spielfilm

Kathartisches Binnenmeer Zu Claire Denis’ 35 Rhums

Von Diedrich Diederichsen

35 Rhums

© Wild Bunch

 

Wenn ein Lokführer auf Pariser Eisenbahnschienen starrt und dazu melancholisch an Zigaretten zieht, drängt sich unwillkürlich ein Panorama von ungenauen Erinnerungen ins frankophile Bewusstsein: an Filme der 30er und 40er, poetischen Realismus, Gefangenschaften in und Fluchten aus der Stadt, von denen die glitzernden Gleise erzählen sollen. Doch anders als in La bête humaine schnaufen hier keine Dampfrösser, sondern es gleiten zweckmäßige, doppelstöckige Vorortzüge durch die Abenddämmerung. Hin und wieder rauscht gar ein TGV vorbei. Daher wird die Mechanik der Motoren auch nicht zu einem Bild für die Trieblogik im Inneren eines Jean Gabin, wie damals, sondern es ist eher der Blick aus dem Führerhaus des Triebwagenkopfes, der hier etwas von der Hauptperson erklären soll. Alex Descas, ein alter Bekannter aus diversen Claire-Denis-Filmen, spielt den gut aussehenden, wortkargen Lokführer Lionel. Und Lionel liebt die Souveränität dieses Ausgucks, die Perspektive in der ersten Person Singular, die Kamera und Lokomotive gemeinsam haben. Wir werden noch erfahren, dass manche seiner Kollegen diesen Führerstand sogar so lieben, dass sie ohne seinen Alltag nicht mehr leben können.

Nach gut fünf Minuten entdecken wir unter den Passagieren eines dieser Züge die andere Hauptperson, Joséphine (Mati Diop). Dass sie Lionels Tochter und nicht seine Lebensgefährtin ist, bleibt weitere fünf Minuten offen, dann spricht sie es aus und nennt ihn Papa. Die beiden leben in einer Idylle, die nun an das Vater-Tochter-Paar in Später Frühling (Banshun) und an andere Filme von Ozu erinnert, in denen aus Familien herausgesprengte Zweckgemeinschaften sich in Oasen aus liebevollen Gesten, stiller Übereinstimmung und grenzenloser Rücksichtnahme verwandeln, aus denen dann immer schwerer der Weg in die Außenwelt zu finden ist. Hier steht ein Reiskochtopf, den beide unabhängig von einander für den gemeinsamen Haushalt erwerben, für diese Übereinkunft.

Dann gibt es noch Noé (Grégoire Colin, auch ein regular bei Denis) und Gabrielle (Nicole Dogue). Sie liebt Lionel, mit dem sie wohl auch schon mal liiert war, er liebt dessen Tochter, traut sich aber nicht einmal, bei den beiden zu klingeln, wenn er im Hausflur die verräterischen Töne der Idylle hört. Den Reiskochtopf, die sehnsüchtige Musik, die heiteren Stimmen. Alle wohnen gemeinsam in einer Wohnmaschine, wohl nicht weit von der Place de -Guadeloupe, deren Straßenschild uns Claire Denis reichlich exponiert und lange zeigt; nicht nur, damit wir uns über Google-Maps schnell darüber informieren können, dass diese Place genau zwischen den fetten Trassen liegt, die westlich zum Gare du Nord und östlich zum Gare de l’Est führen, sondern vielleicht auch als Hinweis auf die aus den Kolonien oder den überseeischen Departements stammenden Vorfahren dieses nahezu komplett afro-diasporischen Casts.

Nach dieser Exposition folgen kurze Erzählungen aus dem Leben der vier Beteiligten, die sie in ihren anderen Lebenszusammenhängen zeigen: Postkoloniale Studien bei Joséphine, eine Ruhestandsfeier für einen Kollegen bei Lionel, ein neoliberaler Hipster im Black-Panther-Nostalgie-Outfit im Gespräch mit Gabrielle, der Taxifahrerin, und schließlich Noés Junggesellenleben in einer Maisonette mit einer altersschwachen Katze, das er so oder so aufgeben will. Wenn ihn Joséphine endgültig nicht will, dann wird er wohl ins Ausland gehen. Diese knappen, aber volle Realität versprechenden Einblicke sind nicht nur in sich ökonomisch schön erzählt, sondern auch meisterhaft miteinander verfugt und verbunden. Jetzt läuft alles auf eine zentrale gemeinsame Unternehmung hinaus, ein ominöses Konzert, das alle vier gemeinsam besuchen wollen. «Das» Konzert ist allerdings auch als Treffpunkt für Joséphine und den netten Aktivisten aus der Uni vorgesehen, der sich bei einem Streik gegen die Abschaffung des Faches Anthropologie hervortut und in dem Platten-laden verkehrt, in dem Lionels Tochter das Geld für ihr Studium verdient.

Nach einem Akt Eisenbahn- und Idyllen-Stimmung und einer narrativen Umschau erwartet man von diesem dritten Teil eine Zuspitzung, einen Plot Point, und tatsächlich wird in dieser an Dauerregen, Autopannen, geschlossenen und dann plötzlich doch geöffneten Lokalen. Tänzen, Paar-
bildungen, viel versprechender Musik, noch mehr versprechenden Blicken, -bitteren Enttäuschungen und zarten Andeutungen reichen Nacht alles in Bewegung gebracht, was die Konstellation zu bieten hat. Doch nach diesen dichten Plot-Minuten folgt keine Verarbeitung mehr. Das Thema wird so was von gewechselt. Wir wachen auf und befinden uns mitten auf einer deutschen Autobahn. Die Ostsee ist nahe.

Diesem Tigersprung ins Roadmovie mangelnde Plausibilität vorzuwerfen, ist nicht so sehr ungerecht gegenüber der Regisseurin und der bewährten Sprunghaftigkeit ihres Erzählstils. Der Vorwurf würde auch die Perspektive der Zuschauer mit der der beiden Hauptfiguren verwechseln. Während man als Außenstehender, genau wie ein Jugendlicher oder eine vom Land in die Stadt gekommene Balzac-Figur, von der Dichte dieser sozialen Nacht affiziert wird, so sind doch Lionel und seine Tochter gerade dieser sozialen Dichte müde. Wir wissen das eigentlich schon. Die Vertrautheit wird so gezeichnet, dass man immer wieder ahnt, wie leicht sie in Enge und Einerlei kippen kann. Aus weiterer Vertiefung und Verstrickung wächst keine Rettung. Beide sind Einzelgänger, auch weil ihre Welt ihnen immer dieselben Angebote macht. Zwar liegt auch ein verdrängtes Problem in den melancholischen Blicken auf Schienen und in Tunnels. Vielleicht wird aber gerade dessen Lösung in Angriff genommen.

Trotzdem kann man aber nun die Figur, die wir in Lübeck treffen, mit Recht unplausibel finden. Ingrid Caven, im Original Deutsch sprechend, ist die Schwester der verstorbenen Mutter. Regieanweisung: Frau Caven, stellen Sie sich vor, Sie seien beim Friseur, erzählen Sie, was Ihnen durch die Rübe rauscht! Die Diva als Special Effect. Lionel und Joséphine schauen peinlich berührt auf die Teetassen. Ist es normalerweise die große Stärke von Claire Denis und ihren Ellipsen, uns im entscheidenden Moment etwas zu entziehen, einen aufgebauten Reichtum abstürzen zu lassen und ihre Figuren zu vergrößern, indem sie sie in dieses Unausgesprochene hineinwachsen lässt, so ist dieser Einfall eher wie eine sinnlose Fährte, die man auslegt, wenn ein Stoff ausdünnt. Das war hier aber gerade nicht der Fall.

Umso mehr glaubt man den beiden später die Entkräftung, die sie ausstrahlen, wenn sie den Camper an der Ostsee parken, die im Hintergrund, statt normal träge zu plätschern, wild und ozeanhaft faucht, wie vielleicht an drei Tagen im Jahr. Warum muss dieses bescheidene baltische Binnenmeer plötzlich für kathartische Kraft stehen? Sollten hier deutsche Co-Produktionsgelder verdient werden? Nicht nur. Das verlorene Andere von der Place de Guadeloupe, das Außen dieser eng gewordenen Community mit den lebenslangen Ex-Geliebten und den ewigen Bewerbern kann nicht einfach durch irgendein Bild von Weite, von nahe liegendem Gegenteil formuliert werden. Das suburbane Häuschen der deutschen Diva aus der Buddenbrooks-Stadt ist womöglich die geheime Formel des Idylls aus der Pariser Neubau-Wohnung, der Bauplan dessen, was Witwer und Halbwaise die ganze Zeit zu rekonstruieren versuchen.

Ich will nicht alles spoilen, was Claire Denis für den fünften Akt eingefallen ist. Natürlich musste die Flucht in die Gegenwart der Vergangenheit die Lösung -bringen. Und der Film bleibt sich treu darin, nicht das Gegenteil des Problems als dessen Lösung zu empfehlen. Gerade indem er ein geradezu konventionelles Ende wählt, enttäuscht er unsere Erwartung an diesen konkreten Film und das Kino allgemein, Leben zu vermehren und zu erweitern. Die Größe dieser Figuren besteht in einer Form von freiwilliger Beschränkung, die weder asketisch noch beengend wirkt.

35 Rhums entfaltet einen attraktiven Sog. Gerade, weil man mit seinen Ergebnissen auch von Herzen uneinverstanden sein kann und einem die liebevoll angedeuteten Nebenfiguren leid tun, deren viel versprechende Eigenschaften am Ende nur Attribute geblieben sind.

 

35 Rhums

© Wild Bunch