spielfilm

Rosenkönigreich Die ambivalenten Erotikfilme von Bertrand Bonello

Von Bert Rebhandl

© NFP

 

Das Freudenhaus «L’Apollonide» in Paris im Jahr 1899 ist eine geschlossene Anstalt. Männer können es betreten und wieder verlassen, für die Frauen gilt das nicht im selben Maß. Sie sind alle bei der Betreiberin verschuldet, es müsste schon ein reicher Kunde kommen, der alles begleicht und ein Mädchen mit nach draußen nimmt. Doch dieses Pathos bringt keiner richtig auf, dazu ist die Konstellation für die Herren viel zu vorteilhaft: Sie können in dieser Anstalt in einem prächtigen, alten Gebäude alles hinter sich lassen, sie können sich bei «Sperma und Champagner» die Zeit vertreiben und den Alltag vergessen, und sie können sich überraschen lassen, wenn Madame wieder einmal ein neues Gesicht zu bieten hat. Der französische Regisseur Bertrand Bonello, der in seinem neuen Film L’Apollonide. Souvenirs de la maison close von diesem Freudenhaus erzählt, zeigt die Welt der Frauen aber nicht so, wie sie sich den Männern darbietet und entzieht. Er erzählt aus dem Zentrum der Intimität, er ist der einzige (unausgewiesene) männliche Anwesende unter lauter Frauen, und mit Intimität ist schließlich am wenigsten der Geschlechtsakt gemeint. Es geht vielmehr um alles andere, um die Hoffnungen der Prostituierten, um ihre Stimmungen, um ihre Krankheiten, und eben um ihre Schulden. Seine privilegiert-prekäre Erzählerposition weist Bonello durch zwei Signale als konstruiert aus: Er verwendet für die Credits (offensichtlich anachronistisch) einen Song von Lee Moses (Bad Girls), und er verweist mit dem Untertitel seines Films auf eine historische Distanz, die sich eigentlich der Erinnerung entzieht. 110 Jahre später erinnert sich niemand mehr persönlich an Samira, Clotilde, Julie, Léa, Madeleine, Pauline, Marie-France. Man schlägt nach, bei Flaubert, der seiner Faszination für Prostituierte vielfach Ausdruck verliehen hat, oder bei Zola, der in Nana einen allgemeineren Begriff von käuflicher Liebe entwickelte. Welche Form von Erinnerung aber steht bei Bonello auf dem Spiel?

Das traditionelle Bordell unter weiblicher Leitung und als Raum der Autonomie, in den die Herren nur in reglementierter Form Zutritt bekommen, wird bei Bonello ganz offensichtlich zu einem sozialen Ort, den er hier für zwei Stunden den Verwertungslogiken zu entziehen versucht. Zwar zieht sich auch hier in der Außenwelt das Verhängnis zusammen, die Immobilienpreise steigen, das Geschäftsmodell Luxuspuff gerät unter Druck. Doch dem steht die träge Dramaturgie des Films entgegen, eine Aneinanderreihung von nur geringfügig unterschiedenen Szenen, eine Routine, die solange wie möglich ihre eigene Aushöhlung zu ignorieren versucht. Dass Bonello den Beginn seiner Erzählung ausdrücklich in die letzten Momente des 19. Jahrhunderts legt, verleiht der Erzählung einen zusätzlichen Akzent: L’Apollonide ist ein Traum, in den allmählich die Realitätszeichen dringen – im 20. Jahrhundert kann man sich eine derartige Anstalt, in die Mädchen vom Land aufgenommen werden wollen, weil sie sich davon Emanzipation versprechen, nicht mehr anders denn als im Zeichen einer «verlorenen Zeit» denken.

Und damit wird die spezifische Nostalgiestruktur von L’Apollonide dann doch sehr deutlich: Erinnert wird hier an ein goldenes Zeitalter der Stadt Paris, deren Mythologie als Hauptstadt des 19. Jahrhunderts Bonello überraschend ungebrochen übernimmt. Er tut dies zwar in einem sozialkritischen Sinn, denn die Mädchen, von denen er erzählt, sind vor dem Hintergrund der großen Salons, deren Welt einmal kurz auftaucht, eindeutig zu Pariaexistenzen verurteilt – eine Jüdin und eine Algeriern stehen besonders deutlich für die Ausschlussmechanismen, deren Figur das Bordell auch ist. Aber zugleich erscheint das Etablissement als Ort, an dem nacktes Leben anfängliche Formen von legitimer Existenz bekommen kann – im Gegensatz zum Straßenstrich der Gegenwart, auf dem illegale Osteuropäerinnen sich allein durchschlagen müssen, wie Bonello an einer Stelle suggeriert.

Dieses starke Aktualisierungssignal verweist zurück auf die unklaren Erzählinteressen in L’Apollonide. Über weite Strecken ist das eindeutig ein «Kunstfilm», weitgehend ohne Momente der Exploitation, vielmehr mit einem relativ diskreten Blick auf die Frauen, der sich überwiegend damit zufrieden gibt, einfach dabei zu sein in Situationen, zu denen eigentlich kein Mann Zugang haben sollte. Man könnte versucht sein, sich an Jacques Laurent zu erinnern, die Hauptfigur aus Bonellos erstem Spielfilm Le pornographe (2001), der dort als Regisseur eines pornographischen Films scheitert, weil er die wesentlichen Erfordernisse seines Metiers nicht erfüllt. Diese Figur Laurent war in ihren zeithistorischen Implikationen recht leicht zu begreifen. Jahrgang 1950, 1968 während der Generalstände des Kinos einen ersten Porno gedreht, ein Mann, der «das Genre verändert» hat und dreißig Jahre später von diesen Veränderungen nichts mehr wissen will. Dieser Laurent, eine Figur wie aus einem Roman von Houellebecq, gehört in denselben Zusammenhang einer müde gewordenen Libertinage.

Doch es wäre zu einfach, ihn schlicht als Alter ego des Filmemachers Bonello zu bezeichnen. Denn in dessen Inszenierungen von Sexualität ist ein anderes Motiv wesentlich deutlicher als das Interesse von Laurent an Abstraktion: Bonello arbeitet mit starken Mythologisierungen, deren Ausgangsmaterial er einerseits dem klassischen Stoffinventar entnimmt (Tiresia verweist schon im Titel auf die antike Seherfigur), andererseits der populären Kultur (in De la guerre gibt es Momente eines wahnhaften «Remakes» von Apocalypse Now!). Dazu kommen Referenzen aus dem Bereich der klassischen Cinephilie, denn Tiresia ist eindeutig eine Hommage an Bresson, vor allem an dessen Tagebucheines Landpfarrers.

«Ich bin eine Hure», sagt die transsexuelle Hauptfigur des ersten Teils von Tiresia (2003) zu dem Mann, der sie gerade mit zu sich nach Hause gebracht hat. «Ich glaube nicht», sagt der darauf, und sperrt sie ein. Damit bricht er den Kontrakt der käuflichen Liebe, und macht die Frau (de facto ein brasilianischer Mann, der seine Geschlechtsidentität hormonell unterdrückt) auf eine andere Weise zu seinem Objekt, als es vorgesehen ist. Das Skandalon des Films liegt in dem Riss, der ihn in der Mitte durchzieht. Nur Tiresia und der Schauspieler Laurent Lucas sind auf beiden Seiten dieses Risses, aber Tiresia wird jeweils von einer anderen Person gespielt, während Laurent Lucas im zweiten Teil eine andere Figur spielt, eben einen Landpfarrer, der von der Rolle, die Lucas im ersten Teil gespielt hatte, nichts zu wissen scheint. In dieser Doppelgestalt des Films selbst mehr noch als mit den Metamorphosen der Figuren / Darsteller scheint die erzählerische Pointe begründet zu sein, ein Junge ohne Vater, eine Jungfrauengeburt, die das Bezugssystem verändert. Was im Zeichen des entstellten Ödipus-Mythos begann, inklusive der Blendung der zu viel wissenden Hure, endet in einer christlichen Zeichenwelt, die aber wiederum durch das heimliche Leitmotiv der Rosenzucht ein verstärktes Element von ästhetischer Konstruktion bekommt.

Dieser Versuch, «gemachte» Geschlechteridentität mit mystischer Berufung zusammenzudenken («l’originale est vulgaire, la copie est parfaite»), taucht in De la guerre (2008) noch einmal kurz auf, als Selbstzitat, mit dem Bonello die Figur des Filmemachers Bertrand (Mathieu Amalric) noch eindeutiger als durch die Namensgebung auf sich selbst bezieht. Dabei bleibt es natürlich unklar (und auch ohne Belang), inwiefern die offensichtlich tiefe Verstörung von Bertrand tatsächlich eine von Bertrand Bonello ist. Der Protagonist von De la guerre verbringt jedenfalls eine Nacht in einem Sarg, in den er durch ein Versehen eingeschlossen wird. Nach dieser extremen Erfahrung ist er für die tägliche Welt verloren, er folgt widerstandslos einem Mann namens Charles in ein Anwesen auf dem Land, das dessen Bewohner als «Royaume», als Königreich, bezeichnen. Die Königin heißt Uma (Asia Argento), sie liest (vorgeblich) von Clausewitz, und sie unterwirft ihre kleine Sekte einem paramilitärischen Training, das schließlich auch dazu führt, dass der Nichtschwimmer Bertrand ins Wasser geht und sich schließlich als Gott fühlt: «J’etais un dieu.» Dass Aurore Clément hier in einer kurzen Rolle als Mutter von Bertrand auftaucht, ist ein für die Verhältnisse von Bonello fast schon komischer Moment, der indirekter auf Coppolas Adaption von Joseph Conrads The Heart of Darkness zurückverweist als die ausdrücklichen Zitate gegen Ende, in denen Mathieu Amalric sich so gut an Martin Sheen zu orientieren versucht, wie es ihm eben möglich ist in seinem Antiheldenkörper.

De la guerre ist nicht viel mehr als höherer Blödsinn, ein Versuch, verschiedene Bilderinventare zu verbinden (christliche Askese, nachklassische Walpurgisnacht, fehlgeleitete Wellness) und in eine vage apokalyptische Erzählung zu überführen. Das Zentrum dieser Ideen bleibt aber auch hier eine «existence pure» in hoffnungslos synkretistischen Verhältnissen.

Vor dem Hintergrund dieser zunehmend esoterischer werdenden Filmarbeit von Bonello wird L’Apollonide nun deutlicher als Kompromissbildung erkennbar. Dies ist ein Versuch, einen konventionelleren erzählerischen Rahmen für einige seiner wiederkehrenden Interessen zu finden. Die entstellte Frau als säkulare Heilige wird vor allem in der Figur der Madeleine zentral. Sie ist «die Frau, die lacht», nachdem sie von einem Freier in einer entscheidenden Szene grausam entstellt wurde. Da sie dadurch ihrer Schönheit beraubt wurde, tritt sie unter den Prostituierten ins zweite Glied zurück, sie bekommt andere Funktionen und steht dadurch umso stärker für den Sozialverband, auf den Bonello offensichtlich hinauswill. Sie gewinnt aber auch eine neue Attraktivität, sie zieht jenes andere Begehren auf sich, das immer schon im Zentrum der Filme von Bonello stand – ein Begehren, das sich seines natürlichen Ursprungs nicht mehr zu erinnern scheint, das nicht auf plane Schönheit geht, sondern das durch zahlreiche «Bearbeitungen» hindurch gegangen ist und erst nach extremer Ästhetisierung so richtig erwacht.

Der Name Madeleine gewinnt so noch einmal eine andere Bedeutung, und sie verweist nun tatsächlich auf Proust: Denn in den Erinnerungen an das geschlossene Haus gibt es keine ursprüngliche sinnliche Empfindung mehr, die der Recherche einen strukturierenden Fluchtpunkt geben könnte. Es gibt nur den weiblichen Körper als Gestalt eines Triebschicksals, das nicht das ihre ist. Die Wunde, das Stigma, aber auch die Syphilis und die Schulden machen aus dem Original «junger Mädchenblüte» eine Kopie der gesellschaftlichen Verhältnisse um 1900. Dass wir mit L’Apollonide im Inneren dieses Hauses dabei sein können (und zugleich im Inneren einer Erinnerung ohne eigentlichen Ausgangspunkt), ist vielleicht nichts anderes als die eigentliche Provokation des Films: Intimität ist eine Illusion.