spielfilm

29. Juni 2014

Selbstausbeutung Baby Face (1933) von Alfred E. Green im Arsenal

Von Bert Rebhandl

© Warner Bros.

 

Gleich der erste Satz, den Lily Powers (Barbara Stanwyck) in Alfred E. Greens Baby Face aus dem Jahr 1933 sagt, ist ein Schlüssel zum ganzen Film: «Hey, easy with the whip.» Das gilt ihrem Vater, der in einer Spelunke irgendwo im Industriegürtel der USA die farbige Bedienstete Chico schikaniert. Ohne klaren Anlass, sieht man von denkbaren Kindheitserinnerung ab, auf die sonst keine weiteren Hinweise gegeben werden, kommt Lily hier die Peitsche in den Sinn. Dass es dazu ein geflügeltes Wort von Nietzsche gibt, wird nicht weiter verfolgt, obwohl der deutsche Philosoph (in englischer Übersetzung und in popularisierender Vereinfachung) das Programm vorgibt, das hier zuerst durchexerziert und dann einer Revision zugeführt wird.

Lily Powers ist die Tochter eines Mannes, der eine illegale Kneipe für hart arbeitende und entsprechend kulturlose Männer betreibt. «They're pretty mangy», sagt sie, «ganz schön räudig.» Die erste Handlung, die wir von ihr sehen, ist, dass sie die Blumen vor dem Fenster vom Fabrikstaub befreit. Lily muss sich irgendwie aus dieser Welt befreien, ein älterer Mann, ein Sonderling, weil er liest, zitiert für sie aus dem Will to Power: «Exploit yourself.» Nütze die Macht, die du über Männer hast.

Das klappt schon von dem ersten kritischen Moment an, in dem Lily und Chico einen Waggon nach New York mit einem fremden Mann teilen müssen, sehr gut. In der großen Stadt arbeitet und schläft sie sich dann die Etagen hoch, begleitet von einem Chor biederer Kolleginnen: «Baby Face is moving out of her class.» Erzählt wird das in einer angemessen schematischen Weise, mit Szenen, die einander entsprechen, und dabei auch jener ursprünglichen, in der ihr Vater sie bedenkenlos einem Mann feilbietet, der eine schützende Hand über seinem Geschäft hat.

Sorgfältig bereitet Green dabei (auf Grundlage einer Geschichte von Darryl F. Zanuck!) motivisch den entscheidenden Moment vor. Chico hat nämlich die ganze Zeit ein Lied auf den Lippen, eine klassische amerikanische Blues-Nummer: Saint Louis Woman (hier in einer Interpretation aus Boardwalk Empire). Dieser Blues verändert im Lauf von Baby Face allmählich seine Bedeutung, denn zuerst kann Lily ihn gleichsam zu einem Motiv für ihren Protest machen; sie muss die Klage darin erst entdecken.

Sie muss dabei auch Nietzsche überwinden, von dem ihr Mentor aus der Provinz ihr später noch ein zweites Buch schickt (Thoughts out of Season). Dort findet sie einen weiteren falschen Imperativ: «Crush out all sentiments.» Lange bleibt dabei in der Schwebe, ob das Kalkül als die alles bestimmende Haltung sich durchsetzt, ob wir hier also einfach die Konsequenzen einer Karrierelogik sehen, die eine Frau mit der ihr zu Gebote stehenden Macht («You have power over men») durchzieht, um sich in Sicherheit (auch vor den Männern) zu bringen. Das Ende, das Baby Face findet, erscheint im Vergleich dazu konventioneller, aber auch weniger destruktiv.

Denn Lily Powers müsste sonst erkennen, was Green in einer Montagesequenz anschaulich macht: dass ihr Leben zu einer «broken record» werden könnte, dass sich die Musik von der glänzenden Schallplatte, vor deren Hintergrund alle ihre Männer Revue passieren, irgendwann endlos wiederholen könnte. In diesem Moment setzt noch einmal Saint Louis Woman ein, und Nietzsches Peitsche ist vergessen.

 

Baby Face läuft heute, 29. Juni 2014, im Rahmen der Retrospektive Let's Misbehave - Hollywood vor dem Hays Code 1930-1934 um 21.00 im Arsenal in Berlin. Um 19.30 läuft der nicht minder großartige Night Nurse (William Wellman, 1931)