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28. Mai 2023

Alles hat seinen Kristallisationspunkt Ein Gespräch mit Roman Liubyi

Von Jeva Griskjane

Roman Liubyi hat einen Dokumentarfilm über den Abschuss der Malaysian Airlines-Maschine MH17 über der Ostukraine im Jahr 2014 gedreht: Iron Butterflies lief zuletzt auch auf der Berlinale. Im Gespräch äußert er sich zu seinen Gestaltungsmitteln, aber auch zu seiner Einschätzung möglicher Szenarien für die Ukraine und die Russische Föderation

 

Roman Liubiy

© Babylon’13

 

Jeva Griskjane: Roman, wieso war für Dich das Thema des Abschußes des malaysischen Passagierflugzeugs MH17 so wichtig?

Roman Liubyi: Es gibt mehrere Gründe, weshalb mein Team und ich uns für dieses Thema entschieden haben. Zunächst habe ich 2014 zwei Dokumentarkurzfilme über Kriegsverbrechen auf dem Territorium der Ukraine fertiggestellt. Wir drehten in der Nähe von Mariupol, und es ging ausschließlich um die Erfahrungen vor Ort. Ich fing an, nach Größerem zu suchen, nach einem Fall, der die Erfahrungen eines solchen übergreifenden Kriegsverbrechens auch auf globaler Ebene widerspiegelt. Ich arbeitete vom Anfang an mit einem Team von Künstler*innen zusammen, und wir entschieden, gemeinsam den Fall des Flugzeugabsturzes MH17 zu beleuchten. Uns wurde ziemlich schnell klar, dass wir nicht den vollen Zugang zu dem Ermittlungsmaterial bekommen würden, da es sich um internationale Ermittlungen handelt, die noch nicht abgeschlossen sind. So beschlossen wir, mit den öffentlichen Ressourcen zu arbeiten. Maryna Er Gorbach zeigte auf dem Sundance Filmfestival Klondike, einen Spielfilm, der ebenfalls das Thema des MH17 Absturzes aufarbeitet, jedoch überwiegend aus regionaler Perspektive und als Spielfilm. Wir begriffen, dass eine Auseinandersetzung mit diesem tragischen Vorfall auf globaler Ebene fehlt. Zweifellos bietet dieser Fall auch eine gute Möglichkeit, die drakonische Wirkung der Propaganda Russlands aufzuzeigen.

Wie habt ihr die Recherche geführt?

Es war viel mehr eine Art Entdeckungsreise als das Befolgen eines strikten Plans. Mir fielen gleich zwei Aspekte auf, die ich in den Film integrieren wollte. Es lag mir sehr am Herzen, die persönliche Ebene dieses Falls aufzugreifen und zu zeigen, dass jeder Mensch, der bei diesem Flug ums Leben gekommen ist, einzigartig war. Träume hatte, Sorgen, Pläne — ein Leben. Jede Person hat und wurde geliebt. Mein Vorhaben war es, einen Zugang zu finden, um eine Tragödie dieses Ausmaßes überhaupt begreifen zu können — zu realisieren, dass es hier um jeden Einzelnen der 298 Menschen an Bord geht. Mein Anliegen war nicht nur, mithilfe der Informationen diese Tragödie rational zu erfassen, sondern tatsächlich eine emotionale Wahrnehmung zu ermöglichen.

Der Film beinhaltet Mixed Media. Die Entscheidung, das dokumentarische Filmmaterial mit Performance und Animation zu kombinieren, hatte auf mich eine sehr starke Wirkung und berührt mich auf verschiedenen Ebenen, gleichzeitig intellektuell und sinnlich. Was motivierte Dein Vorhaben in Bezug auf die Gestaltung?

Für mich und mein Team gab es nur einen Weg, diese Geschichte zu erzählen. Die Ermittlungen basieren auf Material, das öffentlich zur Verfügung steht. Überwiegend beziehen die Menschen ihre Informationen über diesen Fall aus dem Internet, über Webseiten, wie beispielsweise die von Bellingcat. Es werden auch diverse Formate veröffentlicht, wie zum Beispiel Google-Suchanfragen oder Social Media. Es lassen sich alle möglichen Variationen digitalen Mülls finden. Wir gingen zunächst einen ähnlichen Weg und suchten nach Möglichkeiten unterschiedliche Formen für diese Narrative zu finden, um uns so von der konventionellen Erzählform zu distanzieren. Diese Dokumentation verlangte nach einer besonderen Auslegung — Wörter oder nur dokumentarisches Material würden, meiner Meinung nach, nicht ausreichen. Es brauchte eine andere Expressivität, das Unfassbare mit der erforderlichen Intensität zu erzählen.

 

© Babylon’13

 

Die Animation zeigt Tauben im Käfig, die in den Flugzeugtrümmern gefunden und dann befreit werden. Fungiert das als Metapher oder verbirgt sich eine wahre Geschichte dahinter?

Da es sich um einen internationalen Kriminalfall handelt, ranken sich viele Mythen darum. Während unserer Recherchen stießen wir auf genannten Mythos. Die lebendigen Tauben, die sich im Transportabteil des Flugzeuges in einem Käfig befunden haben sollen. Angeblich die einzigen Überlebenden des Absturzes. Ein Ortsbewohner nahm den Käfig, samt überlebender Tauben, mit zu sich nach Hause und ließ sie anschließend fliegen. Bekanntermassen ist die Taube weltweit ein Symbol für Frieden. Da ich für diesen Mythos jedoch keinen Beweis habe, entschied ich mich, die Geschichte in Form einer Animation zu erzählen und diese eindrückliche und sehr bewegende, bildliche Vorstellung den Kindern zu widmen, die durch den Flugzeugabschuss ums Leben gekommen sind.

Die Zeichnungen sehen so aus, als ob sie von Kindern gemalt wurden. Es entsteht ein sehr starker Kontrast – wir sehen die grausame Realität der menschlichen Welt darin. In diesem Fall erscheint der russische Staat als Täter mitsamt seinen zerstörerischen Kräften und gleichzeitig sehen wir diese sehr fragilen, unschuldigen Zeichnungen — betont wird dadurch die Unschuld und die Güte derselben grausamen Welt. Diese Gegenüberstellung zeigt noch deutlicher den unermesslichen Grad dieser Tragödie.

Die Entscheidung, die Animation minimalistisch und einfach zu halten, eben diese originalen Zeichnungen zu nutzen, habe ich bewusst getroffen. Die Entdeckung dieser Zeichnungen war allerdings ungeplant und sehr überraschend. Als ich mich mit der Produzentin Anna Zobnina auf der Suche nach einem ruhigen Ort zum Arbeiten machte, entdeckten wir eine Galerie im Zentrum Kyjiws, in der wir auf Wänden riesige Zeichnungen des Flugzeugs sahen, die von Menschen mit mentaler Beeinträchtigung angefertigt worden sind. Erstaunlicherweise haben sich diese Menschen bereits mit dem Thema des MH17-Absturzes auseinandergesetzt. Sie zeichneten das Flugzeug und schrieben daneben: „Ermordet: Mutter, Vater, Bruder“. Ich musste also niemanden suchen, um die Zeichnungen anzufertigen, sie waren längst da.

 

 

© Babylon’13

 

Ich denke an zwei sehr ausdrucksstarke performative Szenen des Films. Die lange Menschenreihe auf dem weiten Feld und eine weitere Szene mit Menschen im Haus, deren Münder mit den Händen Anderer bedeckt werden. Diese Szenen bewirken sehr intensive Imaginationen, bieten aber auch Interpretationsspielraum. Wie habt ihr an der Ästhetik gearbeitet und Entscheidungen für diese Szenen getroffen?

Die performativen Sequenzen dürfen nicht als Ersatz für das dokumentarische Material begriffen werden. Die performative Szene, die die Flugzeugpassagiere in einer Reihe auf dem Feld zeigt, wäre auch mit dem dokumentarischen Material machbar gewesen. Es gäbe sicherlich die Möglichkeit, Videoaufnahmen aus dem Flughafen in Amsterdam zu bekommen, als die Menschen, einer nach dem anderen, in das Flugzeug einstiegen. Das dokumentarische Material zu zeigen war aber nicht meine Absicht, es wäre, meiner Meinung nach, zu radikal. Die performative Szene mit den Ortsbewohnern, deren Münder mit den Händen der Anderen zugedeckt werden, und sie somit stumm und unbeteiligt weiter existieren lassen, hat eine ähnliche Charakteristik. Den Zugang zu den Zeugenaussagen, seitens des Militärs, aus der selbstproklamierten «Volksrepublik Donezk», hätten wir bekommen können. Hier versteht man, dass den Ortsbewohnern befohlen wird, die Fakten über den Flugzeugabschuss zu vertuschen. Es betrifft zum Beispiel die Leugnung über das Vorhandensein der russischen BUK-Rakete in der Donezk-Region, zur Zeit des Flugzeugabschusses. Ich beschloss, diesem Dokumentarmaterial eine neue Gestalt zu geben. Physisches Theater verleiht den komplexen Szenarien der Wirklichkeit oft eine evidente Form, eine weitere ästhetische Dimension. Das künstlerische Konzept erarbeitete ich mit der Performerin Bridget Fiske, eine australisch-britische Künstlerin aus Manchester. Wir trafen uns für drei Tage in Kyjiw, und entwarfen verschiedene Szenen zu den Themen, die uns wichtig erschienen. Die Szenen auf dem Feld drehten wir im Kyjiwer Umland.

Diese Katastrophe zeigt, wie zerbrechlich das Konzept von Grenzen ist. Es könnte auch metaphorisch als grenzüberschreitender Wertekonflikt verstanden werden – das von der russischen Armee abgeschossene Flugzeug kann metaphorisch als Verletzung des wichtigsten menschlichen Prinzips begriffen werden, ein unantastbares Recht auf Freiheit zu haben. Wie siehst Du die Zukunft der Ukraine? Und wie kann der Täterstaat Russland frei sein und bleiben?

Natürlich beschäftigt mich die Zukunft meines Landes und nicht die Russlands. Ich bin kein Experte der Jurisprudenz, aber ich glaube, dass alles seinen Kristallisationspunkt hat. Das internationale Gericht gegen Russlands Kriegsverbrechen nahm seinen Anfang auf jeden Fall mit dem Abschuss von MH17 und hat somit die Basis für die weiteren internationalen Ermittlungen und die Strafverfahren geschaffen. Die Ukraine wird den Krieg gewinnen. Ich mache mir viel mehr Sorgen über die Nachkriegszeit. Es wird sehr viel Zeit in Anspruch nehmen, mit den traumatisierenden Auswirkungen dieses Krieges fertig zu werden. Viele Generationen werden, von heute an, das Kriegstrauma bekämpfen müssen. Unsere Kinder sind bereits geschädigt, und der mentale Schaden wird auch über Generationen hinweg weitergegeben werden. Eine neue Gesellschaft mit PTSD-Syndrom formt sich gerade. Bereits jetzt müssen wir anfangen, nach Heilungsmöglichkeiten -und Methoden zu suchen. Ich bin der Meinung, dass die schwerwiegendsten Probleme erst nach Kriegsende aufkommen. Der Krieg muss so schnell wie möglich beendet werden.

Es gibt eine ziemlich brutale Szene, in der wir sehen, wie Separatisten für Fotos vor dem Hintergrund des Flugzeugwracks posieren. In diesem Moment konnte ich nur daran denken, wie unmenschlich der Mensch sein kann. Wir sehen die Separatisten posierend und lachend im Hintergrund dieses absurden Todes. Von Mitgefühl oder Loyalität für die Opfer, oder ihre Familien, fehlt jede Spur. Es ließ mich über die Dialektik der Grausamkeit nachdenken. Angenommen, dass wir alle Produkte unserer Umwelt sind und von ihr beeinflusst werden, welche Mechanismen nutzt das Putin-System Deiner Meinung nach für solch groteske Schöpfungen?

Ich mag mir nicht vorstellen, was in den Köpfen dieser Menschen abläuft. In diesen Szenen sehen wir tatsächlich Separatisten und ukrainische Bürger, die lächelnd vor dem Flugzeugwrack posen. Die Donbas-Region stand schon immer unter starkem Einfluss Russlands. Wie schafft es Russland, so eine starke Wirkung auf diesen Teil der Ukraine auszuüben? Der Alltag aller Bewohner dieser Region besteht überwiegend aus dem Informationskonsum der russischen Fernsehsender. Die ukrainische Fernsehlandschaft ist ziemlich uninteressant. Russland hat mehr Ressourcen, um Sendungen mit allen möglichen Inhalten zu produzieren. Russische Kultur ist außerdem sehr militarisiert. Viele Menschen aus dieser Gegend sind von ihrem Leben gelangweilt, so banal es auch klingen mag. Neben dem Flugzeugwrack stehend, fühlen sie sich plötzlich wichtiger. Sie senden diese Fotos an ihre Freunde und suchen somit nach einer Bestätigung dafür, dass auch ihr Leben spannende Momente bereithält. Mit diesen visuellen Beweisen sind sie sogar in einen historischen Moment involviert. Wenn man über die Inhalte der meisten russischen TV-Serien oder Filme nachdenkt, findet man überwiegend militärische Motive, in denen auch die Darstellung der (Staats)Gewalt eine große Rolle spielt. Menschen, die seit Jahrzehnten mit solchen Inhalten vertraut sind, erkennen sich selbst in den filmischen Charakteren, sie stellen sehr schnell eine Verbindung her, durch die dann eine Projektionsfläche für das Sympathisieren mit dem Militarismus stattfindet.

In den späten 80ern und 90er Jahren gab es eine Reihe von Filmen, die in Osteuropa produziert wurden, die das Problem der unmotivierten Gewalt behandelten. Filme, wie Alexei Balabanovs Cargo 200, Sergei Loznitsas Mein Glück, Wassili Sigarevs Leben oder Myroslaw Slaboschpyzkyjs The Tribe zeigen sehr deutlich das Problem einer haltlosen Gewalt. Glaubst Du, es existiert ein Unterschied, wie sich Gewalt zwischen dem postsowjetischen Kontext und beispielsweise der westlichen Gesellschaft charakterisiert?

Der Ausdruck „

«Schlägt, heißt liebt» kenne ich nur aus dem russischen kulturellen Kontext. Die von Dir erwähnten Filme kenne ich alle sehr gut. Ich denke, der ukrainische Film entfernt sich von den Darstellungen dieser Hoffnungslosigkeit und Tristesse der 90er. Als ich noch studierte, sahen wir solche Filme gerne, aber irgendwann war damit auch Schluss. Atlantis von Valentyn Vasjanovyč zeigt sehr klar das Gebrochensein der Menschen, die Kriegserfahrungen durchmachten. Sie haben trotzdem das Wichtigste, für das moralische Überleben eines Individuums, beibehalten — Hoffnung und Liebe. Myroslav Slaboshpytskyis Film The Tribe vervollständigt bereits diese hoffnungslose und sehr radikale Wahrnehmung der dargestellten brutalen Wirklichkeit in ukrainischem Kontext. Meiner Meinung nach ist es ein wahrhaftes und kompromissloses Meisterwerk. Hier bemerken wir, dass sich der ukrainische Film weiterentwickelt, er verlässt diesen elenden Raum der Ausweglosigkeit und zeigt Möglichkeiten der Hoffnung auf.

Was macht Dich in diesen Zeiten stark und was motiviert Dich? Ich verliere langsam die Hoffnung und den Glauben an die Vernunft der Menschheit.

Hoffnung ist überall um uns herum. Es ist wahnsinnig schwierig, durchzuhalten in diesen unfassbar schrecklichen Zeiten ohne jegliche Hoffnung auf ein Ende des Leids, eine Besserung, eine positive Entwicklung. Ich werde nicht zulassen, dass die Hoffnungslosigkeit oder Zynismus mein Gefühlsleben dominieren. Ich wuchs glücklicherweise mit ziemlich positiven, nicht von der Depression betroffenen Eltern auf. Eine sichere Basis für die optimale Lebensentwicklung zu haben, ist enorm wichtig. Es liegt etwas Besonderes in der Luft, hier in der Ukraine. Wir sind einfach gezwungen, das Leben zu feiern. Ich kenne so viele Leute, die schreckliche Dinge erleben, und so geht es gerade der gesamten ukrainischen Gesellschaft. Zweifellos, die richtige Wahl zu treffen ist komplex und kann auch weh tun. Wie es aussieht, zeigt sich die Kunst schwächer als die Waffe. Ich kann meine Familie nicht mit einem Film beschützen. Dieses Bewusstsein prägt den Kummer.

 

© Babylon’13

 

Ich bin in den 90ern in Riga grossgeworden und musste sofort nach der Schule Lettland verlassen, weil ich mit dem Gefühl der Sinnlosigkeit und Hoffnungslosigkeit überfordert war. Ich merke, da Du zehn Jahre jünger bist, hat Dich die düstere Realität der 90er nicht beschädigt. Du bist ein Kind der Zukunft.

Die düstere Stimmung der 90er ist tatsächlich ein Phänomen für sich, und gehört zu dieser Zeitspanne. Ich gehöre zu der Generation, die der Zukunft offen und positiv gegenübersteht. Das äußert sich auch in der Dynamik der jungen ukrainischen Generation hinsichtlich Politik und sozialen Engagements.

Es ist sehr verwirrend, Dich via Videoübertragung live in Kyjiw zu erleben, während ich im friedlichen Italien bin. Du lebst und arbeitest immer noch in der Ukraine. War es von Anfang an Deine Wahl? Wie arbeiten heute Künstler*innen in der Ukraine mitten im Krieg?

Viele Menschen, die ich kenne, zum Beispiel aus der Werbebranche oder aus der Musikszene, verloren ihre Jobs und fingen an, Dokumentationen über den Krieg zu drehen. Die meisten besitzen aber keine Fachkenntnisse. Filme über Kriege zu machen ist sehr komplex, es besteht immer die Gefahr der Verblendung aufgrund von Subjektivität. Die Produktionsplattform Babylon 13 arbeitet und veröffentlicht seit 2013 viel zu komplexen Themen, unter anderem zu Kriegsverbrechen. Die Filmemacher*innen suchen permanent nach Förderungsmöglichkeiten. Es ist ziemlich kompliziert heutzutage, Spielfilme zu drehen, aber es ist nicht unmöglich. Russland hat hingegen heute immer noch unzählige Mittel und Möglichkeiten, immer neue Filme zu produzieren. Ganz im Gegensatz zur Ukraine. Russland wird auch Filme über die jetzige Situation der Ukraine drehen. Durch diese, für sie, gewonnene Sichtbarkeit und Stimme wird künftig wohl leider eher die russische Wertung der ukrainischen Kriegsgeschichte dominieren. Diese, von Russland manipulierte ukrainische Geschichte, wird auch auf den Bildschirmen der Menschen landen. Wird zugänglich sein für alle, und das ist fatal.

Was können Menschen in Russland Deiner Meinung nach tun, um die Situation zu ändern oder den Krieg in der Ukraine zu beenden?

Wie Du schon meintest, es scheint erstaunlicher Weise einfach zu sein, russische Menschen zur Gewalt zu bewegen. Gleichzeitig können sie sich aber nicht gegen dieses, angeblich vorhandene, Gewaltpotenzial und das eigene schädigende System und die kriminelle Regierung richten. Es ist wirklich paradox. Ich glaube, die Welt außerhalb Russlands scheitert daran, das Ausmaß der Kriminalisierung Russlands richtig einzuschätzen. Die russische Gesellschaft versteht ausschließlich den brutalen Umgang mit sich selbst und akzeptiert diesen. Ich weiß nicht, was Menschen aus Russland tun können, um die derzeitige Kriegssituation in der Ukraine zu beeinflussen. Sie kümmern sich wenig um die politischen und gesellschaftlichen Sachverhalte ihres Landes, und genau aus diesem Grund haben sie das Recht, autonome und vollständige Bürger*innen zu sein, längst verloren. Menschen aus Russland fühlen keine Verbindung zwischen dem Individuum und dem Staat.

Das soziale und politische Bewusstsein in der Ukraine ist viel aufgeklärter.

Während des Euromaidan diskutierten meine Familie, meine Freunde und ich darüber, was es eigentlich bedeutet, ein*e Bürger*in einer Gemeinschaft zu sein. Für jede*n mag es verschiedene Dinge geben, mit denen man sich identifiziert und nützlich für die Umwelt und ihre Menschen machen kann. Im Film gibt es eine Szene, in der ein russischer Mann sich nur als Tischler identifiziert. Nichtig und unautonom. Er möchte keinen größeren Einfluss auf die Dinge haben. Er ist ‹der kleine Mann›, der sich nur in seiner begrenzten Welt bewegt. Diese Aussage untermauert den Konflikt ‹des kleinen Menschen› innerhalb der Gesellschaft Russlands.

Es scheint, dass viele Menschen in Russland nicht nur keine Verbindung nach Außen, sondern auch nicht zu sich selbst haben.

Oppositionelle Russ*innen und Medien weigern sich trotzdem weiterhin, auf irgendeine Art und Weise Verantwortung für die Situation in der Ukraine zu übernehmen. Häufig verwenden sie Begriffe wie «Putins Armee», «Putins Soldaten». Solche platten Kategorisierungen sind aber unzutreffend. Es sind nicht «Putins Soldaten», die das Leid auf ukrainischem Territorium verursachen, sondern es sind Menschen wie Du und ich, die die Entscheidung treffen, die Waffe zur Hand zu nehmen. Menschen, die Russland aufgrund der Mobilisierung verlassen haben, haben genauso zu verantworten, dass sie durch ihre Passivität an der Situation nichts ändern. Mit genau diesen Einstellungen beteiligen sie sich an der Erhaltung des Russlandregimes. Nicht nur am Beispiel Maidans, sondern auch am Beispiel Georgiens heute sehen wir, dass Widerstand und Veränderung möglich ist. Aber die Veränderung beginnt erst dann, wenn man sie dazu nötigt.

Haben Oppositionelle wie Alexei Navalny Deiner Meinung nach eine Chance, politische und soziale Strukturen in Russland zu modifizieren?

Bei der Premiere von Iron Butterflies, beim Sundance Filmfestival in den USA, merkten wir gleich, dass viele Menschen an Navalny glauben. Bedenken bezüglich des möglichen Kollapses Russlands, spürten wir sogar stark. Navalny verkörpert für sie einen neuen Leader, der versucht, dieses riesige Gefüge irgendwie zusammenzuhalten. Die Ukraine hingegen steht, bezüglich dieser Perspektive, ziemlich alleine da. Wir als Ukrainer*innen glauben, dass auch ein neuer Führer an der verankerten politischen Beschaffenheit nichts Gravierendes ändern würde. Und so bleibt Russland, was es schon immer war, ein kontinentales Imperium, mit unterdrückten Nationen innerhalb seines eigenen Landes.

Ein russischer Kollaps könnte, meiner Meinung nach, eine spannende Metamorphose mit sich bringen. Einen Neuanfang und die Heilung eines krebsartigen Leids, an dem der kollektive Körper Russlands seit Jahrhunderten zu leiden scheint.

Ein Kollaps Russlands scheint mir die einzige Lösung zu sein, ist aber wohl eher unwahrscheinlich. Ich bin kein Romantiker, der denkt, wenn Russland zusammenbricht, werden viele gravierende Probleme von einem auf den anderen Tag verschwinden. Es wird ein langer Weg sein und eine ebenso lange Suche nach neuen Identitäten. Was hat die Sowjetunion charakterisiert — die Lüge und die Leugnung. Das heutige Russland verkörpert die Erweiterung der Sowjetunion, die einmal eine Erweiterung des russischen Imperiums war. Die Beschaffenheitsmittel für diese Erweiterungen waren, und sind bis heute, Gewalt und Demütigung gegenüber dem eigenen Volk. Der Hauptgedanke, welchen der Film Iron Butterflies vermitteln möchte, ist die Veranschaulichung des Zusammenhangs von Lüge und Gewalt. Russland produziert heute Lügen auf internationaler Ebene, und das gefährdet das gesamte globale, informative Ökosystem. Ich sehe nicht einen wichtigen, guten Beitrag, den Russland an der Menschheit geleistet hat.

Wie kann die Kunst der Welt helfen?

Mit Sicherheit kann die Kunst aus vielen Aspekten heraus eine Hilfe sein. Kunst leistet, unter anderem, einen enorm wichtigen Beitrag für Traumaverarbeitungsprozesse. Wir werden in der ukrainischen Nachkriegszeit viel Kunst brauchen und sicher auch viel Kunst machen. Meine Kolleg*innen und ich wissen bereits sehr genau, wie wir, mithilfe der Kunst, komplexe Themen angehen können. Psychoanalyse basiert auf dem Dialog. Den Ausdruck für das Unsagbare zu finden, ist ein wichtiger Bestandteil der Behandlung und möglichen Heilung. Kino kann auch als Spiegelung der Wirklichkeit beziehungsweise derer Wahrnehmung genutzt werden. Menschen erkennen sich durch die Anderen und reflektieren so ihre Sicht auf die Dinge und die Welt. Auf diese Art und Weise, kann Kunst, und insbesondere Film einen sehr großen, therapeutischen Beitrag für die Aufarbeitung traumatischer Erfahrungen leisten.

Ich möchte mich nochmal, von ganzem Herzen, für diese wichtige und kreative Arbeit, sowohl im inhaltlichen als auch im filmischen Sinne, bedanken. Ich wünsche Dir und deinem Team, dass Euer Film, sobald wie möglich, eine große, internationale Reichweite erlangt und auf ein interessiertes, offenes Publikum stößt. Ich bin sehr gespannt und neugierig darauf, mehr von Euch zu hören und zu sehen und die nächsten Meisterwerke auf mich wirken zu lassen.

Vielen Dank. Die Entstehung des Films kann man durchaus mit der Komposition eines Jazzsongs vergleichen. Das Team und ich arbeiteten an dem Material geschlossen zusammen. Jede*r hatte die Möglichkeit, sich kreativ auszudrücken. Wir haben uns bewusst von der konventionellen Arbeitsweise distanziert, in der, einzig und allein, der oder die Regisseur*in Entscheidungen trifft. Und wir werden gemeinsam Neues schaffen!

 

© Babylon’13