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Alles ist möglich Zum Werk des zügellosen Nouvelle Vague-Außenseiters und Revisionisten des französischen Kinos: Paul Vecchiali

Von Ekkehard Knörer

Change Pas de Main (1975)

© Shellac

 

Paul Vecchialis erster Film existiert nicht mehr. Les petits drames, 1961 entstanden, das Negativ wurde bei einem Brand zerstört. Reste kann man sehen in einer Kinosendung des französischen Fernsehens, «Les echos du cinéma» (numero 36), da sitzt Vecchiali mit Schnauzer, Krawatte und Anzug im Studio und antwortet auf Fragen des Moderators. Man sieht Ausschnitte, die Sendung gibt es zum Download beim Ina-Archiv. Einer dreht als Amateur ohne jede Ausbildung seinen ersten Film, 16mm, schwarz-weiß, er schreibt für die Cahiers du ­Cinéma, immerhin, gehört aber nicht zum inneren Kern der «Nouvelle Vague». Einer von vielen Kritikern, die sich als Filme­macher versuchen, und doch ist die Ewigkeit von zehn, ­fünfzehn Minuten Platz in der Sendung für ihn und den Film, in ein paar Fetzen für die Nachwelt gerettet. (Eine blonde Frau, Daniel Epstein, der Drehbuchautor, erzählt im Voiceover etwas zur Kriminalfilm-Geschichte. Eine Krankenschwester zwischen zwei Männern: einem Killer und einem Kommissar.) Im Jahr darauf entsteht ein Kurzfilm, Les roses de la vie, da spielt Jean Eustache die Hauptrolle, auch einer, der noch nichts gedreht hat, den man da noch nicht kennt.

Zu Vecchialis Langfilmdebüt – nach der Feuertaufe-Vernichtung des Erstlings – wird 1967 Les ruses du diable (Neuf portraits d’une jeune fille). Ein Märchen mit bitterem Ende: Eine junge Frau in Paris erhält Tag für Tag, monate­lang, einen Brief mit einem 100-Francs-Geldschein. Sie weiß nicht, von wem; sie versucht, es herauszufinden, vergeblich. Sie gibt das Geld gerne aus, Glück bringt ihr das nicht. Der Vorspann ist ganz Impression, Lichtgeglitzer, Musik, Bewegung, furioser Schnitt zwischen Puppen, Menschen und fast abstrakter Beleuchtung. Das ist mit einfachsten Mitteln gemacht, das wird die meiste Zeit so bleiben bei Vecchiali, der Aspekt des Amateurfilmers, der sich umso mehr Freiheiten nimmt. Alles, denkt man, ist beim Erstling schon da: der Wechsel der Stimmungen von einem Moment zum anderen, die Lust, sich dem Einfall des Augenblicks zu überlassen; von zartester Zärtlichkeit zu äußerster Brutalität geht das manchmal in ein paar Sekunden. Nichts wird ausgespielt, der direkteste Weg von hier nach da ist der Sprung. Gleich zu Beginn wird ohne weitere Erläuterung in einer Kneipe getanzt. Männergeschichten in der Natur. Fast eine Vergewaltigung. Die Großaufnahmen des Gesichts von Geneviève Thenier, Blick direkt in die Kamera, bis die nicht mehr zurücksehen mag: Abblende.

Nicht Charaktere, sondern Szenen entwirft L’Etrangleur. (Aber gilt das nicht für alle Filme von Vecchiali? Die Szene stellt eine Figur ins Licht, konkretisiert sie, zeigt sie im Denken, im Tun; die nächste Szene ist Kontrast, andere Facette. Das zu einem «ganzen Bild» zusammenzufügen, entspricht der Methode Vecchiali nicht.) Im Dunkel der Nacht unterwegs ist der Würger, Emile, ein freundlicher junger Mann, der sich Frauen, die sterben wollen, sehr höflich nähert, das feine Tuch zum Erdrosseln als Schal um den eigenen Hals, ein somnambul-traumentsprungener Überbringer der eigenen Todesfantasien. Die ungeheure Frische der Straßenszenen des Tages, alles immer ohne Absperrung gedreht, quasi-dokumentarisch, der Würger verkauft auf dem Wochenmarkt Gemüse und haftet seinen Blick auf todgeweihte Frauen, die vorüber­gehen. Dazwischen aber eine hypnotische Nachtbarmusik, in Hängematten räkeln als corps de ballet der hinreißenden Trash-Inszenierung sich junge Frauen mit langen Armen und Beinen in schwarz-weiß gestreiften Pullovern. Zurück im Tageslicht kommt es zur Annäherung zwischen dem Würger und dem ihn verfolgenden Polizisten (man ruft sich immerzu an), auch eine rothaarige Frau ist ihm auf den Fersen.

Der Film zerfällt ganz wunderbar, das Hetero­genie Vecchiali ist ganz bei sich, in Bildern der Nacht wackelt sich die Kamera zwischendurch, erinnernd, suggestiv, unterbrechend, durch eine Straße. Ein weiterer Höhepunkt, auch wieder nachts: Wir folgen Emile durch eine Sex- und Gewaltfantasie, dazu quetschorgelt die karnevaleske Musik von Roland Vincent, die von nun an dazugehört, quint­essentieller 70er-Soundtrack, Chanson-Sleaze, der sehr schön und in Würde durch die Jahrzehnte hindurch altert mit Vecchiali bis in die Nullerjahre hinein: sie fiept noch heute gern elektronisch. Die Musik wird im übrigen immer zuerst geschrieben, nach Hinweisen des Regisseurs. Sie geht dem Film voraus, der eigenen und fremden Gesetzen folgt, sich auf sie einstimmt, wie er sich auf die ­Darstellerinnen einstellt und die Lage der Dinge in der Stadt, der Natur. (In einem Interview schildert Vecchiali seine Erstbegegnung mit Vincent so: «Vincent: Sagen Sie mir nichts über das Drehbuch, nichts über sich, sprechen Sie einfach über das, was Sie erwarten. Vecchiali: Ich sprach mit ihm über die Nacht in Paris.») Die Texte zu den Chansons stammen meist von Vecchiali selbst, nach Möglichkeit singen seine Darstellerinnen en plein air: «Was mich interessiert, ist die Fragilität der Stimme, die Fragilität der Interpretation, die Gefühle ausdrückt, die der Text nicht so gut ausdrücken kann … Diese Fragilität ist mir nicht nur nicht peinlich, ich suche sie geradezu. Wenn es zu perfekt ist, gefällt es mir nicht sonderlich.» Da sind Serge Bozon, Axelle Ropert und die anderen Kritiker/Filmemacher der Lettre du Cinema-Clique, die in Bozons La France aus heiterem Himmel und mitten im Krieg ihre Lieder singen, gelehrige Schüler und sie begreifen sich ja auch ausdrücklich als solche. Als Bozon kürzlich im Centre Pompidou einen idiosynkratischen Gang durchs 20. Jahrhundert des französischen Films einrichten durfte, kam Vecchiali mehr als einmal drin vor.

 

Femmes Femmes (1974)

© Shellac

 

1974 dann Femmes Femmes. Wieder schwarz-weiß, ein Kammerspiel, Hélène Surgère und Sonia Saviange, nicht mehr ganz junge Schauspielerinnen, die in ihrer Wohnung sich gegenseitig Szenen aufführen, die sich was vorspielen, sich in Szenen aufführen, in denen die Stimmung umschlägt von Commedia-dell’arte-haftem Herumkaspern zu tiefem Lebensunglück. Hélène, die keine Jobs mehr findet und auch nicht mehr sucht, geht putzen im Untergeschoss. Michel Delahaye hält im Treppenhaus einen Vortrag über die Leberzirrhose. Gesungen wird auch immer wieder, die Wände sind tapeziert mit weiblichen Stars des französischen Kinos der dreißiger Jahre, auf den Tischen stapeln sich die leergetrunkenen Flaschen, Bier, Wein, Spirituosen. Der Film lief in Venedig (A-Festivals passierten Vecchiali sonst sehr selten), Pier Paolo Pasolini war so beeindruckt von den beiden Darstellerinnen, dass er in Salò, das war sein nächstes Projekt, Jeanne Moreau durch Hélène Surgère ersetzte und für Sonia Saviange eine eigene Rolle in seinen Film schrieb. Wieder und wieder, von Ruses de diable bis ganz zuletzt (sie starb im März 2011), spielt die fabelhafte Hélène Surgère in den Filmen Paul Vecchialis. Mal im Zentrum, mal am Rand, immer zur Stelle, seine actrice fétiche, die oft mehr Schwester und Kamerad ist als angehimmelte Göttin – letztere wird dann viel eher Danielle Darrieux sein, die für sich und sein Werk zu gewinnen, Vecchialis größtes Glück ist, von En haut des marches an, in dem sie nicht zufällig eine Figur spielt, die sehr an die Mutter des Regisseurs angelehnt ist. La Surgère ist keine hinreißende Schönheit, mehr Dame als Verführerin, ihr etwas schweres Gesicht, das stets konservativ frisierte Blondhaar scheinen mehr in eine frühere Epoche des Kinos zu gehören. Welch ein Irrsinn ist es, sie zum Gegenstand einer amour fou zu machen, wie es dann in Corps à cœur geschehen wird, 1979, da sind wir noch nicht. Surgère ist nicht frivol, niemals, und wenn sie unterm Blick eines entflammten Mannes zur Frivolität gezwungen wird, dann ist das so unpassend, dass es hinreißen muss.

1974, in Femmes Femmes, ist nun der ganze Vecchiali endgültig beisammen. Die Musik (Chansons wieder von Roland Vincent), die Verehrung des von der Nouvelle Vague verabschiedeten klassischen französischen Kino, die fantastische Freiheit, geschehen zu lassen, was dem Film in den Sinn kommt. Längst auch dabei als Kameramann George Strouvé, der eigentlich immer etwas unruhig filmt, dessen Kamera sehr beweglich ist und nicht die Fahrt und nicht die Annäherung ans Gesicht scheut (Zooms im engeren Sinn gibt es aber nicht); und doch ist da noch in der Bewegung ein Mangel an Eleganz, etwas Improvisiertes, eine Eckigkeit, die zur stets leicht arhythmisierten Eckigkeit von Vecchialis Schnitt hervorragend passt. Das Drehbuch hat Vecchiali mit Noel Simsolo (Schauspieler, Regisseur, Autor) geschrieben, dabei hat er, wie er sagt, etwas Entscheidendes gelernt, nämlich «meiner Imagination nicht im Namen der Strenge Zügel anzulegen». Vielleicht gibt es schon immer wieder Zügelversuche; dagegen zu bocken, das scheint der Punkt.

Ungezügelt in jedem Sinn des Worts ist Change pas de main, 1975. Was hier gezielt durcheinander zusammenkommt, und vor allem auch: wie, lässt sich schwerlich beschreiben. Zunächst: Change pas de main ist ein Porno. Der allerdings vor der Einführung des X-Ratings entstand und deshalb – für eine Woche – ganz regulär in den Kinos lief. Es treffen hier die Vecchiali-Darsteller (Surgère, Myriam Mézières, Simsolo, Delahaye etc.) auf die Porno-Actrice Claudine Beccarie, das ganze in einem Erpressungsfall, der Krimiplot angelehnt an Raymond Chandlers The Big Sleep: Madame Bourgeois (sic; Surgère) steht vor ihrer Berufung zur Ministerin, jedoch werden ihr Filme zugespielt, in denen ihr Sohn in sehr expliziten sadistisch-nekrophilen Sexszenen zu sehen ist. Zwei Detektivinnen, einander gleichfalls erotisch auch zugetan, machen sich auf die Suche. Es wird gestorben, es kommt zu Orgien und in einer Orgie zu einer makabren Verfolgungsjagd zwischen nackten Leibern mit Karnevalsmasken. Dazu orgelt die Musik von Roland Vincent und gegen Ende hat Michel Delahaye – der Verbindungsmann zu Jean Rouch, den Cahiers, Rivette, immer wieder mit von der Partie – noch ein Solo als reaktionärer Colonel im Rollstuhl. Das ist alles politisch, Madame Bourgeois mit ihren Ministeramt­ambitionen und im Hintergrund der Algerien­krieg. Überhaupt lugt die Politik immer wieder hervor, ganz buchstäblich, bei Vecchiali: Der Kurzfilm Masculin Singuliers erzählt eigentlich, wie sich zwei Männer im Taxi begegnen und dann in der Wohnung des einen dies und das miteinander treiben. Der Vorspann aber ist über Politiker-Wahlkampfposter von Giscard D’Estaing und Chirac auf den Straßen von Paris plakatiert. Credits auf Politikerstirnen. Alles hat Platz in Vecchialis Filmen. Es steht sich groß­artigerweise dabei nichts im Weg. Gerät nur aneinander auf der fröhlich-vergeblich unverdrossenen Suche nach der Dialektik des Heterogenen. Die Figuren und Szenen fallen sich in den Arm, manches fällt dem Zuschauer auf die Nerven, man singt melancholische Lieder, Verhältnisse werden zum Tanzen gebracht, was nicht gesagt werden kann, wird gesungen, die Dinge nehmen brutal unerwartet eine Wendung, Szenen und auch die Musik beginnen plötzlich und enden abrupt.

Wie schlug das jetzt nochmal um? Wie sind wir hierhin geraten? Wo das Disruptive Gesetz ist, ist erst einmal kein Element per se fremd. Das ist vielleicht die entscheidende innere Ökonomie dieses Werks: Es geht alles. Was auch heißt: Man fliegt immer wieder raus, aus der Stimmung, die eben noch herrschte, aus der Geschichte, auf die diese Szene noch zulief, denn die nächste will schon wieder anderswo hin. Es folgt eine Unterbrechung auf die nächste, der Schwung trägt noch ein Stück, dann fährt wieder etwas dazwischen. Was beim um die Ohren Fliegen der hinreißenden Trümmer (aber viele sind ganz banal, das darf man auch nicht vergessen; insbesondere das Nichtbesondere, das Ungeschliffene gehört immer dazu) nicht entsteht, ist Selbstreflexion. Die hasst Vecchiali ganz ausdrücklich. Wieder und wieder kritisiert er exemplarisch Jeanne Moreau: «Sie sieht sich spielen.» (Welch ein Triumph, wenn Hélène Surgère bei Pasolini ausgerechnet Moreau ersetzt!) Vecchiali dagegen spielt und lässt sich, seine Filme, seine Szenen, seine Schauspieler gehen. Er folgt der Musik, die nichts vor- und nichts festschreibt. Spiel ist wichtig, auch in der Hinsicht, dass sich die Elemente nicht fest fügen, dass die Kunst des Regisseurs nichts festzementieren darf. Da kritisiert er auch seinen Freund und Mitstreiter und Schüler Jean-Claude Guiguet: «Es gibt etwas im Kino, das mich schrecklich ärgert, das ist die Erpressung zur Kunst. Ich finde den ersten Film von Guiguet großartig, aber es gibt in seinem Kino einen Aspekt des Fabrizierten, der mir nicht gefällt, eine bestimmte Emphase, die daher kommt, dass der Regisseur zeigen will, dass er Kunst macht. Das kann ich nicht haben. Ich glaube wie Renoir, dass das Kino zuerst eine populäre Kunst ist … Was mich dabei langweilt, ist vor allem, dass man ihre Filme nicht anders sehen kann; sie mögen sehr schön sein, aber es gibt nur diese eine Art, sie zu sehen. Keine mögliche Dialektik.» Voilà, das ist ein Credo: Es muss Spiel bleiben zwischen den Elementen. (Anmerkung des Verfassers: Die Filme von Guiguet sind übrigens gerade in ihrem Kunstwollen ziemlich toll. Man sieht, wie er sich nach seinem Debüt Les belles manières von 1978, der noch nah dran ist am Lehrer, von Vecchiali wegbewegt, hin zu etwas ganz Eigenem. Es gibt nicht nur eine Art Kino, selbst und erst recht unter Freunden.)

Die Freunde formieren sich 1976 quasi ganz offiziell. Vecchiali gründet eine Produktionsfirma, Diagonale, weil es eben nie geradeaus geht bei ihm. Zusammengehalten ist das nicht durch irgendwelche Gelder, sondern durch den Willen zur Solidarität und dazu, gemeinsam Filme zu machen. Guiguet ebenso wie Jean-Claude Biette (der spätere Mitgründer von Serge Daneys Trafic, Regisseur eines schmalen, unbedingt aufregenden Werks, dazu ein andermal mehr) sind beteiligt, es stoßen Jacques Davila, Marie-Claude Treilhou und Gérard Frot-Cotaz dazu. Die Filme der anderen sind glatt noch schwerer greifbar als die von Vecchiali – , insbesondere das Werk Treilhous lobt Vecchiali immer aufs Neue in den höchsten Tönen. Die, so die Eigenbezeichnung: «Diagonaleux» drehen große, mittlere, kleine Filme, meist mit sehr wenig Geld. Sie bleiben alle, wie Vecchiali, Außenseiter im französischen, d.h. Pariser Filmbetrieb, warten Jahre, kratzen das Nötigste zusammen, beuten sich selbst aus, arbeiten mit anderen Freunden, die sich auch selbst ausbeuten, leben von anderen Dingen, schaffen es selten zu Festivals, haben partout keine Erfolge, die über diese anstrengende, dürre Solidarökonomie hinausführen.

1998 wird Vecchiali, frustriert duch die Mühen, den Kampf mit den Kommissionen, seine Freundschaftsfirma «Diagonale» dichtmachen und sogar beschließen, fortan selbst keine Filme mehr zu drehen. Es kommt dann anders, dazu mehr später. Unendlich viel passiert in Corps à cœur (1979). Und alles beginnt bei einem Konzert mit der Musik von Gabriel Fauré, die hier den Ton angibt: Pierrot (Nicolas Silberg) erblickt Jeanne-Michèle (Hélène Surgère) und will nie wieder von ihr lassen. Er arbeitet in einer Autowerkstatt, sie in der Apotheke. Es gibt Assistenzfiguren und eine Art grotesken Chor, der dazwischenkommentiert, Teil davon ist wieder Michel Delahaye. Unvergesslich, wenn sich Pierrot in seinem Auto einbunkert, an der Ecke, die der Apotheke gegenüberliegt. Er verschanzt seine Liebe hinter einer Blumenbarriere, schläft auf den Vordersitzen, belagert die geliebte Frau, die selbst eine Virtuosin des Sich-Entziehens ist und sich dann, auf einmal, nicht mehr entzieht. Es gibt ein Glück zu zweit, auf dem Land, am Meer, sie ist, sagt sie, todkrank, der liebende Blick (Pierrots, des Films, Vecchialis) auf den nackten Körper von Jeanne-Michèle am Strand. Später stirbt eine Frau aus dem «Chor», eine seltsame Trauerfeier findet statt auf einem Hausdach. Übrigens: Auch Biettes Debut Loin de Manhattan beginnt mit einer ganz langen Szene auf einem Hausdach. Eine Bühne vor Paris als Hintergrund, ganz umsonst und doch eindrucksvoll.

Über das Thea­tralische müsste man überhaupt sprechen, bei Biette und Vecchiali (und Bozon und so weiter) – wie hier die Bewegung der Körper, ihr Sprechen, Verharren und Tun ganz filmisch sind, aber so, wie es das Kino nur vom Theater – aber dem Theater wie in den Filmen Rivettes – gelernt haben kann. Vecchialis explizit autobiografischster, sein am stärksten komponierter Film, am ehesten das, was in seinem Oeuvre der traditionellen Idee eines Meisterwerks nahekommt: En haut des marches (1983) beginnt mit Fotos aus dem Toulon der 30er Jahre, Fotos von seiner Mutter, untermischt mit Bewegtbild im Sepiaton, dazu die Stimme des Regisseurs auch im Sepiaton, der seine Mutter und seine Vergangenheit adressiert: kein im strengen Sinn historischer Film, und doch das Heraufbeschwören von Erinnerungen und Szenen von einst. Eine Ankunft am Bahnhof, es steigt aus Danielle Darrieux, der große Star des von Vecchiali vergötterten französischen Kinos der 30er, 40er Jahre: als Francoise Canavaggia, als – das steht dem anderen Namen zum Trotz durchaus fest – seine Mutter. (Widmung: A ma mère.) Sie, France, die Mutter, war lange nicht in der Stadt, Toulon, die sie verließ, weil die Familie, ihr Mann auf der Seite Pétains standen. Jetzt kehrt sie zurück, aufzuräumen mit der Geschichte, hat zu diesem Zweck in der Handtasche den Damenrevolver. In diesem Film, der virtuos die Ebenen mischt, ineinander verschiebt, hört man Originalton Pétain, Originalton De Gaulle, sieht die Straßen der Stadt, es laufen die Zeiten ineinander, die Autos der dreißiger Jahre, das Graffito an der Mauer aus dem Jahre 1983 («Sex»), dazwischen geht, sitzt, singt die große Darrieux – neben ihr: wieder Hélène Surgère – auf ihrem Erinnerungs-Rache-Bilder-Beutezug durch die Vergangenheit. Der Film macht ihr den Prozess, buchstäblich, in aller Liebe, nichts ist einfach und Gerechtigkeit eine Sache der Poesie, eine Anwältin tritt auf, Francoise Lebrun, die fortan nicht mehr aus dem Werk des Regisseurs verschwinden wird.

Trous de mémoires, der nächste Film, wird das glatte Gegenstück, ganz simple Mittel, eine Zweier-Improvisation in der Natur: Vecchiali/Lebrun, da finden sich zwei wieder, auf der Suche nach einem Lied. Zwanzig Jahre später noch, in A vot’ bon cœur, sitzt Lebrun neben Vecchiali auf der Couch und singt einen melancholischen Chanson, eine explizite Hommage an Jacques Demy. In einer großen, untypischen, aber umso wichtigeren Plansequenz sammelt Vecchiali (Kamera wieder, wie fast immer, Georges Strouvé) in En haut des marches die Ausschnitte, die Figuren, das Geschehen der Vergangenheit in der Gegenwart spät im Film vorläufig ein. Natürlich bleiben auch hier Reste, natürlich geht nichts einfach auf bei Vecchiali, natürlich steht Michel Delahaye wieder herum und spricht direkt in die Kamera Text und doch: die Details aus dem Gemälde fügen sich für den Moment jedenfalls in ein ganzes Bild, auf dem die Kamera lange Momente verharrt. Alles wird an seinen Platz gerückt. Dazwischen flanieren auf der Vernissage der Malerin Canavaggia die Diagonaleux: Biette und Guiguet, Frot-Cotaz, nur Marie-Claude Treilhou war verhindert. (Natürlich geht es so nicht aus.) La famille Vecchiali: die Mutter, vertreten durch die Wahlmutter Darrieux («Jedesmal, wenn ich sie vor mir sehe, fühle ich mich ungeheuer fragil. Es ist furchtbar. Sie hat mir am ersten Drehtag gesagt: ‹Paul, ich weiß, wie du zu mir stehst, aber ich will einen Regisseur, keinen idolatrischen Zuschauer›»), die Freunde, Assistenten – ich weiß nicht, ob darunter auch Liebhaber waren – und Schüler. Vecchiali liebt es, eine Geste der Familienerweiterung, seine Filme und Bücher zu widmen: Fauré, Gremillon, der Mutter, dem Vater. Der Roman Indécente Memoire (2003, ja, Romane gibt es auch, dieser verschränkt auf erstaunliche Weise schwulen Sex, Algerienkrieg und anderes mehr) trägt die schönste Widmung: A tous les frustrés de la vie. Einen Vaterfilm, zehn Minuten lang, hat Vecchiali ebenfalls gedreht: La maladie, da liest er selbst in nüchternem Ton die Tagebucheinträge seines Vaters, der an Krebs erkrankt und den eigenen Niedergang festhält bis kurz vor dem Tod. Luc Moullet: «Maladie ist der Film, der mir jedes Mal wieder Lust macht, selbst einen Kurzfilm zu drehen.»

 

Rosa, la Rose (1986)

© Shellac

 

Ich mache einen Sprung – es liegt noch vieles dazwischen, sein erfolgreichster Film Rosa, la rose und Encore und fürs Fernsehen unter anderem das Série-noir-Werk Cœur de Hareng – ins Jahr 1998. Vecchiali ist frustriert, seine Anträge auf Avances sur recette (der wichtigste französische Subventionsfonds für künstlerische Filme) sind im Lauf der vegangenen zehn Jahre achtzehn Mal abgelehnt worden. Er beschließt, nicht mehr zu drehen, macht Schluss mit der Diagonale. Jedoch ist ein Mann wie er nie ohne Projekte. Er schreibt Romane und beginnt mit einem recht einzigartigen Unternehmen, einer Revision – im doppelten Sinn des Worts – der französischen Kinogeschichte. Die Filme seiner Kindheit haben ihn für immer geprägt. Das von der Nouvelle Vague so verachtete Kino der Qualität, von Claude Autant-Laura bis Jean Grémillon. Die Stars von Danielle Darrieux bis Jean Gabin. Mit sechs, erzählt er in einem Interview, hat er zu seiner Mutter gesagt: «Ich werde einmal Kino machen.» Anders kann es nicht sein. Alle Filme, die greifbar sind in den Kinematheken, sieht er noch einmal und schreibt zu jedem einen subjektiven, kritischen Text. Zwölf Jahre später, Ende vergangenen Jahres, erscheint dann, abgeschlossen nach den Jahren der Sichtung, L’Encinéclopedie. Cinéastes «francais» des années 1930 et leur œuvre. Zwei Bände, zusammen mehr als 1500 Seiten. Komplett annotierte Filmografien, ein Lexikon des französischen Films der 30er Jahre – und darüber hinaus, denn Vecchiali verfolgt das Werk der Regisseure jeweils zu Ende, sieht alles, was Marcel Carné und Jean Renoir und Julien Duvivier und all die meist unbekannteren anderen in den folgenden Jahrzehnten noch gedreht haben. Und er nimmt auch die Filme ausländischer Regisseure auf, deren Karriere sie einmal nach Frankreich geführt hat, von Paul Czinner, dessen Ariane jeune fille russe (1931) er für ein absolutes Meisterwerk hält, bis Ludwig Berger, dessen Trois valses (1938) er nicht weniger schätzt. Die Subjektivität seiner Urteile ist methodisch essentiell, wie er in kurzen Überlegungen – unter anderem – zur Cinephilie am Ende des ersten Bands festhält: «Über Bande der Liebe kann man nicht diskutieren, sie sind nicht theoretisierbar. Sie haben Evidenz (für einen selbst), sind kommunizierbar (im Gespräch) mit Vorsicht oder Scham oder, im Krieg, mit viel Lärm.» Vecchiali macht Entdeckungen, feiert große Unbekannte wie Jean Poirier oder Bernard Deschamps oder Pierre Chenal – man möchte das alles sofort selbst sehen, aber wenig bis nichts gibt es davon auf DVD, selbst die besten Internetarchive geben da derzeit nicht viel her.

Und zur Revision gehört auch: Vecchiali hält mit seiner Geringschätzung für manchen Klassiker, etwa Renoirs La grande illusion, nicht zurück. Die Encinéclopédie ist ein Werk der Liebe, ein riesiges Schatzhaus der zu entdeckenden Filme, so idiosynkratisch wie alles bei Vecchiali, einem Autor, der nichts als sich repräsentiert, einem Regisseur, der sich auch in der Liebeswahl Freiheiten nimmt und wenig auf Tradition und Regelwerk gibt. Und es war dann doch noch nicht Schluss mit dem filmischen Werk. Ohne Geld, mit digitaler Videokamera drehte er 2004 im Guerillastil doch wieder los. A vot’ bon cœur ist ein irres Ding, regellos, ganz der alte Vecchiali, aber noch sprunghafter, ohne Rücksicht auf Ausleuchtung und andere Perfektionsverluste. Mit viel improvisiertem Gesang und Film-im-Film-Absurditäten erzählt der Film eine Rachegeschichte. Vecchiali, der sich selbst spielt, hat mal wieder einen Avance-sur-recette-Antrag eingereicht. Die Kommission diskutiert in einem neunteiligen Splitscreen und kommt zum Ergebnis, dass der Regisseur – ja, gewiss, Bestandteil des nationalen Erbes, aber was er da wieder vorhat … – erneut keine Gelder erhält. Mit seinen Freunden schreitet er darauf zur Tat gegen die Avance-sur-recette-Kommission. Alle neune werden sie umgelegt, mit dieser und jener Methode. In die Kommission setzt Vecchiali nicht Feinde, sondern Freunde: Marie-Claude Treilhou wird ebenso wie Michel Delahaye (ein bisschen Gift in den Kaffee) abgemurkst.

Der Film, der sehr lustig ist, läuft mit Erfolg in der Quinzaine und also dreht Vecchiali einfach weiter. Fürs Fernsehen den ebenfalls als Film-im-Film angelegten Schwulenporno im Internet-Dating-­Milieu Et + si @FF. Vor ein paar Jahren hat er sich eine Villa im Städtchen Le-Plan-de-la-Tour in der Provence gekauft und sie auf den Namen Mayerling getauft (natürlich nach dem Film von Anatole Litvak aus dem Jahr 1936 mit Danielle Darrieux) . Hier dreht er nun Jahr für Jahr wieder Filme, mit minimalem Budget, ohne reguläre Auswertung, keiner davon ist derzeit irgendwo greifbar, in der Hautprolle immer er selbst. Biette und Guiguet, die engen Schüler, hat er überlebt. Treilhou bekommt nur alle Jubeljahre genügend Geld für ihre Filme zusammen. Nicht das, was man eine Erfolgsgeschichte nennt. Aber das Diagonale-Erbe lebt: Die aufregendsten Außenseiter des französischen Gegenwartskinos – die erwähnte Lettre du cinéma-Gruppe um Vincent Dieutre, ­Axelle Ropert, Serge Bozon und andere – haben nun ihrerseits Paul Vecchiali als eine Art Ersatzvater adoptiert. In der offiziellen Geschichte des französischen Kinos kommen sie alle kaum vor. Es ist selbstredend die offizielle Geschichte, die dabei erbärmlich schlecht aussieht. Und darum ist Vecchialis Encinéclopédie ein solcher Triumph: Die Geschichte des französischen Kinos, umgeschrieben durch ihren größten und leidenschaftlichsten Amateur. 

Nur geringe Teile von Paul Vecchialis Werk liegen auf DVD vor – und die nur in rein französischen Editionen. Zum Einstieg: Coffret Vecchiali. Corps à coeur, En haut des marches, Rosa, la rose. L’Encinéclopedie: Cinéastes «français» des années 1930 et leur œuvre. 2 Bände. Montreuil 2010