theorie

«Orrorismo» – Bilder, die das Fürchten lehren Über Horrorism, or On Violence against the Helpless von Adriana Cavarero

Von Robin Celikates

Der schlangenbehaarte Kopf ist abgetrennt, wo der Hals war, spritzt das Blut – ­Caravaggios berühmtes Bildnis der ­Medusa lässt den Betrachter aber nicht deshalb erschauern. Es sind zwei andere Aspekte, die das Albtraumhafte erahnen lassen: zum einen die im Moment der Selbsterkenntnis – Medusa, vom Maler selbst auf einem Schild porträtiert, erblickt das eigene Spiegel­bild im Schild ihres Mörders Perseus – vor Schreck geweiteten Augen, deren Blick die Menschen zu Stein erstarren ließ; zum anderen der einen stummen Schrei aus­stoßende Mund, der ein von weißen Zähnen gerahmtes schwarzes Loch mitten in das verzerrte Gesicht der Gorgone reißt. Caravaggios Medusa ist ein Bild des Schreckens im doppelten und zugleich vermittelten Sinn: Sie sieht das Schrecklichste – ihren abgeschlagenen Kopf, ihren im nächsten Moment eintretenden Tod –, und dies ist das Schreckliche, das wir ­sehen.

Dass das mythologische Bild des Horrors – des Schreckens, genauer: des Grauens und Entsetzens – das Bild einer ihres Körpers beraubten Frau ist, nimmt Adriana Cavarero in ihrem kürzlich ins Englische übersetzten Buch Orrorismo zum Ausgangspunkt einer Phänomenologie des Horrors. Die in Verona lehrende Philosophin, die mit ihren feministischen Umdeutungen antiker Figuren, dem theoretisch wie politisch einflussreichen Denken der differenza sessuale und ihrer narrativen Theorie des Selbst bekannt geworden ist, schlägt dabei in 17 kurzen Kapiteln den Bogen von Medusa zu Lynndie England. Von Medusa zu Lynndie England? Natürlich möchte Cavarero hier keinen irgendwie kausal zu verstehenden umfassenden Horrorzusammenhang unterstellen – aber die Phänomenologie des Horrors lässt sich ihres Erachtens doch nicht trennen von einer Art imaginärem Überbau, in dem die Folterer von Abu Ghuraib mit ihrer zur Farce verkommenen Ikonografie in eine ebenso unwahrscheinliche wie unheimliche Nähe zur antiken Mythologie rücken.

Cavarero begreift den Horror trotz seiner sich wandelnden Gestalt in der Geschichte als etwas Überzeitliches. Seine Spezifik zeigt sich schon in der etymologischen Abgrenzung vom Terror: Während letzterer – abgeleitet vom lateinischen Verb tremere – die physische Angstempfindung meint, die sich im Zittern ebenso wie in der instinktiven, wenn auch panischen Flucht äußert, bezeichnet ersterer – vom lateinischen horrere her – eine Situation, in der sich einem die Haare zu Berge stellen, vor der man Grauen statt Angst empfindet und die eher zu einer Paralysierung – zum Erstarren – als zur Flucht führt. Das Medusen­haupt symbolisiert diesen Unterschied, Augen und Mund sind erstarrt nicht allein aufgrund des nahen Todes, und es gibt zugleich den entscheidenden Hinweis auf die Art von Situation, die für den Horror paradigmatisch ist: die Zerstüc­kelung des menschlichen Körpers, die in der Enthauptung ihren archaischen Höhepunkt findet (anders als Jacob Burckhardt meint, schaut so niemand aus, dem bloß die Zähne gezogen werden). Der Horror: Das sind jene Formen der Gewalt, die nicht nur töten, sondern entstellen, die den Körper als Körper zerstören und mit der Körperlichkeit das Grundsätzlichste attackieren, nämlich die conditio humana selbst.

Um der Wirklichkeit dieser spezifischen Form der Gewalt Ausdruck zu verleihen, die in den uns vertrauten Fernsehbildern ebensowenig gefasst werden kann wie in den etablierten Kategorien des politischen Diskurses – «O horror! Horror! Horror! Tongue nor heart cannot conceive, nor name thee!», zitiert Cavarero Macbeth –, wagt die Autorin schon mit dem Titel ­ihres Buches die Einführung eines Neologismus: «Horrorismus». Für den Horrorismus ist aber nicht allein die am Beispiel Medusas theoretisch etablierte Wendung der Gewalt gegen die fragile, der steten Möglichkeit der Verletzung ausgesetzte Einheit des Körpers entscheidend – schließlich prägt diese auch die (denkwürdig genug) als konventionell bezeichneten Formen von Krieg und Terrorismus.

Die «horroristische» Gewalt stellt sich noch in die Nachfolge einer zweiten, ebenfalls weiblichen Ikone aus der antiken Mythologie: Medea, die, um sich am untreuen Jason zu rächen, ihre beiden Kinder getötet hat (und hier sehe man sich den Blick des dunkelhaarigen Knaben in ­Delacroix’ Gemälde einmal genauer an und vergleiche ihn mit Caravaggios Medusa). Hätte sie damit nur gegen die ihr vom patriarchalischen Diskurs zugedachte ­Rolle einer ­unter allen Umständen zur Sorge verpflichteten ­Mutter verstoßen, ließe sich ihrem Handeln trotz des damit verbundenen Schreckens vielleicht noch eine emanzipatorische Dimension unterlegen – allein, die Tatsache, dass sie mit ihren Kindern zwei ihr vollkommen ausgelieferte, verletzliche und wehrlose Wesen tötet, macht dies Cavarero zufolge unmöglich. Medea wird zum Schatten derer, die sich ihre ­Opfer unter den Wehrlosen suchen. Dass die ­Täter oft selbst Opfer sind oder doch waren, ändert nichts an der Verabscheuungswürdigkeit ihrer Verbrechen; dass sie – wie die Selbstmordattentäter – ihre eigenen Körper zur Waffe machen und sich gemeinsam mit ihren Opfern zerfetzen, lässt die horroristische Dimension ihrer Untat noch deutlicher hervortreten. Anders als Medea sind ihren modernen Widergängern – also etwa den die etablierten Gewalterwartungen zutiefst verunsichernden weiblichen body bombers – ihre Opfer selten vertraut oder auch nur bekannt; dass es sich um zufällige Opfer handelt, die – obwohl sie in ihrer Einzigartigkeit ausgelöscht werden – doch vollkommen austauschbar sind, steigert den Horror um ein die antike Vorstellungskraft scheinbar noch übersteigendes Maß.

Für Cavarero ist die horroristische Gewalt im Kern ein «ontologisches Verbrechen»: Sie zielt auf die Auslöschung der Singularität des Individuums und damit auf mehr als dessen «bloße» Tötung. Wie Medeas Kinder sind die Opfer solcher Gewalt nicht nur verwundbar, sondern darüber hinaus absolut hilflos und ihren Peinigern ausgeliefert. Letztere nutzen die für die conditio humana konstitutive Relationalität, das wechselseitige Aufeinander-Verwiesensein aus, indem sie das Opfer zum passiven Objekt degradieren und eine Situation der vollkommenen Abhängigkeit schaffen, in der jede Form der Reziprozität zugunsten einer radikalen Asymmetrie außer Kraft gesetzt ist – genauer: außer Kraft gesetzt wird. Denn während in der conditio des Kleinkindes Verwundbarkeit und Hilflosigkeit in natürlicher Weise zusammenfallen, gilt das für erwachsene Menschen gerade nicht: Sie bleiben als körperliche Wesen zwar wesentlich verwundbar, sind aber nicht per se hilflos, sondern eben nur unter bestimmten Umständen. Diese Umstände können zwar mehr oder weniger natürliche sein, wie im Fall einer schweren Krankheit, die auch einen Erwachsenen «hilflos wie ein Kind» werden lässt; die Hilflosigkeit kann aber auch – und erst hier betreten wir die Welt des Horrors – absichtlich und ­künstlich hergestellt werden, paradigmatisch im Fall der Folter, die den geschundenen Körper zu einem willkürlich manipulierbaren Ding macht. In diesem Machen, in diesem perversen Akt der einseitig auferlegten Willkür, liegt die ontologische, über das Ethische und Rechtliche hinausgehende Dimension des Verbrechens. Der Körper markiert für Cavarero hier eine Grenze: Materialität, Körperlichkeit, Verletzlichkeit als konstitutive Dimensionen der conditio humana sind, gegen Roland Barthes, kein naturalistischer Mythos – die Folter trifft den wehrlosen Körper und reißt ihn aus den Dimensionen der Performativität, der sprachlichen Repräsentation oder der Textualität heraus.

Das Lager, der Terror, Kollateralschäden

Für Cavarero stellen die nationalsozialistischen Vernichtungslager die extremste Realisierungsform – wenn auch nicht, wie bei Giorgio Agamben, das geheime Prinzip – der sich in der Moderne zuspitzenden horroristischen Logik dar. Im Anschluss an Hannah Arendt, die den Kern des ontologischen Verbrechens der Nazis in einem berühmten Brief an Karl Jaspers gerade in der «Überflüssigmachung von Menschen als Menschen» und damit in der Auslöschung der für die conditio humana konstitutiven Einzigartigkeit und Pluralität erblickt, sieht Cavarero im Lager mit ­Primo Levi den Ort eines gigantischen biologischen und sozialen Experiments. Das Beweisziel – «Alles ist möglich» – sollte mittels der systematischen Produktion einer Situation der absoluten Wehrlosigkeit – noch jenseits der Verwundbarkeit –, nicht allein der physischen Vernichtung, sondern der Zerstörung der Menschlichkeit der Deportierten erreicht werden. Diese Totalisierung des Terrors lässt ihn aus allen Zweck-Mittel-Zusammenhängen heraus – und mit dem absoluten Horror zusammenfallen.

Der Horror ist Cavarero zufolge aber auch ein prägendes Merkmal unserer Gegenwart, in der die wehrlose Person längst zum exemplarischen Opfer systematischer Gewaltausübung geworden ist. Angesichts der grauenhaften, wenn auch offensichtlich allgemein hingenommenen Tatsache, dass in den gewaltsamen Konflikten der jüngeren Vergangenheit mehr als 90 % der Opfer der unbeteiligten Zivilbevölkerung entstammen, kann der Vorstellung vom Krieg als Duell im Großformat noch nicht einmal der Vorwurf der Idealisierung gemacht werden. Die Grenzen zwischen der «regulären», «gehegten» Gewalt des Krieges und der «irregulären», «entgrenzten» Gewalt des Terrorismus verschwimmen dadurch – aus der Perspektive der wehrlosen Opfer musste diese Unterscheidung schon immer sophistisch anmuten. Gerade im Namen der Wehr- und Hilflosen plädiert Cavarero nun für einen radikalen Perspektivenwechsel, der zugleich epistemisch, ethisch und politisch indiziert ist: von der Perspektive des Kriegers zur Perspektive des wehrlosen Opfers. Aus letzterer lässt sich die Gewalt nicht als Mittel verstehen, dessen Bedeutung sich erst durch seinen Platz in einer umfassenderen Strategie – sei es der Militärs, sei es der Terroristen, die mit der Tötung Unschuldiger die Tötung weiterer Unschuldiger rechtfertigen – ergibt. Krieg und Terror erscheinen aus dem – uns letztlich natürlich nicht ohne Weiteres verfügbaren – Blickwinkel der Opfer als Horror, der hinter der Rhetorik der «Kollateralschäden» nur mühsam kaschiert werden kann. Der prinzipielle Primat dieses Blickwinkels versperrt Cavarero zufolge zudem die Möglichkeit einer Überhöhung der asymmetrischen Gewalt zur transgressiven Überschreitung oder erotischen Grenzerfahrung, wie sie für einige der subjektkritischen Gegenbewegungen in der Philosophie charakteristisch ist, die dadurch doch nur jenen Akt der metaphysischen Tradition wiederholen, der das einzelne, konkrete, verkörperte Individuum als überflüssig erscheinen lässt.

Die Logik des Horrors als Negation der «ontologischen» Würde des individuellen Körpers in seiner Singularität zeigt sich immer dann, wenn der einzelne als wehrlose «Person ohne Eigenschaften» zum zugleich exemplarischen und überflüssigen, da beliebig austauschbaren Opfer – «Repräsentant des Systems», «Ungläubige» etc. – wird. Auch für diese Verschränkung, die im englischen casualty auf seltsame Weise zum Ausdruck kommt, findet Cavarero ein Bild. Es handelt sich um ein Photo, das kurz nach den Bombenanschlägen auf die Londoner U-Bahn aufgenommen wurde und auf dem eine Frau zu sehen ist, deren Gesicht zur Linderung der Verbrennungen mit einer Maske bedeckt ist und die von einem Helfer in Sicherheit gebracht wird. Cavarero sieht in diesem Photo neben der seltsamen Gleichzeitigkeit von Entpersönlichung und Individualität eine emblematische Darstellung jener beiden einander entgegengesetzten Möglichkeiten, sich zur durch Verletzlichkeit und wechselseitiges Einander-ausgesetzt-Sein bestimmten conditio humana zu verhalten: die gewaltsame Verletzung und die gewaltlose Sorge.

Die Anerkennung der wechselseitigen Exponiertheit und Abhängigkeit kann man verweigern; der ethischen Entscheidung – to care or not to care – und der mit ihr einhergehenden radikalen Verantwortung kann man ausweichen. Beides kann man jeden Tag erleben – wenn man denn hinsieht. Trotz der Gefahr des voyeuristischen Scheiterns, der Abstumpfung und des «Missbrauchs» liegt der «ethische Wert» von Bildern, wie ihn Cavarero im Anschluss an Susan Sontag versteht, genau darin: dass sie uns in Erinnerung rufen – genauer: uns dazu zwingen können, hinzusehen und anzuerkennen –, was Menschen anderen Menschen anzutun in der Lage sind.

Wie man nun von diesen Bildern, aber auch von Cavareros eindringlichen Beobachtungen und Analysen des Schreckens zu einer politischen Position kommt, das bleibt ebenso offen wie in ihrem letzten Buch zur Stimme, das mit dem vagen Plädoyer für eine «Politik der Vielstimmigkeit» schließt. Eine anti-horroristische Politik müsste die Kluft zwischen dem paralysierenden Entsetzen und dem von Arendt ins Zentrum gestellten gemeinsamen Handeln erst noch überbrücken. Und das wiederum würde eine genauere Bestimmung der Rolle von Bildern des Horrors verlangen, die uns ja genauso überfordern können wie wir sie manchmal überfordern, indem wir ihnen eine erlösende Macht ­zusprechen oder unterstellen, sie könnten alles, auch das Unvorstellbare, abbilden. Wie ­Siegfried Kracauer im Ausgang vom Medusa-Mythos behauptet, bedarf es der Bilder aber dennoch, um uns «Auge in Auge mit Dingen, die wir fürchten» zu bringen. Das hat zugleich einen weiteren Sinn, den der Mythos ebenfalls lehrt, nämlich dass wir das wirkliche Grauen nicht sehen können, weil es uns erstarren ließe. Deshalb sind wir auf Bilder des Grauens angewiesen – Bilder, die es zugleich abbilden und seiner petrifizierenden Macht entkleiden, ohne es seiner Wirkung zu berauben. Nur wenn einem Bild dieser riskante Versuch gelingt, wird es dem Betrachter – im Mythos: Perseus – möglich zu handeln, gegen das Grauen vorzugehen. Die von Kracauer im Epilog seiner Schrift Theorie des Films geforderte Rettung des «Grauenhaften aus seiner Unsichtbarkeit» ist der Kern einer Ethik der Bilder – eine über diese Ethik hinausgehende Politik der Bilder müsste nicht nur die selektive Repräsentation des Grauens und ihre antipolitische Banalisierung, sondern auch die Grenzen der Abbildbarkeit thematisieren (erinnern wir uns, dass auch Caravaggios Bild nur ein indirektes Bild des Horrors ist). Schließlich wirft die Politik der Bilder die Frage der Verantwortung auf, die nicht mehr allein die des einzelnen Betrachters sein kann, sondern eine kollektive, und damit politische sein muss. A

driana Cavarero aber endet vorerst mit Joseph Conrad – und damit natürlich mit Marlon Brandos sterbendem Colonel Kurtz, dessen letzte, kaum mehr vernehmbare Worte man ebensowenig aus der Erinnerung streichen kann wie die apokalyptischen Bilder eines rituell zerhackten Ochsen: «The horror! The horror!» 

Adriana Cavarero: Orrorismo. Ovvero della violenza sull’inerme, Feltrinelli 2007 (engl. Übers.: Horrorism, or On Violence against the Helpless, Columbia University Press 2008) | A più voci. Filosofia dell’espressione vocale, Feltrinelli 2003 (engl. Übers.: For More Than One Voice. Toward a Philosophy of Vocal Expression, Stanford University Press 2005) | Tu che mi guardi, tu che mi racconti, Feltrinelli 1997 (engl. Übers.: Relating Narratives, Routledge 2000) | Nonostante Platone, Editori Riuniti 1990 / 1999 (dt. Übers.: Platon zum Trotz, Rotbuch 1992)