Wiederaufnahme Zu Merle Kroegers Grenzfall
Philipp Scheffners Film Revision ist das Projekt einer dokumentarischen Rekonstruktion, die sich als filmische Wiederaufnahme eines abgeschlossenen Falles versteht: Im Jahr 1992 wurden zwei rumänische Männer beim Grenzübertritt in einem Feld an der deutsch-polnischen Grenze von Jägern erschossen. Scheffner rekonstruiert die Hintergründe des Geschehens, aber auch der juristischen «Aufarbeitung», die sich anschloss und hinzog und in jeder Hinsicht unbefriedigend endete. Scheffner ist zwei Jahrzehnte nach dem Geschehen nach Rumänien gefahren, hat die Hinterbliebenen gesprochen und gefilmt, die über viele Aspekte des Vorfalls im Unklaren waren, er hat sich an den Ort der Tat begeben, er hat wie ein scharfsinniger Verteidiger für das Gericht Indizien gesammelt und das Ergebnis in Form des Films Revision dem Publikum (das bei der Reise der Arsenal-Kopie durch die Republik leider weitgehend ausblieb) präsentiert.
So kann man das erzählen, und es stimmt und stimmt nicht. Scheffner, der seit seinem großartigen Film The Halfmoon Files einem breiteren Insider-Publikum bekannt ist, hat lange zuvor in Zusammenhängen gearbeitet, die Kollektive waren und Namen trugen und tragen wie dogfilm oder Botschaft e.V. oder seit 2001 pong. Es gehörten immer auch andere gleichberechtigt dazu, nicht zuletzt Merle Kröger, die bei Revision jetzt als Koautorin und Dramaturgin genannt wird. Kröger hat sich ihrerseits in den letzten zehn Jahren als Verfasserin von Kriminalromanen einen Namen gemacht, die Madita «Mattie» Junghans, Tochter einer Inderin und eines Deutschen und Betreiberin eines Wanderkinos, zur Heldin haben und auf die eine oder andere Weise einen Bollywoodbezug, der sich wiederum durch ein früheres Kollektivprojekt hergestellten Beziehungen nach Bombay verdankt.
Grenzfall, Krögers dritter Roman, ist nun seinerseits eine Wiederaufnahme und Weiterführung nicht nur der Krimiserie um Mattie Junghans, sondern der filmischen Wiederaufnahme des Geschehens, um das sich Revision dreht. Die Indizien, die Figuren, die Arbeit der Rekonstruktion wandern vom Dokumentarischen ins Fiktionale, vieles erkennt man wieder, anderes wird mit Versatzstücken des Genres zu neuen Strängen geflochten. Insgesamt gelingt dieser Wechsel vom einen ins andere Register fast spielerisch – die quasi-juristische Rekonstruktion wird zur detektivischen Ermittlung, die Ermittlerfigur fügt sich ins Bild, das sie im selben Moment auch verändert.
Der Roman ist multiperspektivischer als der Film, er hat eine ungeheure Rasanz, ist atemlos und im Stakkato erzählt und gelangt zu eindeutigeren Resultaten als die Doku, die manches sehr bewusst offen und unexpliziert lässt. Grenzfall kommt gerade ganz zu Recht auch auf eigenen Beinen zu kriminalliterarischen Ehren – reizvoll ist der Vergleich von Film und Buch, keiner des anderen Tie-In, aber schon: Sie stellen einander auf sehr interessante Weise gegenseitig in ein je etwas anderes Licht.
Merle Kroeger: Grenzfall, Argument Verlag 2012