dokumentarfilm

Partikel und Projektion Zu Michelangelo Frammartinos Le quattro volte

Von Simon Rothöhler

© Cinecittà Luce | NFP

 

Alessandria del Carretto liegt in der Provinz Cosenza, die zur Region Kalabrien gehört. Wikipedia, mittlerweile wirklich im letzten Winkel angekommen, vermerkt 571 Einwohner («Stand 31. Dezember 2009»), eine Fläche von 39 km² und San Alessandro als Schutzpatron der Wahl. Einer der Höhepunkte von Michelangelo Frammartinos Le quattro volte zeigt die «Festa della Pita», die in Alessandria del Carretto jährlich zelebriert wird: ein lokales Fruchtbarkeitsritual mit unüberschreibbaren heidnischen Rückständen, ein Passionsspiel, das mühelos lustig scheppernde Römeruniformen integriert, paganes Crossover à la Kalabrien.

Hauptfigur dieses dritten Segments von Le quattro volte – Frammartinos erster Kinoarbeit seit seinem Spielfilmdebüt Il Dono (2003) – ist eine imposante Tanne, die von der Gemeinde kollektiv gefällt, auf den Dorfplatz verschleppt, mit Geschenkpaketen geschmückt, aufgerichtet und schließlich wieder zur Strecke gebracht wird. In früheren Zeiten hing statt der Präsente eine festgezurrte Ziege in den Baumwipfeln. Es durfte, so wollte es die Tradition, geschossen werden – und zwar in der Erwartung, das herabregnende Opferziegenblut werde dem Dorf allgemeine Fertilität spenden. Le quattro volte ist trotz dieser Episode, deren Herzstück eine rund elfminütige Plansequenz bildet, die tatsächlich auch von Tati stammen könnte, nicht wirklich eine ethnografische Unternehmung. Dennoch gibt die filmisch exakt präparierte Dokumentation traditioneller Praktiken im kalabrischen Hinterland dem ganzen Film eine außergewöhnliche Erdung und Konkretion, eine Basis, an der sich der metaphysische Überbau reiben kann.

In Le quattro volte besteht dieser Überbau aus einer Mischung aus Animismus und Metempsychose (beides wie das heidnische Tannenfest: diffus anti-christianisch). In Interviews verweist Frammartino regelmäßig auf den Umstand, dass sich der Vorsokratiker Pythagoras im 6. Jahrhundert v. Chr. zeitweilig in Krotone (dem heutigen Kalabrien) aufhielt und dort seine Schüler vermittels Techniken akusmatischer Pädagogik in die Grundsätze der Seelenwanderung einweihte, was sich untergründig tradiert haben soll: «Die Legende sagt, dass Pythagoras seine Studenten hinter einem Vorhang stehend unterrichtete. Vor diesem Vorhang sitzend, vergleichbar mit dem heutigen Kino, lernten seine Schüler fünf Jahre lang, seiner Stimme zu folgen und dabei die versteckte Bedeutung der Dinge zu entdecken, die Bedeutung, die hinter dem Schleier liegt, der sie kaschiert … Bedeutung besteht aus Ziffern, Seele und Idee. Im Grunde genommen besteht sie aus Staub und Lichtpartikeln, ähnlich der, die wir im Projektorstrahl entdecken, wenn wir uns im Kino nach hinten drehen.» (Frammartino)

In der ersten der insgesamt vier Episoden (respektive Seins-Zustände) folgt Frammartino einem Hirten, der am Rande der Dorfgesellschaft, nah am Tier, im Einklang mit den Naturverhältnissen sein Leben zubringt. Dazwischen: bukolische Totalen der kalabrischen Bergregion Serre. Der Hirte ist alt, allein und krank; seine Medizin besorgt er sich auf tauschwirtschaftlicher Basis, ohne Zustimmung eines Arztes, eines Gemeindepriesters, einer offiziellen Instanz: zusammengefegter Kirchbodenstaub, den die Hauswirtschafterin gegen Ziegenmilch ausgibt. Aufgelöst in einem Wasserglas soll die erdige Substanz, die allen anderen Schmutz ist, Leiden verringern und Leben verlängern. Eines Abends gelingt der Tausch eher zufällig nicht, die Therapie setzt aus und der Hirte stirbt, umgeben von seinen Ziegen, die in dieser Nacht nicht von seiner Seite weichen.

Schnitt. Eine Steinplatte schiebt sich, von innen gefilmt, vor eine Grabkammer. Die Kamera ist dort, wo der Leichnam des Hirten jetzt, vor seiner endgültigen Bestattung, sein müsste. Immer kleiner wird der Lichtspalt, von dem auch das Filmbild lebt, in seiner eigenen, photochemischen Transsubstantiationslogik, bis es, weil kein Licht mehr da ist, schwarz wird. Nach der Finsternis: das grelle Bild einer Ziegengeburt. Ein sekundenkurzer Schock, der mit der Entzifferung, was hier eigentlich zu sehen ist, zusammenfällt. Eine fast banale Montageoperation verbindet ein Bild des Todes mit einem Bild des Lebens und setzt einen Zyklus in Gang, eine filmisch dezent anmoderierte, aber doch unmissverständlich bedeutete Idee von Transmigration.

Ob man hier von «Seelenwanderung» sprechen muss? Ob der Hirte nun also voll im Ernst als Zicklein wiedergeboren vorzustellen ist? Und wenn ja, in welchem Bewusstseinszustand? Nicht nur, weil das Tier nicht spricht – wie es die rotäugigen Affen bei Weerasethakul ganz selbstverständlich tun –, sondern auch, weil Frammartino ungerührt in einem «dokumentarischen» Modus verbleibt, nämlich dem eines geschickt auflauernden Tierfilmers, rückt die Reinkarnationsidee nach dem Moment spekulativer Verknüpfung schnell wieder in den Hintergrund. Sie schießt kurz hervor und taucht dann wieder im dokumentarischen Präsens unter. Jetzt kann man in aller Ruhe Ziegen beobachten, die zunehmend weniger Aufhebens um die Anwesenheit einer so umständlichen Technologie wie 35mm-Kameras machen. Tiere sehen Dich nicht an, sondern machen ihr eigenes Ding, meist erratische gruppendynamische Sachen, es wird viel geschubst.

Der Kreis dreht sich weiter, das Zicklein, ein Außenseiter offenbar, wird von der Herde bei einer Walddurchquerung in einem Graben zurückgelassen. Da kann es noch so herzzerreißend meckern, nicht eine einzige Ziege kehrt um, da scheint es keinen stark ausgeprägten Paternalismus zu geben (aber einen abgebrühten Tiertrainer am Set). So verendet die kleine Ziege just unter jener Tanne, die in der dritten Episode, die sich mittels Jahreszeitenwandelbildern mit der zweiten verknotet, von der Festa della Pita-Baumfällervorhut umgelegt wird. Über den Winter hat sich der Tierkadaver in die Erdumgebung der Tanne verflüchtigt, sie im Verschwinden zugleich genährt. Aus der menschlichen Materie wurde eine tierische, wurde eine pflanzliche, wird eine mineralische.

Denn: Beim Pflanze-Sein bleibt es nicht; die Tanne, obwohl der Star der Feierlichkeiten, ist den Dorfmenschen nur Mittel zum Zweck. Nach dem Fest folgt der Kehraus: Auftritt der örtlichen Köhler. Mit geübten Handgriffen zersägen sie den Baum, der ein desorientiertes Zicklein war, das ein lungenkranker Hirte war, der was war? Die fragmentierte Tanne ist jetzt jedenfalls fürs erste auf ihren Rohstoffwert gebracht und wird zu einem eindrucksvoll archaischen Köhlermeiler abtransportiert und dort remineralisiert, in Holzkohle verwandelt. Bis auf jene Partikel, die als windbewegte Asche durch das Dorf geistern, sich dabei also letztlich auch mit jenem Staub vermischen, den Frammartino in der Kirchen-Sequenz elegisch gegen das Licht gefilmt hatte. Ein Partikelwirbel, eingefasst und geformt in einem Lichtkegel, der auch einem Projektorstrahl entstammen könnte, realiter aber natürliches Licht ist, das durch ein oberes Kirchenfenster einfällt.

So gesehen schließt sich ein Kreislauf, der sich in seiner filmischen wie materiellen Bewegung immer weiter vom Menschen, seiner äußeren Gestalt, seiner Sicht auf die Welt entfernt hatte. Zu den Besonderheiten von Le quattro volte gehört, dass hier eine eigentümlich materialistische Pathosform entfaltet wird, eine Form, die insistierendes Beobachten (die Ziegen allein im Stall, der Köhlermeiler nach seiner Einrichtung menschenlos vor sich hin schwelend) durch basale, aber hochspekulative Verknüpfungen ins Kosmische überhöht. Im Grunde ist es nur die Logik der Sukzession, simple Montagemomente, die das Material geistig formen, ihm eine Idee universeller Verbundenheit und Kommunion unterschieben – auf dass kein Partikel verloren gehen soll; alles spricht, auch das.

Le quattro volte erschöpft sich keineswegs in der Illustration einer irgendwie ja doch immer esoterisch angehauchten Idee von «Seelenwanderung». Elementar ist Frammartinos Kino vor allem in seinen glasklaren ästhetischen Setzungen, in der transparent hergestellten Eigenrechtlichkeit, mit der hier Welt, Tier, Mensch hierarchiefrei ins technische Bild gerückt werden. Elementar bedeutet nicht: natürlich. Fast alles in diesem Film zielt auf filmische Basisoperationen der Sinnstiftung (auch der artifiziell zwischen Vorder- und Hintergrund switchende O-Ton-Mix), auf die «erste Ebene der Signifikation» (Frammartino) und ist Produkt konzeptuell präziser Konstruktionsarbeit. Die oben erwähnte Plansequenz, die zur Fest-Episode gehört und in der nicht zuletzt die aufwendig antrainierten und choreografierten Revierbewachungsbemühungen eines Hundes eine entscheidende Rolle spielen, gelang Frammartino erst nach Wochen, mit dem 21. Take.