Väterchen Prost Zu Thomas Hauschilds transkultureller Weihnachtsmanngeschichte
«Ich bin zu einer Figur geworden: Weihnachtsmann.» Der Ethnologe Thomas Hauschild beginnt sein Buch über den Weihnachtsmann mit einem «going native»: Er schildert, wie er als Weihnachtsmann durch das verschneite Tübingen stapft, selbst Teil jenes inzwischen nahezu globalen Kultes, an den eigentlich nur Kinder glauben, den aber auch Erwachsene in verschiedensten Formen praktizieren, etwa wenn sie sich auf betrieblichen Jahresabschlussfeiern mit roten Santa- Mützen uniformieren oder Weihnachten zum Gegenstand von Kulturkampf und Identitätswahn machen. Doch Hauschilds eigene Mission geht über gelegentliche Auftritte als Weihnachtsmann deutlich hinaus: Er hat sich auf die Suche gemacht nach den europäischen und vor allem asiatischen, zum Teil deutlich älteren Verwandten (Vorfahren oder Parallelen, das bleibt offen) und ist dabei neben relativ naheliegenden Figuren wie dem Heiligen Nikolaus, der italienischen Weihnachtshexe Befana und Väterchen Frost aus Russland auch auf ausgefallenere wie den Borkumer Klaasohm und in scheinbar weiter Ferne weilende wie den mongolischen Weißen Alten gestoßen.
Die im Untertitel augenzwinkernd angekündigte «wahre Geschichte» erweist sich jedoch nicht als spekulative Erkundung der Herkunft, sondern als weit ausholender Vergleich eurasischer Rituale und Bräuche der Gegenseitigkeit, die sich als miteinander auf komplexe Weise verwoben erweisen und in denen ein alter weißhaariger Mann eine erstaunlich prominente Rolle spielt. Wo Menschen mit dem Winter kämpfen, so Hauschilds These, entsteht (oder erfinden sie) die zivilisierende Kraft der Figur eines Gabenbringers, der Arm und Reich, Zivilisation und Barbarei, Individualität und Kollektivität, Kommerz und Gabe für einen kurzen Augenblick synthetisiert. Hauschild zielt damit auf das Verbindende und nicht das Trennende in der kulturellen Bearbeitung dessen, was er etwas vage als «Grundprobleme» der conditio humana (Kindheit, Alter, Wechselseitigkeit, Winter) bzw. «Lebensbedingungen und Bedürfnisse der Menschen» apostrophiert («Menschen wollen einfach schenken.»).
Das kann man als naiv, aber auch als Effekt von Hauschilds methodologischem Egalitarismus ansehen, der Rituale nicht entlang offizieller, kodifizierter Deutungsversuche, sondern «aus der Perspektive der ‹Völker›, der Praktiker und Konsumenten» – nicht zuletzt anhand der von ihnen produzierten Bilder: populärer Darstellungen, Comics, Walt- Disney-Filme, Reklame, selbst geschossener Fotos, studentischer Plakate mit Nietzsche als Weihnachtsmann – verstehen will und immer wieder betont, dass Weihnachtsmann und Konsorten allen Menschen gehören. Dieses Vorgehen – das Hauschild bereits in seiner Promotion über den Bösen Blick und seiner Habilitation über magische Praktiken in Süditalien sowie seiner Tätigkeit als Religionsberater Christoph Marthalers an der Berliner Volksbühne erprobt hat – zeitigt klare epistemische Vorteile, denn es eröffnet den Blick auf ein «Geflecht» von Bräuchen und Ritualen, das sich um Wünschen und Geben dreht und dessen «offene Enden» seines Erachtens «in den Osten weisen». Hauschild führt uns von der Transformation des mittelalterlichen Kultes um Sankt Nikolaus bzw. Hagios Nikolaos im ersten großen Teil über «den Westen» zu den asiatischen Göttern des langen Lebens im zweiten großen Teil über «den Osten». Auf dieser Reise begegnen wir – auch auf der Bildebene – chinesischen Sternenkulten, antiken und mittelalterlichen Seeleuten, der daoistischen Hochschätzung von Sperma, fliegenden Schamanen (die mit Weihnachtsmann die Praxis des magischen Fliegens teilen), dem muslimischen Winterheiligen Hizir, aber auch der symbolischen Hinrichtung eines der klandestinen Amerikanisierung verdächtigten Weihnachtsmannes durch Vertreter der katholischen Kirche in Dijon 1951 (nachzulesen bei Claude Lévi-Strauss).
Trotz der tabellarischen Erfassung der Überschneidungen und Unterschiede zwischen den Hauptfiguren dieser Geschichte – den chinesischen Göttern des langen Lebens, Sankt Nikolaus und Weihnachtsmann –, die über an sich bereits erstaunliche und von Hauschild quasi-ikonographisch herausgearbeitete physiognomische Ähnlichkeiten (die hohe Stirn, das weiße Haar) hinausweisen, gerät die Aufarbeitung des in jahrelanger Recherche zusammengetragenen Materials dabei zum Teil etwas unübersichtlich und langwierig. Dennoch bekommt man ein Gespür dafür, was die transindividuellen, diesen lokalen Ausgestaltungen zugrundeliegenden «Typen» gemeinsam haben, die Hauschild als Faktor N(Nikolaus-Weihnachtsmann-Santa), Faktor SX (Shou Xing, der chinesische Gott der Langlebigkeit – «This is Chinese Santa Claus», wie ein chinesischer Händler in San Francisco dem erstaunten Autor bereits 1996 mitteilt) und Faktor WA(der Weiße Alte, ein mongolischer Gaben- und Wintergott, der in der 1. Kölner Mongolenhorde eine unwahrscheinliche karnevaleske Aneignung erfahren hat) bezeichnet.
Grenzen der Großzügigkeit
All das belegt: Weihnachtsmann war immer schon global und transkulturell. Dass Hauschild der Faszination seines Gegenstandes auf durchaus sympathische Weise erliegt, zeigt sich aber nicht nur in den vielen eingestreuten persönlichen Anekdoten (so gesteht er am Ende, dass ihm sogar Berliner Obdachlose bereits als Weiße Alte erschienen sind), sondern auch an der etwas überspannten Hoffnung, seine Entprovinzialisierung des Weihnachtsmannes möge einen Beitrag zur «Entwicklung einer friedlichen Weltkultur» leisten. Hauschild zeigt zwar, wie sich Wünschen und Schenken, Selbstlosigkeit und Fürsorge im Weihnachtsmann als Vehikel bündeln, der den Akt des Schenkens ermöglicht, indem er ihn verzaubert und damit über profane Tauschbeziehungen erhebt. Und er leugnet natürlich nicht, dass konsumistische Überformungen und der Rückzug ins Private der Kleinfamilie ebenso Teil von Weihnachten (zumindest «bei uns») sind – er ist jedoch überzeugt, dass der Zauber eben nicht nur ein falscher, dass Weihnachtsmann mehr als ein Agent des Warenfetischismus ist. Weihnachten sei vielmehr Freiraum und, ja, «Fest der Liebe», habe sogar ein «kritisches Potential», das über das «reine Nützlichkeitsdenken» hinausweise. Leider sagt Hauschild aber wenig dazu, was es für eine Kultur heißt, wenn Gabe und Solidarität auf einen solchen recht künstlich erzeugten Freiraum angewiesen und auch beschränkt sind. Zudem gehen mit dieser Praxis des Schenkens doch stets auch recht enge und nicht allein symbolische «Grenzen der Großzügigkeit» einher, die Hauschild zwar nennt, aber nicht näher beschreibt, geschweige denn zum Teil seiner auf Inklusivität zielenden Theorie macht. Dabei liegt es doch auf der Hand, dass es eine Politik des Weihnachtsmanns (auch jenseits der Ersetzung von «Merry Christmas» durch «Season’s Greetings») gibt. In den Niederlanden zum Beispiel manifestiert sich in der den Weihnachtsmann auch heute wieder überall hin begleitenden Figur des Zwarte Piet – die normalerweise von schwarz geschminkten weißen Niederländern verkörpert wird, die dazu noch große rote Lippen und Kraushaarperücken tragen – ein Alltagsrassismus im scheinbar unschuldigen Gewand, der koloniale Klischees und stereotype Sklavendarstellungen umstandslos mit Weihnachtsbräuchen fusioniert und damit freilich mehr als nur symbolische Ausschlüsse reproduziert. Solche Geschichten finden sich bei Hauschild kaum. Eine kritische Theorie des Weihnachtsmanns bleibt daher auch nach seinem Buch Desiderat.
Die Lehre aus Hauschilds Buch aber ist: Der Weihnachtsmann ist zumindest komplexer, als man denkt. Zudem gibt er ein eindrückliches Beispiel dafür, wie Bräuche und Praktiken aufgrund ihrer Anpassungsfähigkeit und einer Art Hintergrundmultikulturalismus zwar nicht immunisiert sind gegen die Vereinnahmung durch Institutionen (Kirche, Staat) oder Partikularinteressen (Coca Cola, deutsche Eingeborene), diesen aber doch eine Widerständigkeit eigener Art entgegensetzen können. Angesichts der Masse an kulturhistorischem und -anthropologischem Material, das er vor uns ausgebreitet hat, fragt allerdings auch Hauschild am Schluss: Müssen wir das alles wissen? Und er beantwortet diese Frage auch gleich selbst, mit jener Offenheit, die ihm dieses Material allererst erschlossen und es ihm ermöglicht hat, dieses ebenso interessante wie seltsame Buch zu schreiben: «Ich muss gestehen, ich weiß auch das nicht.»
Thomas Hauschild: Weihnachtsmann. Die wahre Geschichte, S. Fischer 2012