spielfilm

5. Dezember 2009

Von Niemandsland nach Anderswo Alain Tanner zum 80. Geburstag

Von Daniele Dell’Agli

Jonas qui aura 25 ans en l’an 2000

© artfilm.ch

 

Das Calvin-Jahr geht zu Ende, wie es begonnen hat, nämlich unspektakulär, und das dürfte ganz im Sinne des Widmungsträgers sein. Wer zuguterletzt noch nach den unwahrscheinlichen Echos seines Wirkens in der zeitgenössischen Kunst sucht, dürfte am ehesten im Werk des bedeutendsten Schweizer Filmemachers fündig werden, der ebenfalls Jubiläum feiert: Alain Tanner wird am 6. Dezember achtzig. Es sind kaum merkliche Spuren, zugegeben, weil sie auf das verweisen, was es bei Tanner nicht gibt, was aber gerade durch diese Abwesenheit seine Filme so bedeutsam und so aktuell für die Ästhetik des Kinos in unserer Zeit macht.

Am Anfang stand die Flucht aus der Schweiz, nach Genua, aufs offene Meer, doch es war keine Flucht vor der Schweiz, denn daß der junge Tanner für die nüchterne  Filmsprache des italienischen Neorealismus, die Experimente des Free Cinema oder für die Kargheit Bressons empfänglich wurde, verweist allemal auf seine Genfer Herkunft. Und auch daß er mit Goretta und Soutter Ende der 60er Jahre das Schweizer Kino neu erfinden mußte, erweist sich rückblickend als ein Glücksfall. Das Voraussetzungslose, Unbelastete dieses Anfangs mit Charles mort ou vif (1969), die mit ihm verbundenen Freiheiten einer «Ästhetik der Armut» hat er sich bis zu seinem letzten, seinem Abschiedsfilm Paul s’en va (2004) zu bewahren gewußt.

Man kann leichter sagen, worum es in Tanners Filme nicht geht: Sex-and-Crime, Action, Mystery, Fantasy, Horror; Familiendramen, Psychodramen, Sozialdramen, Historiendramen; religiöse, ethnische, moralische Auseinandersetzungen. Keiner seiner Filme fügt sich einer Genredefinition. Selbst Beziehungskonflikte eskalieren bei ihm nie zu Tragödien, werden umgekehrt aber auch nie in komödiantische Gefälligkeit aufgelöst. Die Mitte der Welt (1974), eine abgeklärte Studie über die ganz pragmatische Unmöglichkeit einer Liebe zwischen Mann und Frau, fasziniert nach wie vor mit seiner einzigartigen Balance von Empathie und Distanz, die ohne jede Psychologie den Prozeß der Annäherung, Vereinigung und Entfremdung des Paars protokolliert. So unaufgeregt, so lakonisch und dabei atmosphärisch genau ist das Scheitern einer Beziehung nie wieder gezeigt worden. Daß solch ein Film den Zuschauer wider Erwarten eher elektrisiert als aufgewühlt oder gar deprimiert entläßt, verdankt sich einem ästhetischen Konzept, dessen Elemente typisch für Tanners Schaffen insgesamt sind.

Da ist zum einen die konsequente Vermeidung jeder Dramaturgie, die über eine Identifikation des Zuschauers mit den Figuren seine Affekte manipulieren könnte. Die Geschichte steuert nicht über Handlungsmuster, Plot Points usw. auf irgendeinen Schluß, einen finalen Paroxysmus zu, sondern «erzählt» werden Situationen, Momente, Zustände mit offenem Anschluß, die paradoxerweise umso überraschender wirken, je weniger sie konstruiert, je realitätsnäher sie erscheinen. Für den lockeren narrativen  Zusammenhang sorgen tagebuchartige Chronologien – explizit das Kamera-Tagebuch in Dans la ville blanche (1983) oder das Journal de Lady M. (1993); die magische Ausstrahlung wiederkehrender Orte und Landschaften (in Le milieu du monde ist es die Wasserscheide zwischen Rhein und Rhône bei Eligoz in der Westschweiz); und natürlich die körperliche und mimische Präsenz der Schauspieler, denen Tanner Zeit und Raum gibt, die Figuren aus sich selbst heraus zu gestalten, statt sie einfach eine Rolle «besetzen» zu lassen. Weshalb selbst Stars wie Bruno Ganz (Dans la ville blanche) Jean-Louis Trintignant (La Vallée Fantôme, 1987) oder Francisco Rabal (L’homme qui a perdu son ombre, 1993), ein wenig fremd oder «daneben» wirken ohne den Rückgriff auf ihr gewohntes Repertoire. Genau das ist aber gewollt: der Zuschauer soll sehen, daß sie spielen, soll nicht wunschlos in die Illusionsmaschinerie des Kinos aufgesogen werden.

Um die «richtige Distanz» des Zuschauers, um Verfremdung im Brechtschen Sinne geht es immer bei Tanner, der dieses Stilmittel jedoch mit leichter Hand, ohne die Provokationen und essayistischen Verdichtungen seines Landsmanns Godard zu instrumentieren weiß, ganz gleich ob er Travelling und Plansequenzen einsetzt («das Kino ist nicht das Leben, sondern eine Art, es zu betrachten, es zu zeigen – darum muß man den Blick der Kamera spüren»), mit Originalton oder Off-Kommentar arbeitet. Mit La Salamandre (1971) ist ihm sogar ein heiter verspielter Film über das Filmemachen gelungen – über das Recherchieren und Schreiben, die Unmöglichkeit sich erzählend einem Vorfall zu nähern, der sich «wirklich» ereignet hat, die Reibungen und Versionskonflikte der verschiedenen Ansätze und Ebenen, das Scheitern des Projekts. Ein veritabler «Film-discours», der die Prämissen seiner Entstehung (an der John Berger als Drehbuchautor beteiligt war) so selbstverständlich in Frage stellt und dementsprechend seinen Fortgang modifiziert, daß der Zuschauer die Lektion erst im Nachinein bemerkt.

Das Desinteresse an Geschichten, genauer an Fiktionen (bis hin zum völligen Verzicht auf ein Storyboard), ihre Zurückstellung hinter Personen und Orte enthebt Tanner nicht des Erzählens; aber es nimmt seiner narrativen Logik die Zeitordnung. «Manchmal genügt es, sagt er, eine Einstellung 40 Sekunden statt 10 dauern zu lassen, um das ganze Erzählkonzept und die Erwartungen des Zuschauers durcheinander zu bringen.» Solche Irritationen sind nichts weniger als Angebote, einen erwachsenen, selbsttätigen Blick einzuüben, einen, der es aushält, sich in einer Welt ohne prästabilierten Sinn zu orientieren. Denn mit seiner Absage an die traditionelle Erzählweise suspendiert Tanner auch die Teleologie, die für gewöhnlich das Handeln der Figuren nach Maßgabe von Absicht und Verwirklichung organisiert und die das Ende der Geschichte (des Ende des Films) als erreichtes Ziel begreifen läßt, von dem aus rückblickend das Geschehene/ Gesehene seinen beruhigenden, manchmal auch beunruhigenden Sinn erhält.

Entsprechend läßt der Genfer Regisseur seine Protagonisten eben diesen rebellischen Eigensinn leben, den er filmisch vermittelt. Seine Figuren kennen weder Termindruck noch Konkurrenzneid, ihre Beziehungen untereinander sind nicht durch Machtspiele der Kontrolle, Verfügung, Beherrschung (oder Verfolgung, Befragung, Entblößung) gekennzeichnet; sie «repräsentieren» nicht diesen oder jenen Typ, Beruf oder Charakter, sondern ein trotziges Fürsichseinwollen jenseits zuordnender, zuschreibender, identifizierender Blicke. Es sind Streuner, Aussteiger, Verlierer, keine Leistungsträger; Zweifler, Melancholiker, Libertins, keine Funktionsträger. Das Experiment utopischer Umgangsformen, das in Jonas qui aura 25 ans en l’an 2000 (1976) auf anarchisch-komödiantische Weise den Geist von ’68 lebendig hält, durchzieht alle Filme Tanners.

Was man die Unschuld dieser Figuren genannt hat, könnte man auch als ihre Unbestimmtheit beschreiben: sie lassen sich ebensowenig einordnen wie seine Filme, weil sie entweder noch auf der Suche sind (wie die junge aufsässige Rosemonde in La Salamandre (1971) oder wieder auf der Suche wie der renitente Unternehmer in Charles mort ou vif (1969) – nach ihrem Platz in der Welt, ihrer Bestimmung, ihren Ausdrucksmöglichkeiten, Musil würde sagen: nach ihren Eigenschaften. Es ist das Unfertige, Offene ihres Wesens, das Unbestimmte ihres Tuns – und nicht irgendeine ideologisch verfestigte Vorstellung von Zukunft, das ihnen etwas Utopisches verleiht. Den utopischen Impuls beschreibt Tanner selbst als «Wunsch anderswo zu sein, fliehen, sich verlieren, um sich wiederzufinden».

Damit ist ein weiteres Grundmotiv seines Oeuvres angesprochen: die (sehr schweizerische) Sehnsucht nach weiten Horizonten des Auges und der Seele, die, wenn man die Berge nicht liebt, zwangsläufig über die engen Grenzen des Landes hinaus treibt, zum Beispiel zu regelrechten Höhenflügen nach Irland (Les années lumière, 1981) oder melancholischen «Driften» in Lissabon (Dans la ville blanche, 1983 und Requiem, 1998) und Andalusien (L’homme qui a perdu son ombre, 1993). Versuche, der gleichen Sehnsucht nach Neuanfang und Ungebundenheit innerhalb der Schweiz nachzugeben, enden hingegen tragisch in den beiden Filmen, die deshalb auch aus dem Rahmen des Tannerschen Gesamtwerks fallen: Messidor (1979) und No man’s land (1983).

Sowohl die beiden Mädchen auf ihrer ungeplanten Flucht quer durch die Schweiz als auch die vier jungen Leute, die unschlüssig im Niemandsland zwischen zwei Grenzen verharren, hadern mit den trostlosen Verwicklungen, die sich ergeben, wenn eine diffus empfundene Perspektivlosigkeit durch sehr konkrete Erfahrungen der Heimat- bzw. (im Fall der beiden Ausreißerinnen von Messidor) der Obdachlosigkeit verschärft wird. Weder die gleichgültig schweigende Naturlandschaft noch die häßlichen Stadt- und Straßenfluchten (nur bei Godard erreicht der Autolärm eine ähnlich enervierende, aber völlig realitätsgetreue Aufdringlichkeit) vermögen den Figuren tröstend gegen Unverständnis, soziale Kälte und polizeiliche Verfolgung beizustehen. Und doch sorgen die eigenwertige Präsenz der Orte und die elliptisch-episodische Erzählweise auch hier für eine Entdramatisierung der Geschehnisse, die diese Filme allen Genrestandards (etwa Road-Movie oder Schmugglerkrimi) weit entrückt.

Dem Niemandsland im Raum entspricht das Zwischenreich der stillgestellten Zeit im Lissabonner Requiem. In diesem mit seinem Hauptdarsteller zwischen Traum und Realität schlafwandelnden Film (nach einem Roman von Antonio Tabucchi) geht es um die Kunst des Abschiednehmens, des Nachholens versäumter Abschiede von Toten, von der Vergangenheit sowie um Tabucchis persönlichen Abschied vom geistigen Mentor der Inszenierung, Fernando Pessoa. Mit gelassener Geste und großer Selbstverständlichkeit wird der Zuschauer in das offenbare Mysterium eingeweiht, daß der Mensch auch ohne Rekurs auf die Trostrituale der Religionen diese Aufgabe bewältigen kann, ja sie sogar mit größerer Intensität und Glaubwürdigkeit ohne sie «absolvieren» kann.

Man hat in Tanners Suche nach Authentizität des Ausdrucks, nach Wahrhaftigkeit der Darstellung, aber auch in seinem pädagogischen Ethos (Jonas und Paul s’en va) rousseauistische Themen entdeckt, sicher zu Recht. Die Metapher vom Niemandsland als mindestens ambivalente Utopie existentieller Obdachlosigkeit (beklemmend und befreiend zugleich) zeugt darüber hinaus von der paradoxen Vollendung eines calvinistischen Projekts: der Reinigung der Welt von allen sinnlichen «Gotteszeichen», die dem Genfer Reformator zufolge dem Begriff Gottes als eines Geistwesens widersprechen. Die entsakralisierte, bis in die Grammatik der Filmsprache von Transzendenzverweisen abgeräumte Welt ist Ausgangspunkt und Spielraum der Selbstfindung im Werk des Schweizer Autorenfilmers.

Es gehört zu den (durchaus bitteren) Ironien unserer Medienepoche, daß eine derart subtile und hochdifferenzierte Ästhetik heute als ikonische Diät, als minimalistisches Entschlackungsprogramm erscheinen muß. Bekanntlich hatte Calvin nicht die Bilder allgemein verdammt, sondern nur jene, die Anbetung heischen, also Heiligenbilder und Gottesdarstellungen – im vollen Bewußtsein ihrer Verführungs- bzw. Ablenkungskraft. Als fernen Reflex dieses theologischen Rigorismus spürt man bei dem Absolventen des Genfer Collège Calvin allenthalben den Unwillen, die Register der Täuschung zu bedienen, ein Mißtrauen gegenüber Expressivität (als Theatralik, Simulation, dramaturgischen Attraktor), nicht zuletzt die Schmucklosigkeit der Ambientes. Bildaskese heißt bei ihm Konzentration auf die Einstellung, die nur so und nicht anders gedreht werden kann, heißt Warten auf den Moment der Schönheit, der nur einmal kurz aufleuchtet: Du sollst Dir kein Bild von der Realität machen, sie zeigt sich selbst. Nur wer darauf zu achten und zu warten versteht, läßt den Dingen und Figuren ihr Geheimnis, wie der Regisseur in La Vallée Fantôme (gespielt von Jean-Louis Trintignant) sagt. Verglichen mit dieser Ästhetik der Kargheit und der Zurückhaltung nehmen sich sogar die Produktionen der sogenannten Berliner Schule des neuen Realismus (die Filme Angela Schanelecs ausgenommen) wie opulentes Ausstattungskino aus.

 

Bulle Ogier (La Salamandre)

© artfilm.ch

 

Bildaskese heißt umgekehrt Verzicht darauf, Zuschauer mit idolatrischen Schlüsselreizen zu ködern, mit Diven und Alpha-Männchen, mit Mord und Vergewaltigung, Rache, Verrat und kaputten Typen. Das wird nirgends so deutlich wie an den Frauenfiguren, die bei Tanner weder als Blickfang noch als Ornament, weder auffällig gestylt, noch demonstrativ auftrumpfend erscheinen. In den 70er Jahren entwerfen Bulle Ogier (La salamandre) und Olimpia Carlisi (Le milieu du monde) das utopische Bild eines Frauentyps, der ohne Opferhaltung oder Anspruchsdenken eine unverkrampfte, ja frohgemute Selbständigkeit auf Augenhöhe mit den Männern sucht. Mit Une flamme dans mon coeur entdeckt und feiert Tanner, angestiftet von Myriam Mézières (die auch die Hauptrolle spielt) 1987 eine neue Dimension des Darstellbaren: die obsessive Sinnlichkeit einer Frauenfigur, die entschlossen ist, das leidenschaftliche Verlangen, das von ihr Besitz ergriffen hat, bis zum Selbstverlust auszuleben. Der Raum der Intimität, in früheren Filmen diskret angedeutet, wird jetzt zum Schauplatz ostentativer Sexszenen, die bei aller exhibitionistischen Schamlosigkeit nie den pornographischen Blick bedienen. Wie auch in den folgenden Filmen von und mit Mézières (Journal de Lady M, 1993 und Fleur de sang, 2002) gelingt es Tanner, die Nackheit, Wildheit des Verlangens selbst diesseits seiner Simulakren zu zeigen.

«Pas comme ci, comme ca» (nicht so als ob, sondern einfach so) lautet die operative Maxime des Filmemachers, die man seiner phantasmen- und simulakrenseligen Branche gern für eine dringend gebotene Entziehungskur verschreiben möchte. Mit diesem konstativen Gestus hat Alain Tanner ein halbes Jahrhundert lang Filme gemacht, die nichts von ihrer befremdlichen Direktheit, Unverstelltheit verloren haben. Von ihm können künftige Hochschulabsolventen am ehesten lernen, wie wenig dazu gehört, einen guten, originellen, wichtigen (nicht überflüssigen), einen immer wieder «ersten» (kleinen großen) Film zu drehen – vorausgesetzt man hat eine Idee, ein Konzept sowie Augen und Ohren für die Evidenz des «So und nicht anders».


DVD-Edition der Filme von Alain Tanner bei artfilm.ch