spielfilm

27. September 2009

Um einen kleinen Berg Bestirnter Himmel

Von Ekkehard Knörer

36 vues du Pic Saint-Loup

© Pierre Grise Productions

 

Ich war in den Bergen und sie waren nicht hoch. Ich saß im Garten eines alten Weinguts unter einer Zeder zwischen Hügeln und las. Hinter einem der Berge, die alle geschwungen eher als schroff sind, lag ein anderer Berg, ein Charakterkopf, oder vielleicht eher eine Hakennase ohne Kopf, in der Landschaft. Das ist der Pic Saint-Loup und, wenn man von Montpellier nach Lauret fährt, bewegt man sich etwa im Halbkreis um ihn herum. Er gerät dann, nach und nach, aus dem Blick. In Lauret, einem Dorf, zu dem auch Cazeneuve gehört, das alte Weingut, lebt, wenn er keine Politik macht und wenn er nicht in Frankfurt ist, Daniel Cohn-Bendit. Ich habe ihn nicht gesehen, in Lauret. Dafür war er Stargast einer Talkshow, in die ich ein paar Tage später zappte, im Hotel, in Béziers. Das erwähne ich nur der Vollständigkeit halber. Nichts sonst zeichnet Lauret vor anderen Dörfern aus. Nur einmal am Tag fährt der Bus von Montpellier hierher. Und während Montpellier eine sehr lebendige Stadt ist, werden in den südfranzösischen Dörfern darum herum eher ruhige Kugeln geschoben, denkt man. (Der Vollständigkeit halber sollte ich vielleicht auch erwähnen, dass, während ich etwas später in südfranzösischen Dörfern an Marktplätzen saß und Balzacs Verlorene Illusionen las, in meinem Gymnasium in Ansbach ein Amokläufer mit Molotow Cocktails und Axt auf Mitschülerinnen und Lehrer losging. Ich weiß gar nicht, was ich mir dabei denken oder was ich dabei fühlen soll.)

Die Kamera schwenkt und im Hintergrund sieht man, eine Hakennase in der Landschaft, den Pic Saint-Loup. Auf einer Nebenstraße steht ein Auto und fährt nicht mehr weiter. Die Kühlerhaube ist geöffnet, Jane Birkin steht ratlos davor. Ein schwarzer Porsche fährt vorbei, Jane Birkin macht dem Fahrer Zeichen, aber er hält nicht an. Ein wenig Zeit vergeht. Dann kommt aus der anderen Richtung der schwarze Porsche zurück. Sergio Castellito steigt aus, macht sich an verschiedenen Kabeln des Motors des Autos von Jane Birkin zu schaffen, sagt kein Wort, das Auto springt an, er geht zurück zu seinem Porsche und Schnitt.

Ein winziger fahrender Zirkus als Schauplatz. Eine kleine Zirkusfamilie, man sieht ihr eine lange gemeinsame Vergangenheit an, in die die verstoßene Tochter nach dem Tod des Vaters zurückkehrt. Alles scheint überschaubar, eine Vorgeschichte und eine Gegenwart, aus der diese Vorgeschichte, das sieht man auch, nicht wegzudenken ist. Was gar nicht groß signalisiert werden muss, denn man spürt es ganz einfach. Seelenruhig wirft Jacques Rivette wie Bälle, mit denen er jongliert, seine Bilder in die Luft und natürlich fällt keins je zu Boden. Im Hintergrund gar nicht so oft, aber gelegentlich doch der Pic Saint-Loup und vielleicht besteht der Film, der für Rivettes Verhältnisse sehr kurz ist, tatsächlich aus nicht mehr als 36 Einstellungen. Das soll jemand anders zählen, zum Beispiel David Bordwell. In den Einstellungen zu sehen sind Dörfer, die aussehen wie die Dörfer, durch die wir fuhren mit unserem hübschen Fiat Cinquecento (Mietwagen, Montpellier, Europcar), sind Plätze in diesen Dörfern, die aussehen wie die Plätze, an denen wir in unserem Urlaub saßen und eine Orangina tranken oder einen Café Crème.

Wenn ich nach meinem Lieblingsregisseur gefragt werden, antworte ich in der Regel: Jacques Rivette. Es ist letzten Endes nicht wirklich zu erklären, warum man mit den Werken bestimmter Künstler so glücklich, so einverstanden ist, dass man niemals genug von ihnen bekommt. Hong Sang-Soo, den ich auch sehr liebe, hat mir in einem Interview einmal gesagt, der Künstler, bei dem für ihn alles stimmt, sei Cézanne. Und zwar, weil in dessen Bildern das Verhältnis von Abstraktion und Konkretion für sein Gefühl genau richtig sei. «Als ich zum ersten Mal Bilder von Cézanne sah», sagte Hong, «wusste ich sofort: Ja, das ist es!» So erging es mir von Anfang an mit Rivette. Genau so, wie er die Welt zeigt,  in den vollkommenen und auch in den nicht so vollkommenen seiner Filme, genau so, wie er Menschen in ihnen zeigt und vor allem das Verhältnis, in das sie sich zum Leben, zur Welt setzen, genau so will ich die Welt sehen. Was ich aber erst erfahren habe, als ich sie so das erste Mal durch Rivettes Augen sah. Es ist das Glück, etwas zu finden, das man zuvor nicht einmal richtig zu suchen verstand. Und wenn ich in einem Satz sagen sollte, was dieses Glück genau ausmacht, so lautete dieser Satz: Immer geht es in seinen Filmen ins Freie.

Auf Plätzen in Dörfern, im Freien, aber immer wieder auch im winzigen Zirkuszelt sehen wir in Kleidern von Armani den Mann mit dem Porsche, er heißt Vittorio, aber Namen sind Schall und Rauch, sehen wir Kate, die mit der energischen Verzagtheit Jane Birkins an ihrer Vergangenheit laboriert. Vittorio und Kate umkreisen einander und Jacques Rivette wirft die Dialoge von Pascal Bonitzer und die Improvisationen seiner Darsteller mit einer Leichtigkeit in die Luft, da kann man nur staunen. (Ich habe den Film in Paris gesehen und mein Hörverständnis des Französischen lässt zu wünschen übrig. Man versteht aber alles sehr gut, gerade weil Jane Birkin und Sergio Castellito keine Muttersprachler sind. Sie sprechen ein in jeder Hinsicht akzentuiertes Französisch.)

Alle Rivette-Filme sind von Membranen durchzogen. Sichtbaren und unsichtbaren. Sichtbar ist hier der Zeltstoff, der zwischen die südfranzösische Außenwelt und die Zirkus-Innenwelt wie ein Vorhang fällt. Und im Innern des Zelts noch der Vorhang, durch den für ihren Auftritt die Artisten treten und vor allem die Clowns. Deren Sketch, der wirklich an nichts so sehr wie an etwas von Beckett gemahnt, ist ein Herzstück des Films, dessen Struktur darin besteht, die Dialoge immer wieder von Auftritten unterbrechen zu lassen. Oder vielleicht darf man gar nicht von Unterbrechungen sprechen, denn das eine gleitet zwischen das andere wie ein Molekül durch Membranen von einem Milieu in ein andres, verwandtes. Und dann gleitet es wieder zurück, manches bleibt in der Schwebe. Denn eigentlich sind es eher Zustände des Zwischen, die die Atmosphäre in Rivette-Filmen ausmachen. Zwischen: Fiktion und Realem; Leben und Auftritt; Gehen und Tanzen; Sprechen und Singen; Ernst und Spiel. Und in diesem Zwischen, in diesen Leben mit und in Membranen, ist alles das eine und das andere zugleich und etwas anderes, drittes, sehr eigenes auch. Ja, dieses sehr eigene, dieses unnachahmlich Rivette-Artige vor allem. (Manny Farber, von dem ich viele Texte gelesen habe unter der Zeder von Cazeneuve, sagt, ich zitiere aus dem Kopf, dass es um eine Zentrumslosigkeit geht bei Rivette, darum, die Dinge an den Rand zu bewegen, am Rand in den Blick zu bekommen und so auch den Rand selbst. Auch das scheint mir wahr. Das Zwischen und der Rand sind einander verwandt und vertraut. Die Geschichten und Figuren von Rivette-Filmen sind Glossen ohne Text; und zwar so, dass man den Text nicht vermisst. Im Gegenteil wünscht man sich, dass die Idee des Texts überhaupt aus der Welt verschwände und alles nur Glosse wäre immerzu.)

Einmal nachts gingen wir von Cazeneuve nach Lauret. Keine Laternen an der Seite der Straße, ein Hügel, der das Dorf noch eine Weile, während man geht, gegen den Blick schirmt. Es ist sehr finster um einen herum und man kann gar nicht anders, als in den Himmel zu blicken und seine Bestirntheit anzustarren, eine abertausendfache Bestirntheit, die einen als Städter geradezu bestürzt. Man fühlt sich geborgen oder schutzlos oder beides oder etwas dazwischen. Dann geht man über den Hügel, sieht die Lichter vor einem von Lauret. Ich habe gehört und gelesen, dass es Jacques Rivette nicht sehr gut geht. Wahrscheinlich ist 36 vues du Pic Saint-Loup sein letzter Film. Es liegt ein Abschied, eine Wehmut in seiner Geschichte – obwohl sie eigentlich eine Erlösungsgeschichte ist und unendlich leicht –, die einen anstecken kann. Am Ende treten die Darsteller in kleinen Auftritten durch die Zelttür wie durch einen Vorhang. Die Geschichte endet in diesem Fortgang. Ein kleines Schluss-Rondo. «Around a Small Mountain» lautet der englische Titel des Films. Erst dachte ich, es würde darin die Ehre des Pic Saint-Loup doch etwas gekränkt. Aber er ist wirklich nicht hoch. Und es ist dies zwar ein ganz großer Film, aber auch und gerade, weil er so klein ist.