spielfilm

9. Dezember 2008

Zeichen und Botschaften Das Arsenal in Berlin zeigt in diesen Wochen türkisches Kino von den 1960er Jahren bis in die Gegenwart – ein Anlass für eine Passage durch einige wichtige neuere Filme aus diesem Land

Von Bert Rebhandl

Yumurta

© trigon-film

 

In ein Antiquariat in Istanbul tritt eines späten Abends eine schöne Frau. Sie ist auf dem Weg zu einer Party und sucht noch ein Geschenk. Das Buch, das sie wählt, bezahlt sie mit einer Flasche Wein. So beginnt der Film YUMURTA (Das Ei) von Semih Kaplanoglu. Der Blick, den der Buchhändler der Frau hinterherschickt, enthält viele mögliche Geschichten, nur nicht die, die anschließend erzählt wird. Denn Yusuf, so heißt der Mann, der eigentlich ein bekannter Dichter ist, fährt am nächsten Tag nach Tire, eine mittelgroße Stadt in der Westtürkei. Seine Mutter ist gestorben, aus diesem Grund kehrt er in seine Heimat zurück. Eigentlich möchte er nicht lange bleiben, es erweist sich aber, dass ihn seine Geschichte (und die der Menschen in dieser Gegend) nicht loslässt. So vollzieht er schließlich sogar noch ein Opfer, das seine Mutter vor ihrem Tod gelobt hatte – in Birgi lässt er einen Bock darbringen. Der Mann, der diesen rituellen Akt als Stellvertreter vollzieht, zeichnet Yusuf ein Mal aus Tierblut auf die Stirn.

Die Symbolkraft dieses Bildes ist bezeichnend für das türkische Autorenkino der jüngeren Zeit, in dem es immer wieder zu gelungenen Verbindungen einer zurückhaltenden, beobachtenden Erzählweise mit intensiver Zeichenhaftigkeit kommt. Die Konflikte und Konstellationen, um die es dabei in der Regel geht, sind fast immer der Geographie des Landes eingeschrieben: Die Zentren, allen voran Istanbul, aber auch Izmir oder Ankara, ziehen die gebildeten Menschen an, das Land aber gibt deren Geschichten erst eine historische und kulturelle Tiefe. In TATIL KITABI (Summer Book) von Seyfi Teoman steht ein Junge im Grundschulalter im Mittelpunkt. Der Film spielt in Silifke in der Provinz Mersin in der Osttürkei. Auch hier erscheint früh und markant das Bild einer Verbindung zwischen Zentrum und Peripherie: Veysel, der ältere Bruder von Ali, steigt aus einem Bus aus Istanbul. In dem Sommer, von dem Seyfi Teoman erzählt, löst sich auf tragische Weise der Konflikt mit dem autoritäten Vater. Er erleidet eine Hirnblutung, die wie das Symptom seines Starrsinns und seiner Zornbereitschaft erscheinen mag. Interessant ist, wie sich hier individuelle und nationale Geschichte verbinden. Das «Sommerbuch», von dem im Titel des Films die Rede ist, stammt aus dem Unterrichtsministerium. Die Kinder sollen auch in den Ferien nicht einfach für sich sein, sondern mit der Schule und damit mit der Nation in Verbindung bleiben. Das Buch von Ali wird ihm gleich zu Beginn von einem älteren Schüler abgenommen – er muss nun gewissermaßen sein eigenes Sommerbuch schreiben, und Seyfi Teoman schreibt mit seinem Film eine Nationalgeschichte «von unten», aus der Perspektive eines Kindes, das die Nationalhymne zwar mitsingt und von Atatürk lernt, aber einen ganz anderen Horizont hat.

Wie alle nationalen Kinematographien hat auch die türkische mehrere Aufgaben gleichzeitig zu lösen: sie soll Identität stiften und diesen Prozess zugleich kritisch untersuchen, sie soll das Publikum gewinnen und zugleich herausfordern, sie soll internationales Interesse hervorrufen und den Heimatmarkt versorgen. Dabei gibt es zahlreiche verschiedenartige Ansätze. YUMURTA und TATIL KITABI orientieren sich deutlich an einem international anschlussfähigen, weitgehend realistischen Erzählkino, während zum Beispiel der nationale Star-Regisseur Cagan Irmak, bekannt geworden mit BABAM VE OGLUM (Mein Vater und mein Sohn, 2005), in ULAK (The Messenger) deutlich an traditionelle, religiös erbauliche Geschichten anschließt, dafür aber das ganze technische Vermögen des Kinos (üppiger Soundtrack, Luftaufnahmen, Spezialeffekte) mobilisiert. Gut und Böse sind hier Prinzipien, die geradezu kosmisch wirken; die kindliche Perspektive wird, anders als in TATIL KITABI, mit Phantasie und Wunder assoziiert. Zekeriya, ein älterer Herr, reitet von Dorf zu Dorf und lädt zum Zuhören ein. Er hat etwas zu berichten von einem Boten, der in ein Dorf kommt und dort zuerst einmal auf ein Krankenbett sinkt. Wie sich erweist, ist die Geschichte von Zekeriya nicht nur selbstreflexiv, sondern auch interaktiv. Die Zuhörer können sie mitgestalten, und auf diese Weise bekommen sie einen neuen Blick auf die teilweise sehr bedenklichen Zustände in ihrer Gemeinschaft. ULAK ist eine spirituelle Fabel, die aber durchaus auf irdische Umstände zielt: das männliche Regime erweist sich als verbohrt und unreformierbar. Diese Sozialkritik verbindet sich mit einer Feier kulturellen Erbes, vor allem der weitherzigen Mystik, die gemeinhin auf den Philosophen Mevlana (oder Rumi) zurückgeführt wird.

Der historische Kostümfilm ist in der Türkei ein Genre des Mainstreamkinos, das aber auf intellektuelle Bearbeitung hin offen ist, wie Dervis Zaim in CENNETI BEKLERKLEN gezeigt hat. Diese Geschichte aus dem 17. Jahrhundert handelt oberflächlich von einem Maler, der in die Thronstreitigkeiten dieser Zeit verwickelt wird. Dabei geht es aber von Beginn an auch ganz entscheidend um Fragen der Ästhetik: Kann die realistische Methode der «Ungläubigen» mehr gegen die Unbill der Geschichte ausrichten als die traditionelle islamische Miniaturenmalerei? (In dem Roman Rot ist mein Name von Orhan Pamuk geht es um eine vergleichbare Problemkonstellation.) Dervis Zaim führt seinen Film immer wieder auf diese «Originalbilder» aus dem Osmanischen Reich zurück, und schafft damit für sein Kino eine Reflexionsebene, die wie eine Entsprechung zu den realistischen Strategien seiner Kollegen wirkt. In dieser Spannweite zeigt sich der Reichtum des gegenwärtigen türkischen Kinos.