Was von der Berlinale 2012 bleibt
Death Row Eine subjektiv aufgeladene Kamera bewegt sich am Anfang jeder Episode in den Todestrakt hinein, blickt auf einen bibelfesten Büchertisch, auf die unheimliche Liege mit den Fixiergurten. Vier Folgen, vier Fälle umfasst diese Serie über zum Tode Verurteilte. Bei allen Vorbehalten gegenüber Werner Herzogs ureigener Pathosformelroutine: er fragt präzise, biedert sich nie an, macht sich nicht zum Anwalt zweiter Ordnung. Als Zuschauer gerät man in die ambivalente Situation, die Täteraussagen auch als «Performance» zu rezipieren. Am besten gefallen hat mir Hank Skinner, eine Sopranos-Figur, ein Mörder. rot
Aujourd’hui Als Satché, ein Mann im besten Alter, sich morgens erhebt, weiß er, dass dies sein letzter Tag sein wird. Woher er das weiß, und warum er sterben wird, macht Alain Gomis in seinem Film Aujourd’hui nicht klar. Es scheint aber, als wäre Satché (gespielt von dem Dichter und Performer Saul Williams) nicht der einzige, es gibt nämlich im Rathaus von Dakar eine offizielle Trauerfeier für mehrere Betroffene, zu der Satché allerdings zu spät kommt in diesem melancholischen Querschnittfilm durch eine senegalesische Gesellschaft, die sich hier insgesamt auf ein prekäres Präsens verwiesen sieht. reb
Tabu In Miguel Gomes’ Meisterwerk ist die alteuropäische Libido immerhin dafür gut, einen afrikanischen Befreiungskampf zu befördern. Schelmische Miniaturen mit verschachtelten Bedeutungsräumen und dokumentarischer Erdung: lässig, beziehungsreich, mit diskretem (film-)historischem Hintersinn; hier schlagen sogar Schlager in Postkolonialismus um. Ein Baukasten-Prinzip, das an Wes Anderson erinnert und doch eigene Wege geht: mit der Figur einer kapverdischen Haushälterin, im Einsatz eines filmischen punctum. Großes Foto-Kino auch, wenn die Band im Baum posiert. rot
Lawinen der Erinnerung Zwei Gespräche hat Dominik Graf mit dem Autor und Fernsehregisseur Oliver Storz geführt, kurz vor dessen Tod im Juli 2011. Ausgehend von der Erinnerung an Lore, das Mädchen im roten Badeanzug, das den Jungs, bevor es an die Front ging, im Freibad den Kopf verdrehte, bewegen sich Gespräch und Film durch verschiedene Vergangenheiten. Unter anderem durch die Stadtgeschichte Schwäbisch Halls und durch die Frühzeit des bundesdeutschen Fernsehens, als das Medium gelegentlich noch streng und kritisch sein durfte. Storz drehte neben zeitgeschichtsreflektierenden Dramen auch die Raumpatrouille, von der hält er nicht mehr viel. Graf sieht das dialektischer. foerst
Revision bedeutet Rückschau und Überprüfung. Zwei deutsche Jäger halten zwei rumänische Roma vorgeblich für «Wildschweine» und geben tödliche Schüsse ab. Philip Scheffner nimmt sich diesen Fall, der sich 1992 an der deutsch-ponischen Grenze ereignet hat, noch einmal vor. Die Kamera wird zum Aufklärungsmedium, baut Perspektiven nach, wartet im Morgengrauen. Die deutsche Justiz macht keine gute Figur, empörend auch der Versicherungsbetrug an den Hinterbliebenen der Opfer. Eine (re-)konstruktive Tatortbesichtigung, die einem gesellschaftlichen Klima gilt, das mindestens bis nach Rostock-Lichtenhagen reicht. rot
Die Lage Ein Hinterbühnenfilm, der sich mit dem Erfurter Papst-Besuch im September 2011 befasst. Die sorgfältig einstudierten Lauf- und Fahrwege staatsoffizieller Protokollroutinen, der ganze Aufwand an Vorformatierung massenmedialer Repräsentationsweisen, sehen bei Thomas Heise wie ein Jacques-Tati-Parcours aus. Komponierte Gegen-Bilder, akustisch leergeräumt. Eine grandios vereinzelte, geradezu jenseitige Posaunenstimme geistert durch diesen Film, der zwar Transzendenzbedürftigkeit registriert, dem päpstlichen Sinnstiftungsangebot aber recht trocken eine gleichgültig vor sich hin funktionierende Rolltreppe entgegensetzt. rot
Jaurès Vincent Dieutre und Eva Truffaut sehen gemeinsam die Aufnahmen, die er vom Fenster des Apartments nahe der U-Bahn-Station Jaurès in Paris aus gemacht hat. Er erzählt, sie fragt. Ein Gespräch über seine Zeit mit Simon, den er geliebt hat und gewiss noch immer liebt, auch wenn er in sein anderes Leben zurückgekehrt ist. Politik ist im Spiel, spielerisch übermalt sind die Bilder, Dieutres Stimme, eine sanfte Intimität stellt sich ein zwischen ihm und Truffaut und dem Zuschauer. Ein Film, so einfach wie komplex, Pariser Leben, eine prächtige weiße Taube und eine Klaviermelodie von Reynaldo Hahn. ek
White Deer Plain Die «Ebene des weißen Wilds» in der chinesischen Provinz Shanxi sieht eigentlich wie eine ideale Agrarlandschaft aus. Doch Wang Quan’ans Verfilmung des gleichnamigen Romans von Chen Zhongshi werden die sanft geschwungenen Weizenfelder mit einem markanten Riesentor in der offenen Landschaft zur Szene primitiver Gewalt unter wechselnden Regimes: Das vorkommunistische China bekommt hier eine Genealogie aus Aberglauben und brutalen Ehrenregeln, bei der keineswegs eindeutig ist, dass der (in der Verfilmung ohnehin ausgesparte) revolutionäre Umbruch alles neu werden ließ. reb
Flying Swords of Dragon Gate Ein vielsträngiges wuxia in atemberaubender 3d-Technik, die für einmal nicht in musealer Dioramen-Ästhetik erstarrt, sondern hyperkinetische Bewegungsskulpturen hervorbringt. Ein Film, den nichts am Boden hält. Im Zentrum das von allen Seiten belagerte Dragon Gate Inn, darunter Labyrinth und Goldschatz, darüber, am Himmel, braut sich ein Sandsturm zusammen. Auch sonst ist Flying Swords ofDragon Gate maximal weit entfernt von der Gravitas der chinesischen Staatsgeschichtsfilmerei: Bei Tsui Hark betrügt jeder jeden und der Kaiser ist eine Fälschung. foerst
Glaube, Liebe, Tod Daniel Eschkötters Anspielung auf Orson Welles in einer cargo-SMSzu Glaube, Liebe, Tod während des Festivals hat etwas sehr Wesentliches schon gesagt. Dieses Low-Budget-Hausboot-Movie des österreichischen Politmelodramatikers Peter Kern operiert aber nicht so sehr vom Nullpunkt der Genie-Subsistenz aus, sondern macht diesen Nullpunkt zum archimedischen politischen Punkt für ganz Europa. Ein fetter Diabetiker, Muttersöhnchen noch mit 63, tritt hier mit Hilfe eines marokkanischen Illegalen aus dem Schatten des Ressentiments, entkommt aber nicht dem allgemeinen (Staats-)Terrorismus. reb
Ohne mich
Auch als Filmkritiker, der auf der Berlinale keinen einzigen Film sieht, hat man Gefühle. Das Gefühl etwa, dass Miguel Gomes mit Tabu oder Christian Petzold mit Barbara den Goldenen Bären verdient gehabt hätten, die Tavianis mit ihrem Gefängnisshakespeare aber sicherlich nicht. Ich hatte auch aus weiter Ferne so nah das Gefühl, dass es ein starker Wettbewerbsjahrgang war, viel stärker als die Jahre zuvor, die ich tapfer durchlitt. Dieses Gefühl verdankt sich der Kenntnis früherer Filme der mit ihren neuen Werken auftretenden Regisseure, aber natürlich auch der kalibrierten Lektüre von Festivalbericht und Kritik.
Ich habe Gefühle, aber ich habe die Berlinale nicht wirklich vermisst. Es gab die cargo-SMS, es gab den Perlentaucher, es gab Twitter und Facebook, es gab im Vorfeld die Kosslick-Interviews, in denen er auf passiv-aggressive Weise zerknirscht klang, es gab am Ende die Preisverleihung, die wie stets vor allem zum Fremdschämen war: aber doch die erste Gelegenheit, bei der ich bewegte Bilder der Filme sah, über die ich zuvor nur kurz oder lang dies und das las. Sie sahen cum grano salis so aus wie erwartet.
Wer sich auf die Berlinale (oder vermutlich ein anderes der großen Festivals; ich kenne sonst nur die kleinen, entspannten) ganz einlässt, wie ich es all die Jahre seit 2000 oder so tat, begibt sich in sie hinein wie in einen abgeschlossenen Raum mit eigener Stimmung, Atmosphäre, Erlebnisintensität. Erwischt man viele schlechte Filme, und die Gefahr war sehr groß in den vergangenen Jahren, Rettendes wuchs eher wenig, färbt sich die Stimmung ins Dunkle, diesmal klang vieles sehr hell. In einer Mail, die ich etwa zur Festivalmitte von einer Berlinaleveteranin bekam, stand zu lesen: «Die Berlinale ist in diesem Jahr wundersamerweise aus ihrem Tiefschlaf erwacht & macht Spaß und gute Laune und hat einiges zu bieten, sogar im Wettbewerb. Ich bin selbst ganz verdutzt. Bisher habe ich erst einen einzigen Film gesehen, von dem ich sagen würde, das ist nun aber typischer Berlinale-Quark – und ich sehe jeden Tag drei bis vier. Und die Retro ist irre …».
Man sollte denken, dass mich das als Abwesenden unglücklich macht. So war es aber nicht. Ich war ja da, wo ich war, im Bürojob von nine to five sehr zufrieden und dachte nur: Nächstes Jahr vielleicht wieder, bei Euch, meine Lieben, am Potsdamer Platz. ek