John from Cincinnati
Die viel beschworene Freiheit, die den Creators und Showrunners auf HBO gelassen wird, hat natürlich auch eine Grenze. Und wir können uns freuen, dass wir die nicht nur ahnen müssen, sondern konkret sehen können, wie es auf der anderen Seite dieser Grenze aussieht – anders als das bei Grenzen, die das Gesetz setzt, meist der Fall ist. John From Cincinnati ist genau die Serie, die ein Tick zu verrückt war. Creator David Milch, der dafür immerhin seinen großen Erfolg Deadwood, irgendwie in der Mitte von allem und nach der Einführung einer komplett funktionslosen Armee neuer Figuren aus dem Theatermilieu, aufgegeben hatte, bekam die zweite Staffel nicht finanziert, die vielleicht die in der ersten gelegten Fährten zu irgendeinem Ziel geführt hätte. Oder auch nicht.
Wie tendenziell schon in der dritten Deadwood-Staffel reagiert Milch in John From Cincinnati auf Schwierigkeiten auf der Plotebene sympathischerweise durch Akkumulation von Ideen. Mehr ist mehr! Serie als exponentielles Wachstum von Welt ist ihm lieber als jede Art von Ökonomie. Wo eine bestimmte Type eine Rolle spielt und verschwindet, stirbt oder ins Witness-Protection-Program emigriert und dann durch eine funktionale Entsprechung ersetzt wird, entsteht Struktur. Daran sind die anderen Daves interessiert, Chase und Simon, erst recht die Autoren von personenfixierten Plots wie in Breaking Bad. Milch aber baut einfach nur immer noch eine Windung und Wendung und schafft busladungsweise Neben- und Hauptfiguren herbei, aus denen vielleicht später auch nochmal was wird.
In John From Cincinnati haben wir allein schon mal zwei Jesus-Kandidaten. Das ist selbst bei der hohen Zahl von Paraphrasen der Greatest Story Ever Told eine rar bis singulär gebliebene Theologie (vom Leben des Brian einmal abgesehen). Da gibt es einmal die Titelfigur, eine Mischung aus Maschine und Messias. Dieser der Einfachheit halber John genannte Typ hat irgendwelche Weisungen von einem «Vater» und reichlich Visionen, aber meistens kann er nur das wiederholen, was andere gerade gesagt haben. Der andere Jesus ist ein Surfer, der sich das Genick bricht und dann per medizinisches Wunder wieder vollständig gesund wird, aber manchmal verschwindet.
Einen Hang zum Verschwinden und zur Schwerelosigkeit teilen die zwei Söhne Gottes. Sollte der minderjährige Surfer-Jesus übrigens ein solcher Sohn sein, wäre Gott ein Junkie (eine Idee, die David Milch, selber Gott, selber Junkie, zuzutrauen wäre). Denn sein irdischer Vater, seinerseits ein begnadeter Surfer, ist ein haltloser Heroin-User – angeblich ist das so, weil seine Mutter, Jesus’ Großmutter, ihm unter LSD beigebracht hat, wie man richtig masturbiert. Traumaalarm! Man vergisst indes allzu leicht, dass die ganze Surferdynastie nur deswegen ihren Heiligen zurückbekommt, weil ein wunderlicher pensionierter Polizist – sein hinreißender, Peter Falk komplett auspeterfalkender Darsteller, Ed O’Neill, ist den Älteren noch als Al Bundy bekannt –, der zu den Vögeln spricht (noch ein Heiliger!?!), den Begabtesten unter seinen gefiederten Freunden zu magischen Zwecken einzusetzen versteht (was später Schwierigkeiten bei der Abrechnung der Krankenhauskosten verursachen wird).
Außerdem tragen das Porn-Biz, Beachpunks, die hawaiiianische Mafia, ein Vietnam-Veteran, der Mexikanern über die Grenze hilft, ein ominöses Hotel, eine Surf-Kulturindustrie, ein vor zwei Jahrzehnten als Kind missbrauchter Lotto-Millionär, viel LSD und alle anderen Drogen, ehrgeizige Videodokumentaristinnen und eine von immer neuen magischen Typen weiter angereicherte lokale Bevölkerung zu unerschöpflichen Wirrungen und Wendungen bei, die engherzige Plot-Fanatiker schon auf die Probe stellen können. Milch hat sich die Serie gemeinsam mit dem für so genannte Surf-Noir-Romane bekannten Kem Nunn ausgedacht. Ich will nicht behaupten, dass ich irgendetwas über ihn weiß. Aber Milch hat auch reichlich Personal von Deadwood mitgenommen, Writer Ted Mann etwa, der auch in einer kleinen Rolle mitspielt, oder den großen Dayton Kellie, der dort als Charlie Utter, hier als Drogenhändler Steady Freddie wunderbar zarte Andeutungen einer subtilen, beschädigten Knarzigkeit gibt.
Unausgesetzt wedelt das dichte, an rätselhaft lustigen Sätzen überreiche und dicht bevölkerte Opus mit Andeutungen auf Ereignisse, die sich vor den zehn Tagen abgespielt haben, an denen die zehn Teile der Serie spielen, oder die sich noch zutragen werden, wenn HBO die bewilligten weiteren Moneten rübergeschoben haben wird. Die Serie hat nach der zehnten und letzten Folge im Prinzip noch alle Möglichkeiten: Will sie sozialkritisch US-mexikanische Border-Verhältnisse, durchgeknalltes Surferdelia und seine Subkulturen oder ein heiteres Heiligenraten und Allegorienauflösen künftig in den Mittelpunkt stellen? Die legendär toleranten HBO-Bosse müssen geahnt haben: Aller Wahrscheinlichkeit nach hätte David Milch einfach einen weiteren kompletten Satz neuer Surrealien aufgeboten. Da ist ihnen dann doch blümerant geworden und sie haben das Geld lieber für Entourage ausgegeben.