Schnelle Autos, hohe Häuser Über Malcolm Turveys The Filming of Modern Life. European Avant-Garde Film of the 1920s
Malcolm Turvey ist sicher kein schlechter Kandidat, der Forschung über die Film-Avantgarde der Zwischenkriegszeit eine neue Richtung zu geben – als Professor für Filmwissenschaft am Sarah Lawrence College hat er mit Doubting Vision (2008) eine wichtige Studie der Filmtheorien von Jean Epstein, Dziga Vertov, Béla Balázs und Siegfried Kracauer vorgelegt. Unter dem Stichwort der Enthüllung (der Untertitel des Buches lautet Film and the Revelationist Tradition) versammelt er darin einen Strang der Filmtheorie jenseits von Modernismus und Realismus, der sich bis zu Stanley Cavell und Gilles Deleuze verfolgen lässt. Darüber hinaus ist Turvey als Mitherausgeber der Zeitschrift October einem Organ verbunden, das nicht nur die revolutionäre Umwälzung (und Eisensteins Film darüber) im Titel führt, sondern auch maßgebliche Debatten um Wert und Aktualität avantgardistischer Positionen vorangetrieben hat. Insofern überrascht die Stoßrichtung von Turveys neuem Buch dann schon ein wenig, wenn er die aufeinander folgenden Wellen der Avantgarde zunächst als formale Stilrichtungen vorstellt.
Dies mag der Konstruktion des Buches geschuldet sein, das kapitelweise je einen Film als Beispiel für einen breiteren Trend der Avantgarde diskutiert: Abstraktion und Rhythmus 21 (DE1921, Hans Richter), cinéma pur und Ballet mécanique (FR1924, Fernand Léger / Dudley Murphy), Dada und Entr’acte (FR1924, René Clair / Francis Picabia), Surrealismus und Un chien andalou (FR1929, Luis Buñuel / Salvador Dalí) sowie Großstadtsinfonie und Celoveks filmapparatom / Der Mann mit der Filmkamera (SU1929, Dziga Vertov). Diese exemplarische Logik erlaubt zwar einen groben Überblick über die Film-Avantgarde insgesamt, lädt sich aber zugleich ein klassifikatorisches Problem auf, weil die Filme so in erster Linie als Beispiele für künstlerische Schulen herhalten. Ohne den didaktischen Wert eines gewissen Schematismus herabwürdigen zu wollen – das Buch scheint zumindest zum Teil darauf zu zielen, als Begleitliteratur für universitäre Veranstaltungen Verwendung zu finden –, wird damit ein Kanon (re)produziert, den die Avantgarde doch eigentlich so scharf angegriffen hatte. Zudem wird so auch die filmhistorische Erschließungsarbeit der vergangenen Jahrzehnte ignoriert, die ja ebenfalls die Festlegung auf eine Handvoll wohlbekannter Klassiker vermeiden wollte. Ein gutes Beispiel dafür, was bei einem solchen Vorgehen unter den Tisch fällt, sind die Filme der diesjährigen Berlinale-Retrospektive zur deutsch-sowjetischen Produktionsfirma Mezrabpom-Rus, die Elemente der Avantgarde mit solchen des populären Kinos verbinden, ohne sich um Zuschreibungen und Grenzziehungen zu scheren.
Über die Qualität von Turveys Lesarten ist damit freilich noch nichts gesagt: Die Filme werden nuanciert und differenziert betrachtet, dabei allerdings auch in den Kanon anerkannter Kunst eingerückt. So werden zum Zwecke des Vergleichs und des Kontrastes in erster Linie Selbstäußerungen der Künstler und klassische Werke der Moderne (vor allem aus Malerei und Literatur) herangezogen. Dagegen ist im Prinzip nichts einzuwenden, zumal Turvey aus einem reichen Fundus an Material schöpft und innerhalb dieses Rahmens durchaus überzeugend argumentiert. Was allerdings dabei auf der Strecke bleibt, ist ebenso das breite Umfeld der Populärkultur wie der filmhistorische Produktions- und Aufführungszusammenhang. So wird etwa Un chien andalou in Beziehung gesetzt zu Stellungnahmen der beiden Regisseure wie auch zu Ansätzen des Surrealismus, aber Zensur und Herstellung bleiben außen vor wie auch Zirkulation und Vertrieb. Ebenso wenig zur Sprache gebracht wird Walter Benjamins Idee vom Surrealismus als krisenhaftem Moment des bürgerlichen Subjekts, sodass der Band implizit die Kanonisierung auch in Hinblick auf Methode und Einordnung weiter vorantreibt, weil die Werke gänzlich isoliert von ihrem Umfeld präsentiert werden.
Trotz dieses insgesamt formalistischen Vorgehens in der Analyse greift Turvey die große Geste der Abrechnung auf, der die Avantgarde seit jeher nahestand. Gleich zu Anfang seiner Studie kündigt er an: «I […] challenge the standard story told about the European avant-garde of the early twentieth century» (2). Dabei missversteht Turvey die Natur des Bruchs, den die Avantgarde postuliert, auf fundamentale Weise. Dass die entsprechenden Filme sich auf ihre Art mit den vielfältigen Modernisierungstendenzen des frühen 20. Jahrhunderts auseinandersetzen, dass sie also gekennzeichnet seien durch «a concern with modern life and the sometimes rapid and dislocating changes it was bringing about» (1f.), scheint nicht besonders kontrovers. Damit jedoch behauptet Turvey sich in kompletter Opposition zur bestehenden Literatur zu befinden, die die Avantgarde «as implacably opposed to bourgeois modernity» (9) gesehen hätte.
Mehrere Argumente sprechen gegen diese These. Zunächst wäre selbst eine Position der vehementen Opposition eine, in der die fundamental abgelehnte Position zum zentralen Bezugspunkt wird. Wenn die Avantgarde offen der «Modernität» per se ihre Gegnerschaft erklärt hätte, dann bliebe sie noch immer, um einen altmodischen Begriff zu bemühen, in dialektischer Weise darauf bezogen und würde derart die Widersprüche und Aporien der modernen Existenz ausagieren. Zweitens wird die Avantgarde in der bestehenden Literatur – am prominentesten wohl in Peter Bürgers Theorie der Avantgarde (1974), die Turvey nur ganz am Rande zur Kenntnis nimmt – als in Opposition begriffen zu vorherigen künstlerischen Stilen und zur Institution Kunst gesehen. Auch wenn man einiges gegen Bürgers Position ins Feld führen kann, so ist es wichtig, dass sein Ansatz gerade nicht davon ausgeht, dass die Modernität in all ihrer Komplexität bekämpft wird – wie könnte die Avantgarde mit ihrer Faszination für große Städte, schnelle Autos, hohe Häuser und neue Technologien dies auch? Stattdessen wird gegen den Status von Kunst als abgeschlossenes gesellschaftliches System rebelliert. Tatsächlich nutzte die Filmavantgarde der 20er Jahre ein (damals neues) Medium, das selbst wiederum ein Produkt von technologischen und wirtschaftlichen
Entwicklungen war. Drittens verweigert sich Turvey nicht nur der revolutionären und ikonoklastischen Energie der Avantgarde, sondern er verkennt auch die reflexive Wendung vieler avantgardistischer Kunstwerke, die Fragen von Repräsentation und Bildlichkeit, die Rolle der Kunst sowie der modernen Lebenswelt direkt thematisieren. Sicherlich erinnert Turvey zurecht daran, dass die Avantgarde nicht aus dem Nichts entstand, sondern als eine Bewegung gesehen werden muss, die Ideen und Inspirationen aus der Lebenswelt ihrer Zeit bezog, doch schießt er übers Ziel hinaus, wenn er sich dem Bruch verweigert, den die Avantgarde in Bezug auf die gesellschaftlich-ästhetische Rolle der Kunst erzwingen wollte.
Ganz abgesehen von der unnötigen Verengung des Blicks, die mit Turveys altmodischer Kanonisierung einhergeht und die die Überschreitung der Avantgarde ebenso wenig wahrhaben will wie sie den filmhistorischen Kontext der Filme weitgehend ausblendet, verdeutlicht das Buch doch die andauernde Sprengkraft, die von den ästhetischen Entwürfen der Film-Avantgarde noch immer ausgeht.
Malcolm Turvey: The Filming of Modern Life. European Avant-Garde Film of the 1920s, The MIT Press 2011