Was von Leipzig bleibt Zum 55. Festival für Dokumentar- und Animationsfilmfestival
Heino Jaeger – Look before you kuck «Talking Heads» ist ein Schimpfwort für den Dokumentarfilm, aber nicht jeder Kopf, der redet, ist ein «talking head», der Informationen aufsagt. Gerd Kroskes Film ist ein gutes Beispiel, um diese Differenz zu machen: Die «Talking Heads», die hier Auskunft geben über den 1997 verstorbenen Freund – etwa der kunstsinnige Zuhälter Wolfgang Köhler in seinem schweren Sächsisch, der Protagonist von Kroskes letztem Hamburg-Film Wollis Paradies war – können erzählen, und was sie sprechen, sind Anekdoten, also eine Form von Literatur. Die verdichtet der Film mit den Resten von Jaegers Schaffen auf Tonband, Videofilm und Papier. Und so entsteht das präzise Bild einer Künstlerfigur, die mit Kategorisierungen wie Kabarettist, Maler oder Satiriker nur unzureichend beschrieben ist. Im Grunde war Jaeger, von Loriot geschätzt und Olli Dittrich bewundert, selbst ein Medium – ein Stimmenimitator der deutschen Traumata aus Krieg und Nazi-Zeit.
Eine Art Liebe Der Traum des Dokumentaristen: dem wildfremden Menschen von der Straße in sein Leben zu folgen. Dirk Schäfer hat den 30-jährigen Nevzat in Istanbul getroffen, wo dieser auf dem Bau sein Leben riskiert, um das Geld zu verdienen, das die Landwirtschaft im türkischen Osten nicht mehr verschafft. Nevzat ist ein Dandy, der im Anzug und mit Zigarette im Mund die Kühe melkt. Er gehört auf die Straßen von Godards Ausser Atem-Paris, aber er hängt fest in der archaischen Ordnung seines Clans, der die Gesetze selbst macht und nicht zwischen Legislative und Exekutive trennt. Nevzat lebt das Leben einer Tradition, die mit ihm nichts zu tun hat, und Schäfer folgt ihm für seinen intimen Film ausdauernd in die dazugehörigen Widersprüche. Der zweite Traum des Dokumentaristen: erkannt zu werden. Am Ende sagt Nevzat auf die Frage des Mannes hinter der Kamera, warum er ihn nie mit Namen nennt, dass er Respekt habe. Und über das Verhältnis zu seinem Chronisten: «Eine Art Liebe.»
Der Kapitän und sein Pirat ist der Film von Andy Wolff und seinem Kameramann Yusuf Guul. Guul stammt aus Somalia, einige seiner Schulkameraden sind Piraten geworden. Pirat ist ein Beruf im «failed state», eine Drecksarbeit aus Umverteilungspragmatismus. Und so hat Guul tatsächlich den Piraten aufgetrieben, der 2009 die «Hansa Stavanger» einer deutschen Reederei mit polnischem Kapitän kaperte, weshalb der Film ein Zwiegespräch über die Distanz sein kann. Das wird zuerst geführt, um die persönliche Geschichte einer merkwürdigen Freundschaft zu erzählen; die globalen Zusammenhänge kann man dadurch dennoch verstehen. Die Grenze verläuft immer nur zwischen oben und unten, und nichts belegt das besser als die Verwunderung des Kapitäns, mit der er seinen angelernten Rassismus revidieren muss: Während die Reederei in ihm einen Kostenfaktor sieht, der geringer zu veranschlagen ist als das geforderte Lösegeld, bringt der Pirat ihm Respekt entgegen, den die eigene Crew nicht mehr hat.
Nach Wriezen Eine groteske Szene: Ein junger Mann lernt Autofahren, was ihn offenbar derart unter Stress setzt, dass er seine Mimik aggressiv zusammenhalten muss, damit er nicht den Kopf verliert. Der junge Mann ist Imo, einer von drei Straftätern, die Daniel Abmas Film aus der Haft zurück ins Leben begleitet. Über dem Film liegt ein frivol-realistischer Spannungsbogen, der sich unserem Blick auf die Gesellschaft verdankt: Wer kommt wirklich raus? Abma bedient diesen Voyeurismus nicht, er vermittelt vielmehr einen Eindruck davon, dass der Kampf, der Resozialisierung heißt, viel früher schwere Niederlagen eingesteckt hat. Dem Film fehlt manches, was nicht erzählt werden konnte oder wollte. Was man sieht, sind beredte Figuren, eben Imo beim Autofahren, Jano, der Drogen vertickt und durch die Straßen hustlet wie ein Charakter aus einem Spike Lee-Film. Und Marcel, dem eine eigenartige Prominenz eignet, weil er in Potzlow einen Jungen brutal ermordet hat, worüber etwa Andres Veiels Der Kickhandelt. Der bleibt die unheimlichste Figur.
MansFeld Mario Schneiders dritter Film über das Mansfelder Land, nach Helbra (2004) und Heinz und Fred (2007), ist eigentlich zwei Filme: Eine künstlerische Pisa-Studie und eine Geschichte aus alter Zeit. Die Geschichte aus alter Zeit handelt vom Pfingstritus auf den Dörfern, bei dem die Jungen peitschenknallend den Winter austreiben. Der Ritus, der auch über stolze Archivbilder aus den Jugendjahren des Films erzählt wird, bildet ein Gegengewicht zur postindustriellen Tristesse der Region. Der künstlerischen Pisa-Studie gelingt eine große Nähe zu den drei Jungs – und deren je eigener Körperlichkeit, die Schwierigkeiten bei der Erziehung nicht als Horror des Privatfernsehens ausstellt, sondern als prekäre Gegenwart einfängt. Der Junge, dem der Vater nie Fragen über das Schlachten beantworten will, möchte Fleischer werden. Und homosexuelle Patchworkfamilien können selbst in der Provinz Normalität sein.
Matthias Dell war beim 55. Internationalen Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm Mitglied der Jury des Deutschen Wettbewerbs