Ohne Midge Über Victor I. Stoichitas The Pygmalion Effect: From Ovid to Hitchcock
Jetzt also Pygmalion. Pygmalion und die Statue, die von ihm geschaffen, geschmückt, geliebt wurde und schließlich, auf sein Bitten, von der Göttin Venus verlebendigt. Der Mythos von Pygmalion, so erklärt Victor I. Stoichita in seinem neuen Buch, verdient mehr Aufmerksamkeit, als er bislang erfahren hat, genauer: eine veränderte Aufmerksamkeit, die ihn als erste große Erzählung über den Umgang mit Simulakren zu kartieren versteht. Denn letztlich ist dies die Agenda der transhistorischen, transmedialen Erkundungen, die The Pygmalion Effect versammelt: nicht einfach von der Entwicklung eines Mythos zu erzählen, sondern mittels der Legende von der schönen Statue das Konzept des Simulakrums zu rehabilitieren, also des Bilds, das nach keinem Vorbild gestaltet und als Bildnis in eine Existenz eigenen Rechts gesetzt wird.
In der Bildtheorie hat dieser Ansatz Konjunktur. Man könnte sogar sagen, dass die neuere Bildwissenschaft, so wie sie von der Kunstgeschichte praktiziert wird, wesentlich auf dem Postulat gründet, dass das Bild selbst ebenso wie diverse Aspekte des Bildlichen einer Wiederentdeckung und Neubewertung bedürfen (pictorial turn etc.). Ein Beispiel: Georges Didi-Hubermans Buch über den Abdruck, ebenfalls an den Prinzipien einer «anthropology of art» orientiert, an der Beziehung des haptischen und visuellen Regimes interessiert und wie Stoichitas Untersuchung als Querschnitt durch die Epochen der Kultur- und Kunstgeschichte angelegt, von der Antike bis zur Moderne, oder, wie hier der Untertitel lautet: From Ovid to Hitchcock.
Bis Hitchcock, das heißt: bis zu dem Film Vertigo (1958), in dem sich das Pygmalion-Motiv ohne große Schwierigkeiten erkennen lässt und auch bereits mehrfach erkannt worden ist. (Die Endnoten verweisen unter anderem auf die Publikationen von Brigitte Peuckert und Gertrud Koch.) In Stoichitas Studie steht Vertigo am Ende einer langen Folge von Aktualisierungen des Mythos, die mit den Illustrationen zum mittelalterlichen Roman de la Rose beginnen und sich über die Künstlerlegenden der Renaissance, die Geschichte der Schönen Helena, die Animationsphantasien des 19. Jahrhunderts usw. fortsetzen, von intermedialen Metamorphosen des Gegenstandes begleitet, so dass die abschließende Hinwendung zum Kino (Wunschmaschine, Verlebendigungsapparat) sich wie selbstverständlich ergibt.
Bleibt die Frage, wie sich der Blick des Kunsthistorikers Stoichita auf den Film gestaltet. Die Antwort lautet, nicht ganz überraschend: vorwiegend als Bildbeschreibung, im Modus der Fokussierung einzelner Tableaus, von denen Vertigo in der Tat eine ganze Reihe liefert. Dies ist ein Film der wiederholten Verlangsamungen und beinahe still gestellten Szenen, auch: ein Film, in dem die Aktivitäten des Protagonisten denjenigen des Regisseurs auf teils unheimliche, teils parodistische Weise korrespondieren. Dass es zudem ein Film über Gestaltungsrivalitäten sein könnte, wird bei Stoichita angedeutet. Allerdings erscheinen die Rivalitäten dabei ausschließlich als solche zwischen männlichen Figuren: Ferguson gegen Elster, der zweite Schöpfer der blonden Madeleine gegen den ersten, während die Konstellation in Wahrheit etwas komplizierter ist.
In Stoichitas Vertigo-Kommentar finden sich alle möglichen Verweise: auf den Umgang des Regisseurs mit seinem Star Kim Novak, auf die Verschränkung von Ikonizität und Multiplikation in der Kunst Andy Warhols, auf die Barbiepuppe (auch ein Produkt des Jahres 1958) als Exempel der konstitutiven Duplizierbarkeit etc. Was sich indes nicht findet, ist ein Verweis auf jene Figur des Films, die sich ostentativ in die Aushandlungen um die Produktion von Mimesis und Simulakrum einmischt, die Arbeit am Bild zu ihrer eigenen Sache macht und dafür eine Sanktionierung erfährt, die weniger katastrophal, aber kaum weniger grausam ist als der Tod der duplizierten Madeleine. Die Figur trägt den Namen Midge und ist eine jener kleinen, vorlauten, bebrillten Frauengestalten, die in Hitchcocks Filmen häufiger auftreten. Eine handlungsfähige Figur ist sie außerdem, und ihre zentrale Aktivität besteht darin, das gemalte Porträt, vor dem Madeleine so viele Stunden zubringt, und das in der Verdoppelungsgeschichte, die man Ferguson auftischt, eine sehr zentrale Rolle spielt, zu reproduzieren, eigenhändig und mit der entscheidenden Modifikation, ihren Kopf an die Stelle des Originals zu setzen.
Diese Geste ließe sich mehrfach interpretieren: als Appropriation von Gestaltungsmacht, als gleichzeitige Markierung des Anspruchs auf Differenz, als Angriff auf die Fetischisierung des Originals (der ausgetauschte Kopf) und nicht zuletzt als ein Verfahren, die mimetischen Komponenten in der Produktion des Simulakrums zu exponieren. Denn auch wenn die geheimnisvolle Madeleine punktuell den Status eines Simulakrums erlangt, ist ihre Erscheinung nicht frei von Momenten der Mimesis. Das gilt für ihren ersten Auftritt, der nur funktioniert, wenn er am «Design» der echten Ms. Elster orientiert bleibt, und erst recht für ihren zweiten, bei dem das Erscheinungsbild der verlorenen Geliebten streng mimetisch reproduziert wird, von den Schuhen über das Kostüm und das Makeup bis zur berühmten Vertigo-Frisur.
So betrachtet, zettelt Midge in ihrer Appropriation eben jenen Konflikt von Mimesis und Simulakrum an, den Stoichita in den einführenden Bemerkungen zu seiner Studie ausdrücklich thematisiert. Dass sie dann (ebenso wie ihre Aktivitäten) nicht einmal erwähnt wird, ist umso erstaunlicher, aber durchaus symptomatisch für eine Pygmalion-Studie, die eine gewisse Tendenz zeigt, das, was nach Gender Trouble aussieht, allenfalls sublimiert zur Kenntnis zu nehmen.
Victor I. Stoichita: The Pygmalion Effect: From Ovid to Hitchcock, University of Chicago Press 2008