26. September 2010
Wildes Wissen Zur Filmreihe Suffragetten - Extremistinnen der Sichtbarkeit
Als junges Medium hat das Kino das Privileg, seine eigenen Ursprünge immer wieder neu entdecken zu können. Produktiv sind Rückblicke auf die ersten Jahrzehnte des Films dann, wenn sie nicht mit dem Ziel einer einfachen Rückversicherung unternommen werden, sondern versuchen, vermeintliche Sicherheiten zu unterminieren. Einen solchen Versuch stellt die umfangreiche, aufwändig kuratierte Filmreihe “Frühe Interventionen. Suffragetten - Extremistinnen der Sichtbarkeit” dar. Insgesamt 77 Filme, hauptsächlich britische, französische und italienische, auch einige deutsche, sind (waren) in neun Programmen vom 23. bis zum 27.09. im Berliner Zeughauskino zu sehen. Einige Filme des Programms sind außerdem auf der unbedingt empfehlenswerten DVD-Veröffentlichung der Cineteca di Bologna Cento anni fa: Attrici comiche e suffragette 1910-1914 / Vor 100 Jahren: Komikerinnen und Suffragetten 1910-1914 enthalten, die im Rahmen der Reihe vorgestellt wurde.
Der Ausgangspunkt des Projekts ist eine auf den ersten Blick zufällige Koinzidenz. Parallel zum Siegeszug und der langsamen Konsolidierung (beziehungsweise Verbürgerlichung) des Kinos radikalisiert sich die Frauenbewegung, zu deren Verkörperung die britischen und amerikanischen Suffragetten werden. Die meisten Filme des Programms stammen aus den frühen Zehnerjahren. Die Suffragetten sind in aller Munde, das Kino befindet sich in einer transitorischen Phase: Nicht mehr die ungerichtete Wildheit des ganz frühen early cinema, aber noch kein continuity system mit verbindlichen dramaturgischen Regeln und ästhetischen Normen.
Den Zusammenhang zwischen emanzipatorischen Bestrebungen und frühen Kinoformen zu untersuchen, ist keine ganz neue Idee (siehe z.B. Miriam Hansen: «The Cinema as an Alternative Public Sphere» in Babel and Babylon: Spectatorship in American Silent Film und Heide Schlüppmann: Unheimlichkeit des Blicks. Das Drama des frühen deutschen Kinos). Die Filmreihe im Zeughauskino schließt an eine theoretische Tradition an und verbindet sie mit einem alternativen Filmkanon des frühen europäischen Kinos. «Frühe Interventionen» bringt auf einleuchtende Weise dokumentarische Filme über die Frauenbewegung mit kurzen, wilden Slapstickkomödien zusammen. Das sind meist seriell produzierte, teilweise sketchartig aufgebaute Miniaturen, die in den frühen Zehnerjahren in ganz Europa außerordentlich populär waren, in der Filmgeschichtsschreibung jedoch bis heute keine große Rolle spielen.
Die Filmreihe leistet dabei unter anderem die Archäologie eines vergessenen Starsystems, das noch nicht ganz eines des Kinos ist und eng zusammenhängt mit Vaudeville, Music Hall, Boulevardtheater. Ein Starsystem, das nicht über die Großaufnahme funktioniert, weil die Starkörper wirklich Körper sind, nicht nur Gesichter. Ein Starsystem auch, das zumindest insofern geschlechterblind ist, als dass auch die weiblichen Stars zum Bewegungszentrum werden können.
Überhaupt sind die Typologien, die diese kurzen, meist nicht einmal zehn Minuten langen Filme anbieten, vielfältig. Die kleine, exaltierte, wild gestikulierende, großartig vulgäre Cunégonde (der Ruß in ihrem Gesicht, ihre abrupten Armbewegungen); die hochgewachsene, sportliche, etwas burschiköse Tilly (die entschlossenen Bewegungen, wenn sie ihr langes Haar unter einem Hut versteckt, kurze Momente des Luftholens inmitten des ungebremsten Mayhems, der ihre Filme sind); die rundliche, rustikale, lebensfroh-anarchische Rosalie (die Faustschläge auf den Esstisch, Freudensprünge beim Belauschen des Heiratsantrags); die zurückhaltende, elegante, kapriziöse Gigetta (immer ein wenig bitchy, die Augen verzweifelt gen Himmel gedreht, wenn sie eine schlammige Straße überqueren muss); und so weiter... Das sind nicht nur sehr unterschiedliche Konzeptionen von Weiblichkeit, sondern jeweils ganz eigene Welten, ganz eigene Ausdrucksformen und Ausformungen von Begehren - die dem Kino, zumindest dem Europas und dem Amerikas, wenig später ziemlich komplett abhanden gekommen zu sein scheinen. Auch heute noch spürt man den Verlust, etwa in Hollywoodkomödien, die über Männlichkeit so viel, über Weiblichkeit aber so gut wie gar nichts zu sagen haben.
Die Filme bestehen aus einer überschaubaren Anzahl von Tableaus, die jeweils einen, meist mehr oder weniger in sich geschlossenen Schauplatz zur Gänze zeigen. Irgendwo beginnt eine Bewegung und die Filme geben dann keine Ruhe, bis der gesamte Bildraum dynamisiert ist. Die unkontrollierbare, wendige Léontine bindet ein Fahrrad an das Regal eines Gemischtwarenhändlers. Als der Besitzer des Rads losfährt, ist die Aufregung groß. Ein wuchtiger Mann mit denkwürdiger Barttracht wurde schon vorher im Bildvordergrund platziert und wird zum Sündenbock, während Léontine im Hintergrund entkommt (Les Ficelles de Leontine, Frankreich 1910).
Allgemein sind die französischen Filme des Programms besonders wild. Die energische und ausgiebige Zerstörung gutbürgerlicher, opulent ausgestatteter Wohnstuben (vollgestopfte Frames, auch in den Außenszenen, alles muss in den Rahmen) ist ihnen oft schon Handlung genug. Und Essensschlachten gibt es meistens noch dazu. Rosalie und wiederum Léontine werden, als sie sich im Theater ungebührlich benehmen, mit Eiern und Gemüse beworfen, können aber trotzdem nicht ruhig gestellt werden, ganz im Gegenteil: Sie schlagen mit Körperflüssigkeiten zurück und bleiben stets Mittelpunkt des Geschehens. Im Gegenschnitt dann die hilflos konventionelle Melodramatik auf der Bühne. Ein früher Triumph des Kinos über das Theater und die ihm zugehörige gute Gesellschaft (Rosalie et Léontine vont au théâtre, Frankreich, 1911).
Nicht im Filmprogramm, aber auf der DVD zu finden ist Une querelle de menage (Frankreich, 1911), ein völlig unglaublicher Film. Rosalies Ehemann beschwert sich am Mittagstisch über die Suppe, daraufhin nimmt sie erst einmal das Wohnzimmer auseinander. Dann verkeilen sich die beiden ineinander und rollen den restlichen Film über im Zuge ihrer wenig subtil sexualisierten Prügelei nicht nur durch ihr mehrstöckiges Haus, sondern danach auch noch durch die gesamte Ortschaft, landen in der Kanalisation, überwinden die Schwerkraft und schweben am Ende wieder in das zerstörte Wohnzimmer. Auch die italienische Lea zerstört auf der Suche nach einem Wollknäuel das gesamte Anwesen ihrer Eltern. Lea e il gomitolo (1913) ist dabei einer der wenigen Filme mit einer unmittelbar feministischen Pointe: Das Mädchen täuscht Tollpatschigkeit vor, weil sie lesen möchte, anstatt Hausarbeit zu verrichten. Gerade die Filme, die sich direkt mit der Frauenbewegung beschäftigen, sind an der Oberfläche ganz im Gegenteil oft eher konservativ. Aber die restaurativen Schlusspointen, die in dieser Hinsicht die moralisierenden Filmenden amerikanischer Gangsterstreifen vorweg nehmen, muss man keineswegs wichtiger nehmen, als das, was ihnen vorausgeht und weitaus mehr Eindruck macht: Bewegungsdynamiken des Ungehorsams, lustvolle Entweihung großbürgerlicher Texturen.