Godard, Archäologe? Über Archäologie des Kinos. Gedächtnis des Jahrhunderts von Jean-Luc Godard & Youssef Ishaghpour
Godards in den neunziger Jahren entstandene Histoire(s) du cinéma sind Verschiedenes: audiovisuelle Collage, retrospektives Künstlermanifest, Selbstgespräch, Filmdidaktik, über manche Strecken sogar Unterhaltung. Sind sie auch Geschichtsschreibung? Ein längeres Gespräch, das der Filmwissenschaftler und Philosoph Yousseff Ishaghpour vor einigen Jahren mit Godard geführt hat und das jetzt auf Deutsch erschienen ist, kreist unter anderem um diese Frage, ohne sie eigens zu stellen. Der einigermaßen hochtrabende Titel ruft zwei Schlüsselbegriffe eines mittlerweile zum Selbstbedienungsladen herabgekommenen geschichtstheoretischen Diskurses auf, auf den Ishaghpour die Histoire(s) hartnäckig zu beziehen versucht. Während die Rede von einer «Archäologie des Kinos» immerhin zu Recht eine mögliche Fehleinordnung von Godards Projekt korrigiert, indem sie auf dessen wesentlich analytische und nicht bloß narrative Intentionen verweist, deutet die Wendung «Gedächtnis des Jahrhunderts» an, was mit Ishaghpours gelehrt wuchernder Exegese nicht stimmt.
Die realistische Filmtheorie hat schon immer das dokumentarische, das zeugnishafte und insofern historiographische Moment am Film betont. Als bildliches, szenisches und phonetisches Gedächtnis verspricht das Kino das Vergehen zu überwinden, auch wenn es zugleich aufgrund der ihm eigenen Selektivität neue Konfigurationen des Vergessens erzeugt. Gegen den Einwand, audiovisuelle Spuren seien noch keine Geschichtsschreibung, sondern nur deren Material, wird mit Vorliebe Walter Benjamin aufgeboten: Der historische Überrest als solcher kann zum Medium historischer Erkenntnis werden, insofern er als ausdrücklich präsentiertes «Zitat» gewissermaßen für sich selbst und vor allem mit anderen solchen Überresten zu sprechen beginnt, nämlich als Element einer Montage. Auch ohne Godards wiederholte Verweise auf Benjamin könnte es nahe liegen, seine Histoire(s) in genau diesem Sinne zu verstehen, als werde hier die filmische Erinnerung ihrer eigenen assoziativen Bewegung überlassen.
Dass dieser Eindruck die Sache nicht trifft, darin hat Ishaghpour recht. Allerdings tut er den Histoire(s) keinen Gefallen, wenn er ihren Anspruch stattdessen vulgärhegelianisch als den einer Art totalisierender Jahrhundertsumme nach dem «Ende» des Kinos zu konturieren versucht. Godard sieht sich vor, ihm in dieser Deutung zu folgen, hält sich aber zugleich bedeckt, was eigene Erläuterungen jenseits seines ästhetisch-erkenntnistheoretischen Grundanliegens betrifft – der Erweiterung des Montagebegriffs zur Idee eines «Denkens in Formen», in dem das Wort keinen Vorrang mehr vor dem Bild beansprucht. Erst beim Thema der totalitären Massenmorde, das ja auch die Dokumentarfilmsequenzen der Histoire(s) dominiert, scheint Godard überhaupt genuines Interesse an dem Gespräch zu finden: «Das Kino hätte seine Ehre einsetzen müssen …»
Hier erst klingt an, dass die Histoire(s) mehr sein wollen als das, wofür man sie diesseits aller geschichtstheoretischen Überformung leicht halten könnte, mehr nämlich als die nach Godard zu sich selbst gekommene, auf den Godardschen Begriff gebrachte Nouvelle Vague – ein teils von Nostalgie, teils von Selbstbehauptung getriebenes Erinnerungs-, Kanonisierungs- und Re-enactmentprojekt. Die Histoire(s) nehmen es, wenn auch zögerlich, mit der Diagnose des historischen Versagens ihres Mediums auf, indem sie die mystifizierende Gleichung von Erinnerung und Rettung zurückweisen. «Auch ich hatte für einen Moment geglaubt, dass das Kino Orpheus die Rückkehr gestattet, ohne dass er dabei Eurydike töten müsste. Ich habe mich getäuscht.» «Geschichte des Kinos» ist auch zu verstehen als die historische, und das bedeutet eben unter anderem: unwiderrufliche Wirksamkeit des Kinos als eines realen Akteurs. Im Begreiflichmachen dieser Wirksamkeit und im Vorwurf unterlassener Hilfeleistung, nicht in ihrer Dimension als Familienalbum, liegt das eigentliche historiographische Verdienst der Histoire(s).
Jean-Luc Godard & Youssef Ishaghpour: Archäologie des Kinos. Gedächtnis des Jahrhunderts, Diaphanes 2008