filmwissenschaft

Das klare Denken genügt uns nicht Zu Antonin Artauds Texte zum Film

Von Timo Ogrzal

Antonin Artaud as Marat in Napoléon Abel Gance (1927)

© Gaumont

 

Antonin Artaud spielte zwischen 1924 und 1935 überwiegend kleinere Rollen in 22 Filmen. Den Beginn seines Engagements markiert ein teuflischer Liebhaber in Claude Autant-Laras Fait divers; Artauds letzter Filmauftritt ist die Rolle des Cyrus Beck in Maurice Tourneurs Benoit-Verfilmung Koenigsmark. Artaud blieb der durchaus erhoffte große Durchbruch als Filmschauspieler verwehrt, sein Spiel galt vielen als zu exzentrisch und übertrieben. Auch seine unberechenbaren Stimmungsschwankungen und Wahnvorstellungen, seine notorische Unpünktlichkeit und die Drogensucht zogen Distanzierungen von Kollegen und Verantwortlichen im Filmgeschäft nach sich. Die expressionistische Grundausrichtung seines Spiels führte zu Vergleichen mit Fritz Kortner oder Conrad Veidt, aber die überlieferten Anekdoten, etwa von Claude Autant-Lara, Abel Gance oder Jean Epstein, erinnern heute nahezu zwangsläufig auch an Klaus Kinski.

Dennoch war Artaud, in den Grenzen seines Nebendarstellertums, in der französischen Filmszene der 20er Jahre etabliert. Die Mitwirkung in Filmproduktionen war für ihn angesichts ständiger Geldsorgen eine willkommene Verdienstmöglichkeit und eröffnete Kontakte zu den einflussreichsten Filmschaffenden der Zeit. Er spielte zum Beispiel den Revolutionär Marat in Abel Gances Napoléon (1924), den fürsorgenden Mönch Massieu in Carl Theodor Dreyers La Passion de Jeanne d’Arc (1927) und den listigen Bankierssekretär Mazaud in Marcel L’Herbiers opulenter Zola-Adaption L’Argent (1928). Außerdem trat er in G. W. Pabsts französischer Fassung von Die Dreigroschenoper (1930) und, in der Rolle des Wachengels und Scherenschleifers, in Fritz Langs erster Arbeit im Exil, der in Frankreich produzierten Liliom-Verfilmung von 1934, auf.

Brüchige Überlieferungssituation

Der neue 11. Band der von Matthes & Seitz initiierten deutschen Werkausgabe dokumentiert Antonin Artauds filmbezogene Textproduktion der 20er und frühen 30er Jahre und orientiert sich (mit hinterfragbaren Auslassungen, aber auch mit sinnvollen Erweiterungen) grundlegend am dritten Band der französischen Œuvres complètes. Er umfasst Artauds Drehbücher und Film-Exposés, Essays und filmtheoretische Reflexionen, Briefe an Freunde und Filmkollegen sowie Betrachtungen zum Film in Interviews und Umfragen. Da diese Materialien bisher vornehmlich Lesern der französischen Originale oder der englischen Übersetzungen vorbehalten geblieben und in Teilaspekten eher über einflussreiche filmtheoretische Bezugnahmen (z. B. Frieda Grafe oder Gilles Deleuze) bekannt geworden sind, erschließt der Band eine weitere Leerstelle der (deutschsprachigen) Wahrnehmung des französischen Dichters, Theaterdenkers, Schauspielers und Zeichners.

Im Hinblick auf die deutschsprachige Diskussion beendet der Band eine unzureichende Gemengelage, bestehend aus zum Teil alten und ungenauen Übersetzungen, Teilpublikationen in vereinzelten Zeitschriften, Raubdrucken und dem Kolportieren vom Hörensagen, das sich in solch brüchigen Überlieferungssituationen des zugrunde liegenden Materials häufig einstellt. Nun jedoch gilt: über 40 Jahre nach der Publikation des damals bereits überarbeiteten und erweiterten dritten Bandes der französischen Œuvres complètes liegt das Textmaterial endlich in einer soliden deutschen Ausgabe vor. Das ist nicht zuletzt das Verdienst des 2009 verstorbenen Herausgebers und Übersetzers Bernd Mattheus, der auch den nun vorliegenden Band mit detailreichen Anmerkungen, Korrekturen und einem aufschlussreichen Nachwort versehen hat. Die ansprechenden Gestaltung von Erich Brinkmann bringt es mit sich, dass das Format deutlich kleiner ausgefallen ist als bei den früheren Bänden der Artaud-Werkausgabe in der Reihe «Batterien». Im Vergleich beeinträchtigt diese Verkleinerung leider die Lesbarkeit und die allgemeine Orientierung im Text – ein schönes Buch ist es aber allemal.

Denk-Kino

Jenseits der schauspielerischen Engagements im Film der 20er und 30er Jahre ruft der nun vorliegende Band allerdings zu einer erneuten Auseinandersetzung mit Artauds eigenen Filmentwürfen und mit seinem Filmdenken auf. Die neun erhaltenen Drehbücher und Filmentwürfe stellen nach Bernd Mattheus’ Einschätzung nur etwa die Hälfte der anderen verloren gegangenen Filmtexte dar. Besonders während seiner aktiven Teilnahme an der surrealistischen Gruppe um André Breton (1925/26) schrieb Artaud zahlreiche Filmentwürfe. Allerdings verdeutlicht auch dieser Band mit Artauds Texten zum Film, dass eine voreilige Eingliederung und Gleichsetzung seiner filmbezogenen Reflexionen mit Aktionen und Werken aus dem Umkreis der surrealistischen Gruppe unzulässig ist. In dieser Hinsicht klärt der Band manch eingeschliffenen Gemeinplatz auf.

Wirft man einen Blick auf die Entwürfe, so fällt eine Besonderheit sogleich ins Auge: sie sind nicht pragmatisch oder strategisch für eine filmische Umsetzung geschrieben, sondern verfügen über einen poetischen Eigensinn und Überschuss. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, lassen sich keine technisch-instrumentellen Anweisungen finden, die darauf deuten, dass sich der präsentierende Text akzidentiell zu einer zu erfindenden filmischen Darstellung verhält. Genau genommen zeigt sich in diesen Texten kein Schreiben für den Film, sondern vielmehr ein filmisches Schreiben, das durch seine Verfahren der poetischen Bildgenerierung, Bildverdichtung und durch seine Schnitte eine Form der Montage auf dem schmalen Grat zwischen Auflösung und Verbindung zur textuellen Darstellung kommen lässt. In dieser Hinsicht sagt das filmische Schreiben in Form von Spuren sehr viel mehr über Artauds Filmdenken aus, als es manche vermeintlich beredte technisch-pragmatische «Anweisung» zu leisten vermag. Artauds Filmtexte sind nie «Rezepte», können nie einfach «abgefilmt» oder «umgesetzt» werden, sondern reizen zur Auseinandersetzung. Sie ziehen Fragen der Übertragung und Übersetzung des Textes in den Film nach sich und eröffnen gerade dadurch eine aporetische Wendung hin zum Unmöglichen, weil der Materialstand der kinematografischen Zeichen bei Artaud längst nicht mehr als unversehrtes Reservoir filmischer Darstellbarkeit, sondern als ein abgründiges Unvermögen einer filmischen Vermittlung von Bild, Denken und Weltbezug erscheint.

In diesem Sinne heißt es im Hinblick auf das Unterfangen, für das Kino eine Bildsprache jenseits des «Wesen[s] selbst der Sprache» zu erfinden: «Man sucht einen Film mit rein visuellen Situationen, dessen Drama hervorginge aus einem für die Augen bestimmten Zusammenstoß, der gewissermaßen der Substanz selbst entnommen würde und nicht psychologischen Umschreibungen diskursiver Art entstammt, die nur visuell übersetzte Texte sind. Es geht nicht darum, in der visuellen Sprache ein Äquivalent zur geschriebenen Sprache zu finden, deren schlechte Übersetzung die visuelle Sprache lediglich wäre, sondern wirklich das Wesen selbst der Sprache vergessen zu machen und die Handlung auf eine Ebene zu befördern, wo jede Übersetzung überflüssig würde und wo diese Handlung fast intuitiv auf das Gehirn einwirkt.» (20/21) Greifbar wird hier Artauds Denken der Filmhandlung im Sinne einer direkten und schockartigen physischen Einwirkung auf den Geist, als ein Impuls für die Entfaltung des Denkens.

In seinem zweiten Kinobuch Das Zeit- Bild hat Gilles Deleuze an dieser Stelle an Artaud angeschlossen und zu zeigen versucht, dass die Konstellation von Denken und Kino nicht mehr unter dem vorausgesetzten Primat der souveränen Denkleistung und der «sensomotorischen» Hegung des Bildes erscheint. Beide Aspekte, Denken und Bilddynamik, laufen vielmehr aus dem Ruder und Artauds Denk-Kino ist in diesem Sinne Aufriss eines kinematografischen Schauplatzes, der das Unvermögen des Denkens, zu sich selbst zu kommen, in entkoppelten Bildern artikuliert. So heißt es zum Beispiel im Drehbuch des Suizid-Plots Die achtzehn Sekunden: «Er wurde von einer bizarren Krankheit befallen. Er war außerstande, seine Gedanken zu fassen; er bewahrte seine ganze Luzidität, aber welcher Gedanke auch immer bei ihm aufkommt, es gelingt ihm nicht, ihm eine äußere Form zu geben, das heißt, ihn in angemessene Gesten und Worte zu übersetzen. || Die nötigen Worte fehlen ihm, sie antworten nicht mehr seinem Ruf, er ist darauf beschränkt, in seinem Inneren nur noch Bilder vorüberziehen zu sehen, eine Unmenge widersprüchlicher Bilder ohne großen Zusammenhang untereinander. || Das macht ihn unfähig, am Leben der anderen teilzunehmen und sich einer Tätigkeit hinzugeben.» (10)

Die Folge dieser Denk- und Darstellungskrise ist ein Phantasmagorisch-Werden des Zeichenbestandes des Films – wie es bereits in Artauds Antwort auf eine Umfrage aus dem Jahr 1923 anklingt (vgl. 79–81) –, das permanent ein Arsenal von Figurationen des Gespenstischen und Psychopathologischen nach sich zieht: man denke an den Selbstmörder in Die achtzehn Sekunden (vgl. 9–14), an das vampiristische Treiben im Text Die 32 (vgl. 36–54) oder an den Irren in Die Revolte des Metzgers (vgl. 69–75). Programmatisch heißt es dazu in Hexerei und Kino (1927): «Das Kino trifft an einem Wendepunkt des menschlichen Geistes ein, genau in jenem Augenblick, in dem die abgenutzte Sprache ihre Symbolkraft einbüßt, in dem der Geist des Spiels der Darstellungen müde ist. Das klare Denken genügt uns nicht. Es ordnet eine bis zum Übelwerden abgenutzte Welt ein. Was klar ist, ist unmittelbar zugänglich, aber das unmittelbar Zugängliche ist das, was dem Leben als Schein dient. Man beginnt zu bemerken, dass dieses allzu bekannte Leben, das sämtliche Symbole verloren hat, nicht das ganze Leben ist.» (83)

Besonders die angeführte Kraft des Kinos, entfremdete und verkrustete kulturelle Formen der Repräsentation durchbrechen zu können, um in diesem Durchbruch eine Referenz zum authentischen Leben zu eröffnen, dokumentiert, wie sehr Artaud in der Phase seines filmischen Schreibens an das Kino geglaubt und es geschätzt hat. Trotz aller Kritik am Filmbusiness war diese Vision des Kinos dem Theater ebenbürtig, denn beide kritischen Aspekte, Zerschlagung der Entfremdung und Näherung an die authentische Kraft des Lebens, werden nach seinem Engagement für den Film weiterhin Horizont und Richtschnur für die Entwürfe eines Theaters der Grausamkeit sein.

Da Artaud ein unaufhebbares Unvermögen von Denken und Bildtotalität als (Ab-) Grund seines Filmdenkens bestimmt, rückt diese kinematografische Problemlogik in die Nähe der Grundaporie seiner berühmten Korrespondenz mit Jacques Rivière aus dem Jahr 1923/24. Diese auch buchstäbliche Nähe (in beiden Texten wird die skizzierte condition de l’impuissance als «maladie» bezeichnet) zeigt sich schon im soeben angeführten Zitat aus Die achtzehn Sekunden. Auch in der Korrespondenz stellt ein Disput um ein Unvermögen, nämlich unter einem bestimmten und vorausgesetzten ästhetischen Materialstand formvollendete Gedichte zu schreiben, das Kernstück des Briefwechsels dar. Diese Nähe zur Problemlage der frühen Korrespondenz verdeutlichen auch Artauds Briefe mit Abel Gance aus dem Jahr 1927/28 (vgl. 126–132). War Jacques Rivière 1923 aufgrund seiner Stellung als Redaktionsleiter der N. R. F. ein einflussreicher Repräsentant des modernen Literaturbetriebs und eine Autorität, so kann dies auch für Abel Gance um 1928 gelten. Äußerlich kreist die Korrespondenz um Artauds Forderung, in Jean Epsteins Poe- Adaption La chute de la Maison Usher die Rolle des Usher spielen zu müssen. Darüber hinaus wird aber auch eine Auseinandersetzung um die Art und Weise der filmischen Darstellung einer Figur greifbar. Usher ist für Artaud eine Figuration aus dem Abgrund des nervösen Leidens, die nur er – Antonin Artaud – darzustellen vermag: «Ich stelle nicht viele Ansprüche in dieser Welt, aber ich beanspruche, Edgar Poe zu verstehen und selbst ein Typ in der Art des Meisters Usher zu sein. Wenn ich diese Figur nicht im Leibe habe, dann hat sie niemand auf der Welt. Ich realisiere sie physisch und psychisch. Ich sage nicht, dass ich mich für diese Rolle vorschlage, ich sage, dass ich sie fordere. […] Mein Leben ist das Ushers und seines finstren Gemäuers. Ich habe den Pesthauch in der Seele meiner Nerven, und ich leide daran. Es gibt eine Qualität nervösen Leidens, die der größte Schauspieler der Welt nicht im Kino leben kann, wenn er sie nicht eines Tages erreicht hat. Und ich habe sie erreicht. Ich denke wie Usher.» (126/127)

Die darin formulierte Exzentrizität und Radikalität im Hinblick auf eine existentielle Exposition verwirrt 1928 Gance und Epstein ebenso wie schon 1923/24 Rivière: allzu «übertriebene Heftigkeit» (128) attestiert Epstein nach den Probeaufnahmen in seiner Absage an Artaud, die an Rivières Hervorhebung von «Ungeschicklichkeiten» und «verwirrende[n] Absonderlichkeiten» in den Dichtungen aus dem Jahr 1923 erinnert.

Da nun die Drehbücher, die entscheidenden Reflexionen seines Filmdenkens und die Korrespondenz im Kontext seines Filmschaffens auf Deutsch vorliegen, ist es ein großes Verdienst des vorliegenden Bandes, solche weiterführenden Verbindungen in den unterschiedlichen Werken zu erschließen, um die heterogenen Aspekte im Schreiben und Denken Artauds auf gemeinsame Fluchtlinien hin abzutasten.

Polemik gegen den Tonfilm

So wird nun auf der Grundlage der deutschen Ausgabe der Filmtexte auch deutlich, dass sich Artauds Polemik gegen den Tonfilm keineswegs durch einen reaktionären Affekt begründet. Vielmehr erscheint nun absehbar, dass Artauds Konzept eines visuellen Denk- Kinos durch die phantasmagorische Kraft der Erzeugung und Auflösung von Filmbildern klassische Gegensatzlogiken, wie z. B. von Geist und Materie, zu dekonstruieren vermag. Diese Kraft wird aber durch die Dominantsetzung der gesprochenen Sprache – in Form einer Zentrierung auf einen kommunikativen Zusammenhang – im Tonfilm nivelliert. Für Artaud begründet sich die Darstellungskraft des Films nicht in der Kommunikation. Er zielt vielmehr auf die «menschliche Haut der Dinge, das Derma der Wirklichkeit: Damit spielt der Film zunächst. Er verherrlicht die Materie und lässt sie uns in ihrer tiefen Geistigkeit, in ihren Beziehungen mit dem Geist erscheinen, aus dem sie hervorgegangen ist.» (22)

Artaud wird dadurch zum Anwalt einer eigenen, autonomen Bildlogik und Bilddynamik des Kinos, die durch eine Suprematie der Rede im Film verkannt werden. Wenn Artaud den Tonfilm kritisiert, war das nie eine nostalgische Rückbesinnung auf den Stummfilm, denn auch dort gab es, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, nur Unzulängliches im Sinne Artauds – seine Konzeption war immer schon Vision, stets cinéma à venir. In seinem Drehbuch Die Revolte des Metzgers (1930) wird zudem deutlich, dass es Artaud fern lag, die Rede im Film einfach verbannen zu wollen. Vielmehr geht es um das exakte Auffinden des angemessenen Platzes der gesprochenen Sprache im projizierten medialen Arrangement seines visuellen Denk-Kinos. In diesem Sinne heißt es zum Aspekt der Rede im Film: «Was den Tonfilm angeht, so wird man sehen, dass dieser Film in dem Maße vertont ist, in dem die gesprochenen Worte nur eingesetzt werden, um die Bilder wieder auflodern zu lassen. Die Stimmen befinden sich dort im Raum gleich Objekten.» (70) Dies impliziert eine Entkoppelung vom Kausalnexus zwischen Rede und Bewegungs- bzw. Handlungsbild. Damit ist bei Artaud Rede im Film letztlich Dekonstruktion von Kommunikation im Zeichen eines filmischen Bildwerdens: «Man wird in diesem Film eine Anordnung der Stimme und der Töne vorfinden, die für sich selbst genommen werden und nicht als die physische Folge einer Bewegung oder Handlung, das heißt ohne Übereinstimmung mit den Tatsachen. Töne, Stimmen, Bilder, Bildunterbrechungen, alles gehört zu derselben objektiven Welt, in der vor allem die Bewegung zählt. Und das Auge fasst letztlich diesen Bodensatz zusammen und hebt ihn hervor.» (70)

Dieser Aspekt einer radikalen Kritik des Vorranges der gesprochenen Sprache, die sich in Artauds Polemik gegen den Tonfilm niederschlägt, lässt sich nahezu zeitgleich in seiner Projektion einer heterotopen Bühnen-und Körpersprache des theatralen Raumes, beginnend in den Entwürfen zum Jarry-Theater sowie in den Essays und Manifesten, die später Das Theater und sein Double konstituieren, finden. Auch in dieser Hinsicht laden die Filmtexte zum Film zum Nachvollzug von weiteren Konstellationen zwischen Artauds Theater- und Filmdenken ein.

Distanz zum Surrealismus

Der einzige tatsächlich realisierte Entwurf der nun vorliegenden Filmtexte Artauds ist das Drehbuch Die Muschel und der Kleriker. Es wurde 1927 von Germaine Dulac verfilmt und endete im Zerwürfnis zwischen Autor und Regisseurin. Auch wenn Artaud die kinematografische Umsetzung seiner folie du jour eines Klerikers, der unter den Spasmen seines ungestillten Begehren leidet, ablehnt, werden ihm sein Text und die Frage einer möglichen Realisierung ein Projektionsraum seines Filmdenkens bleiben. Abgesehen von Lesefehlern im Skript, die absurde Filmumsetzungen nach sich zogen (vgl. 293), entfachte sich der Streit zwischen dem Autor und der Regisseurin an der Frage des Traums. Artauds Position ist in diesem Kontext auch entscheidend, um seine Distanz zum Surrealismus adäquat zu verstehen. Dulac fasst Artauds Drehbuch als Skizze eines Traumes auf, was Artaud entschieden von sich weist und ihn veranlasst, dem Drehbuch eine filmtheoretische Einlassung unter dem Titel Kino und Wirklichkeit voran zu stellen (vgl. 19–22). Darin heißt es zur Relation des Traumes: «Dieses Drehbuch ist nicht die Wiedergabe eines Traums und darf auch nicht so verstanden werden. Ich werde nicht versuchen, die offensichtliche Zusammenhanglosigkeit durch die leichte Ausrede der Träume zu entschuldigen. Die Träume haben mehr als ihre Logik. Sie haben ihr Leben, in dem nur noch eine intelligente und düstere Wahrheit erscheint. Dieses Drehbuch sucht die düstere Wahrheit des Geistes in Bildern, die einzig aus sich selbst hervorgegangen sind und die ihren Sinn nicht aus der Situation beziehen, in der sie sich entwickeln, sondern aus einer Art inneren, starken Notwendigkeit, die sie im Licht einer ausweglosen Evidenz projiziert.» (21)

Artaud misstraut der surrealistischen Inanspruchnahme des Traumes zutiefst, die ihm viel zu ahnungslos und schwärmerisch erscheint, da diese Bezugnahmen entweder zu leeren Schleifen von sich perpetuierenden Traumabstraktionen tendieren oder den Traum als oberflächlichen Taschenspielertrick zur Überbrückung von Sinnbrüchen instrumentalisieren. Auch psychoanalytischen Annäherungen an das Traumphänomen steht Artaud grundsätzlich skeptisch gegenüber, da er darin (wie später Deleuze und Guattari) im Vorfeld vorgenommene Beschränkungen und Vorannahmen über die Deutung des sich im Unbewussten und im Traum artikulierten Begehrens erkennt. Dagegen hinterfragt Artaud den Gegensatz von Traum und Wirklichkeit weitaus radikaler und führt in eine Zone der Unentscheidbarkeit von Traum und Wirklichkeit, die das Gespenstisch- und Phantasmagorisch-Werden des Filmes nach sich zieht. Artaud kritisiert einer Lesart Jacques Derridas zufolge «die empirische Unordnung des spontanen Traums» (Die Schrift und die Differenz, 366) und betont in diesem Sinne in einem späteren Brief an Jean Paulhan im Hinblick auf Die Muschel und der Kleriker den «geistige[n] Strom, die Organisationsart dieser geträumten Bilder, deren Notwendigkeit sich dem Geist nur durch die Kraft dieses ordnenden und unausgesprochenen Stroms aufdrängt.» (182) Und auf der Folie der zur Beliebigkeit tendierenden Traumbilderflut der Surrealisten präzisiert er: «Es geht nicht darum, Bilder auszuwerfen, wie man aufs Geratewohl einen Anker auswirft! Diese gehorsamen Bilder sind in einem Film, der gemäß den finsteren und verborgenen Regeln des Unbewussten konstruiert wurde, notwendige Bilder, fordernde und autoritäre Bilder, und wir sind jedenfalls vom Ziel weit entfernt.» (182)

Darin kündigt sich bereits Artauds Abschied vom Kino an, da sich seine Vision eines authentisch-visuellen Denk-Kinos zwischen den Polen der Kommerzialisierung und der ästhetischen Abstraktion des Films zunehmend verflüchtigt. Wie es die nun verfügbaren Materialien darlegen, glaubt Artaud (im Sinne einer nach seinen Maßstäben wirksamen Kunstform) spätestens ab 1932/33 nicht mehr an das Kino.

 

Antonin Artaud, Texte zum Film (übersetzt, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Bernd Mattheus), Matthes & Seitz 2012