berlinale 2009

Erez Cinema Im Forum: Raphaël Nadjaris spannende Geschichte des israelischen Kinos

Von Stefan Ripplinger

A History of Israeli Cinema

© Raphaël Nadjari

 

Israel ist das interessanteste Land der Welt, auch wenn viele seiner Bewohner wünschten, es wäre langweiliger. Was kann das israelische Kino Besseres tun, als Israel, immerzu Israel zu zeigen? Das eigene Land, die eigene Gesellschaft sind das große, im Grunde einzige Thema dieses Kinos, auch selbst dann noch, wenn es persönlich und intim wird. So erscheint es jedenfalls in den viereinhalb Stunden, in denen Raphaël Nadjari dieses Kino Revue passieren lässt – viereinhalb Stunden, die definitiv zu kurz sind, denn es gibt viel zu sagen.

Eine Überraschung für den deutschen Zuschauer, jedenfalls für mich: Die Shoah kommt nicht vor. Es kommt lediglich vor, dass sie nicht vorkommt. Lo Tafhidenu (Die Illegalen, 1947) von Meyer Levin zeigt Flüchtlinge, sagt auch, was sie zu Flüchtlingen gemacht hat, aber nimmt sich nicht die Zeit zurückzublicken, es gibt dringende Probleme zu bewältigen, praktische Probleme, Staatsgründung, Wohnungsbau, Nachschub, der erste israelisch-arabische Krieg… Der frühe israelische Film ordnet sich ganz dem zionistischen Pragmatismus unter. Es fehlt ihm, erklärt der Filmhistoriker Nachman Ingbar, das jüdische Element.

Ingbar ist so etwas wie Nadjaris Cicerone, kundig und klug führt er durch die gesamte Geschichte des israelischen Kinos. Nadjari, der viel Jüngere (er ist 1971 in Marseille geboren), gibt nicht nur Ingbar, sondern noch vielen weiteren Historikern, Zeitzeugen, Filmemachern, Schauspielern und Kritikern das Wort. Er selbst beschränkt sich darauf, die Statements mit Filmzitaten zu montieren.

Ingbar hat gewiss Recht, wenn er sagt, dass der Zionismus europäisch, aktivistisch, praktisch, politisch ist, während das Jüdische doch auch talmudistische, also intellektuelle, gläubige Elemente hat. Der zionistische Film, der die Jahre vor und nach der Staatsgründung noch bis zum Sechs-Tage-Krieg beherrscht, mag oft eindimensional, intellektuell dürftig, ja flach sein. Wohl deshalb handelt Nadjari die frühen Jahre nur kursorisch ab.

Aber das ist schade, denn zum einen passt ein Film wie Fishke der Krumer (The Light Ahead, 1939), den kein Geringererals Edgar G. Ulmer, zusammen mit Henry Felt, auf Jiddisch inszeniert hat, kaum ins zionistisch-propagandistische Schema. Zum andern überrascht die Ästhetik etwa von Chaim Halachmis Oded Hanoded (Oded, der Wanderer, 1933). Hinter der Kamera stand Nathan Axelrod, der 1926 aus der Sowjetunion nach Palästina ausgewandert ist und vor allem Wochenschauen gedreht hat. Seinem Stil merkt man an, dass er mit dem sowjetischen Kino vertraut war. Stärker noch erkennt man die klassischrevolutionären Vorbilder in einer Szene aus Helmar Lerskis Dokumentation Avodah (Arbeit,1935) wieder. Sie zeigt Pioniere, die einen Brunnen graben. Die Autorin Nurid Gertz nennt es eine erotische Klimax, als das Wasser endlich emporschießt.

Israel, sagt der Autor und Regisseur Renen Shor, ist zunächst einmal eine Wüste, eine leere Bühne, ein großes Set. Man baut sich seine Kulissen – und «Action!» Die Siedler und die Soldaten werden zu existenzialistischen Western-Figuren. Das sieht man in der allerfrühesten israelischen Propaganda, man sieht es, wenn auch überspitzt und persiflierend, in den populären «Bourekas»-Komödien und – Musicals von Menachem Golan oder Ephraim Kishon, man sieht es aber auch viel später noch, etwa in Rafi Bukais burlesker No-Budget-Produktion Avanti popolo (1986): Israelische und ägyptische Soldaten begegnen sich während des Sechs-Tage-Kriegs in der Wüste. Unversehens tauschen sie die Rollen, die Ägypter werden zu Juden und einer von ihnen deklamiert den Shylock-Monolog. Was in der Nacherzählung platt klingt, wirkt im Film recht komisch; mehr Lubitsch als Costa-Gavras.

Auch das Motiv des orgiastisch sprudelnden und spritzenden Wassers kehrt viel später noch wieder, nämlich in Atash (Durst, 2004) von Tawfik Abu Wael. Man kann also nicht behaupten, der zionistische Film wäre ohne Folgen geblieben. Freilich ändern sich die politischen Vorzeichen. Zwei tiefe Einschnitte sind zu erkennen. Nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 gerät das alte zionistische Narrativ ins Wanken. Aschkenasim erobern die Leinwand, die Machowelt der Armee wird befragt, der Einzelne klagt Freiheit, Genuss, Privatheit ein. Noch weiter reicht der Wandel 1977, als der konservative Likud-Block an die Macht kommt. Die Filmemacher nehmen zum ersten Mal offen Partei für die Araber. Ein Schock für viele ist Khirbet Hiza’a (1978) von Ram Levi. Der Film, der die Leiden der Vertriebenen und das fragwürdige Verhalten der Armee zeigt, darf erst nicht ausgestrahlt werden. Als er doch ausgestrahlt wird, sitzt die gesamte Nation vor dem Fernseher. Danach bleibt der Spielfilm eine Weile unter Verschluss, aber wegzudiskutieren ist er nicht mehr.

Auf ihn folgen in den Achtzigern eine ganze Reihe von Versöhnungsfilmen. Der Araber als Held, als Bruder und als Liebhaber. Politisch wichtig vielleicht, aber filmisch eher unergiebig, manchmal kitschig erscheinen diese Produktionen. Doch die Intifada klärt die Fronten. In den Neunzigern befreit sich das Kino von den Klischees, konzentriert sich auf einzelne Schicksale, osteuropäische Migranten, arabische Arbeiter, Frauen, traumatisierte Soldaten, Schwule. Es wird privater, ohne sich zu entpolitisieren, und es kostet die Situationskomik aus, wenn Einwanderer ganz unterschiedlicher Herkunft aufeinander treffen. Einen guten Film mache es aus, wenn Hoffnung und Verzweiflung zugleich darin seien, erklärt der Regisseur Dover Kosashvili.

Formal wird der Film reicher, mitunter auch manieristisch wie in der nihilistischen Abrechnung Ha Chayim Al-Pi Agfa (Leben laut Agfa, 1992) des Regisseurs und Schauspielers Assi Dayan, eines Sohnes des früheren Außenministers. Und zu den vielen Filmen, die ich gern einmal in voller Länge sähe, gehört auch der letzte, den Nadjari zitiert: Shnat Effes (Jahr Null, 2004). Sofern der Ausschnitt das beurteilen lässt, eine subtile, verhalten ironische Studie über die neue Armut im Land.

Gleich eine ganze Retrospektive wünsche ich mir zu dem Regisseur Uri Zohar, der mit absurden, ätzenden, zunehmend bitteren Filmen die Szene aufgemischt hat. Hor B’Levana (Loch im Mond, 1964) ist eine an Richard Lester und Jean-Luc Godard gleichermaßen erinnernde Satire, Kol Mamzer Melech (Jeder Bastard ein König, 1968) ein wüstes Loblied auf den Liberalismus, Metzitzim (Spanner, 1972) die Komödie der Nichtstuer, Einayim G’dolot (Grosse Augen, 1974) die Tragikomödie des Einsamen. Zohars Zynismus ist der der Aufbaugeneration, die nach all den Schrecken, durch die sie gehen musste, sich fragt, ob es das wert war. Und es liegt eine gewisse Logik darin, dass Zohar, der Radikalste von allen, die in Nadjaris Dokumentation vorkommen, eine ebenso radikale Kehrtwende vollzogen hat. Er wird zu einem Rabbiner und ist heute ein Sprecher der Orthodoxen.

An Zohars Lebenslauf lässt sich auch ablesen, dass der einzelne Israeli sich wohl gegen die Staatsräson auflehnen kann, aber doch immer auf sie bezogen bleibt. Es scheint unmöglich, in Israel unpolitisch zu sein. Zugleich hat nicht nur das Kino des Landes von seinen Rebellen profitiert. Die israelische Gesellschaft, sagt der Regisseur Amos Gitai, überlebe nur, wenn sie trotz all der Wunden und all der Enttäuschungen nicht davon ablässt, zu fragen, zu bohren und gelegentlich auch zu nerven.