Helden an das Grab einer schönen Frau, die sich ganz der Caritas vermählt hatte – und ihrer Neugierde.
Regeneration läuft am Montag 23.11. um 23.35 auf Arte. Das ZDF hat zu der Restauration, die Lobster Films auf Grundlage von Material vor allem aus dem MoMA hergestellt hat (einige herrliche Nitro-Effekte inklusive), in Zusammenarbeit mit der Komischen Oper einen sehr guten, jazzrockig-eklektischen Soundtrack produzieren lassen