debatte

Bombay, Cinema City Wer in der indischen Metropole nach kritischen Kinopraktiken sucht, stößt auf psycho-urbanistisches Mapping und das Online-Archiv Pad.ma

Von Max Linz

Camp 2 × 2: Zwei Abende Projektpräsentationen im Camp Studio

© Erik Stein

 

Abflug Tegel, Turkish Airlines. Im Flugzeug mit dem Feuilleton der FAS, großer Aufmacher Der Turm, die Buddenbrooks des Ostens, im Kino besser, warum nochmal? Weil «vom ästhetischen Ballast befreit». Ein Ressort weiter, «Gesellschaft», Produzenten-Portrait Nico Hoffmann, teamworX’ revanchistischer Geschichtenmacher, Dresden, Die Flucht, Rommel und demnächst dann nicht nur Maria Furtwängler als Leni Riefenstahl, sondern auch, passend zur holtrophaft ins Übermenschentum gesteigerten Selbstwahrnehmung, die er hier zum Besten zu geben gebeten worden war, Hitler als Hitler. So verabschiedete ich mich von Deutschland, in einen anderen Teil der Welt, des Weltkinos.

In Indien sind mit «World Cinema» alle Filme gemeint, die außerhalb sowohl der einheimischen Industrien – wie Bollywood in Bombay oder der am numerischen Output gemessen noch produktiveren südindischen Industrien – als auch Hollywoods produziert werden. Über neues indisches Weltkino hatte ich im Vorfeld der Reise öfter gehört, ein Bericht aus Cannes in den Cahiers war darunter, «On n’arrête plus le cinéma indien», eine Reihe in der Kopenhagener Kinemathek, «Indian Indies». In Bombay angekommen, musste ich feststellen, dass die Filme, von denen in Europa die Rede gewesen war, überhaupt nicht zu sehen sind, weil es selbst hier, in der schlechthinnigsten Metropole, kein einziges Kino gibt, in dessen Programm «World Cinema» einen festen Platz hätte. Wie gewöhnlich wird der Markt mittlerweile dominiert von Multiplex-Ketten wie Cinemax (sic) oder Fun Cinemas. Die Kinosäle sind oft integraler Bestandteil der in den letzten 15 Jahren entstandenen Shopping-Malls, die ihrerseits nicht selten an der Stelle ehemaliger Single-Screen-Filmtheater stehen und rechtlich dazu verpflichtet sind, einen Kulturanteil auf ihrem Grundstück zu garantieren.

Und wie gewöhnlich sind hier die Festivals mit der Aufgabe betraut, einerseits als «Showcase» zu dienen für einen unwahrscheinlichen regulären Verleih, andererseits das Publikum am von Cannes und Venedig, auch von Berlin, Sundance und Toronto aus vorgegebenen Weltkino-Geschehen teilhaben zu lassen. Das Mumbai International Film Festival, organisiert von der Mumbai Academy of the Moving Image, daher MAMI genannt, gegründet mit der Verlegung des staatlichen International Film Festival of India (IFFI) nach Goa im Jahr 1994, eröffnet nach dem Ende des Monsuns Mitte Oktober die indische Festivalsaison.

Als erstes bin ich in das Cinemax im 15 Kilometer vom Zentrum entfernten Stadtteil Sion gefahren. Vor dem Kino drei Schulklassen, die etwas anderes vorhaben, an der Kasse werde ich nach drinnen verwiesen. Nachdem ich den überall gleichgültig praktizierten, flughafenhaften Sicherheitscheck passiert habe, begrüßen mich zwei freundliche Mitarbeiter des Festivals, händigen mir Gutscheine für Snacks aus und fragen, welchen Film ich sehen möchte. «Oliveira» sage ich, «Gebo And The Shadows». «Cancelled», sagt der eine. «Hard disk problems», der andere. Weil von hier aus keine weitere Alternative in Reichweite ist, setze ich mich in Fathers Chair aus Brasilien. Doch schon soll ich mich wieder erheben, die Leinwand fordert dazu auf. «Please stand up to honour our National Anthem.» Wie ein establishing shot informierte dieser Auftakt meine Wahrnehmung des Festivals, das Drumherum so sehr wie der Film, in dem einem cholerischen Karrieremenschen der Sohn durchbrennt. Zu Pferd reitet dieser durch die Pampa, der Vater als wilder Mann im SUV hinterher, am Ende haben sich auf der Ranch des Großvaters alle drei im Arm, während die Frau zu Hause in Bahia vor Freude in den Pool springt. Das Patriarchat war überall und wurde höchstens angetastet, ob in komplizierten, gewalt- und umwegsamen Versöhnungsgeschichten wie Thomas Vinterbergs Hunt und Jacques Audiards Rust and Bone, als anekdotische Schrulle in Kiarostamis Like Someone in Love, bei Manoel de Oliveira und David Cronenberg, oder in den Synopsen der neuen indischen Filme, von denen ich letzten Endes wohl keinen einzigen dringend genug hatte sehen wollen, um tatsächlich im richtigen Kinosaal zu landen. Spontane Programmänderungen waren nicht der Rede wert oder wurden mit technischen Schwierigkeiten begründet, mit kaputter Hardware, einem fehlenden Product-Key. Wusste man Bescheid, war es schon zu spät, um die eigene Planung noch zu aktualisieren.

Eine der vierzehn Sektionen war dem 100jährigen Jubiläum des indischen Kinos gewidmet; als dessen Geburtsstunde gilt der erste Langfilm von Dadasaheb Phalke, Raja Harishchandra von 1912. In dieser Reihe wurde auch A Throw of Dice (1928) gezeigt, eine Königssage aus dem Epos Mahabharata, inszeniert vom deutschen Regisseur Franz Osten. Die Einführung besorgte sensationellerweise der Hamburger Oberbürgermeister Olaf Scholz, der gerade mit seiner Wirtschaftsdelegation in der Stadt war und bei dem Versuch, die Hafenstädte Hamburg und Mumbai auf eine Stufe zu stellen, etwas tüdelig wirkte. A Throw of Dice erzählt davon, wie ein König sein Reich und sich selbst an den Nebenbuhler seiner Verlobten verspielt und erweitert dabei die aktionsfixierten Mantel-und-Degen-Intrigen im Palastmilieu um eine Sensibilität für Handlungsräume und Gesten, in denen man die «Worldliness» des post-expressionistischen Stummfilms der Weimarer Jahre zu spüren meint.

Außerhalb der Retro aber präsentierte sich das Konzept Weltkino auf dem Festival in keiner Verfassung, um die Gegenwart der Welt mit dem state of the art der Kunst zusammenzudenken, zu alt, zu konventionell, zu sehr auf falsche, unrealistische, längst wegargumentierte Repräsentationen fixiert, im Abwehrkampf gegen das Internet und die Filesharer, als Untermieter in Theatersälen und Popcornkinos, letztlich als sein Gegenteil, ein auf allen Bahnen überholtes, weltfremdes Relikt. Vielleicht kommt daher die Obsession mit Familiengeschichten («Das haben wir immer so gemacht!»), Erbschaftsdramen («Wie soll es weitergehen?») und Sterbeerzählungen («Es geht zu Ende.»). Während des Festivals starb mit Yash Chopra überraschend auch der King Of Romance, Bollywoods oberster Dynast. Seiner wurde vor jeder Vorführung mit einer Schweigeminute gedacht.

Expandierendes Archiv

Eine kritische Kino-Öffentlichkeit muss man in Bombay also woanders suchen. Das Filmzentrum MAJLIS hat seit 2008 an einer Kinogeschichte der Stadt gearbeitet, die ursprünglich als Web-Display geplant war und schließlich interdisziplinär unter dem Titel «Cinema City» als Wanderausstellung, die sich zur Zeit in Bangalore befindet, sowie mit zwei Readern und einer DVD realisiert wurde. Es geht um ein psycho-urbanistisches Mapping der Stadt mit ihren Kinos, einen Nachvollzug der Beziehungen von gesellschaftlicher Erfahrung und Kinoproduktion. Als ein Forschungsergebnis von Cinema City steht zu Buche, dass das Kino für die Stadt jahrzehntelang die Funktion eines integrativen Mediums innehatte. Als solches, so die These, war es sowohl in der Lage, die unaufhörlichen Migrantenströme, die die Einwohnerzahl innerhalb des zwanzigsten Jahrhunderts von einer knappen Million auf 12 Millionen im Jahr 2000 anwachsen ließen, mit dem Bürgertum der mittleren Klassen, wo schon nicht räumlich, da doch im selben kulturellen Universum zusammenzubringen, als auch zahllosen Migrant/inn/en den Traum vom sozialen Aufstieg in der Filmindustrie zu verwirklichen. Cinema City legt aber den Schluss nahe, dass das Kino diese Funktion seit den 90er Jahren durch einen Prozess der Subalternisierung inner- wie vorstädtischer Filmtheater sukzessive verliert. Tatsächlich tauchen eine Vielzahl von Kinos, die im Stadtraum zu sehen sind, nicht auf den Programmseiten der großen Tageszeitungen auf, werden auch von Google nicht registriert. Es sind vor allem Nachbarschaftskinos mit nur einer Leinwand, die vom Verleihkalender abgekoppelt wurden. Ihre Fassaden sind verfallen, als Ausländer wird man nachdrücklich vor einem Besuch gewarnt. Der Eintrittspreis liegt um 60 Rupien, das ist weniger als ein Euro und circa viermal niedriger als in den Multiplexen. Cinema City arbeitet diese Stratifizierung am Beispiel des Pila-House-Districts auf, einem Vergnügungsviertel in Downtown, das heute nur noch von männlichen Arbeitsmigranten frequentiert wird und hauptsächlich Erotikfilme zeigt. Die wohlhabenderen Familien zieht es unterdessen in die Malls, in eiskalt klimatisierte Säle, deren Innentemperatur sich zu der Hitze draußen in etwa so verhält, wie die Darstellungspolitik der hier gezeigten Filme zur Realität der Stadt.

Die Videos auf der Cinema City-DVDkönnte man als poetische Infogramme bezeichnen. Assoziative, das Prinzip des Mappings diachron nachverfolgende Montagen und der Einsatz von Schrift und Graphik prägen die Arbeiten. Pila House, Bombay/Mumbai stammt von Abeer Gupta, greift dabei weitestgehend auf Material zurück, das die Cinema City-Kuratorin Madhusree Dutta für ihren Filmessay 7 Islands and a Metro von 2006 gedreht hat. Die Arbeit von MAJLIS beruht wesentlich auf einer kollegialen Praxis der Weitergabe, des Remix, der Neubearbeitung. Seit 2000 wird unter dem Projektnamen Godaam ein im Majlis-Büro zugängliches Archiv angelegt. Begonnen wurde es mit Recherchematerial zum Kashmir-Konflikt, Videoaufnahmen des Filmemachers Said Mirza, sowie von der Künstlerin Hansa Thapliyal gesammelten historischen Fotografien, die auf der Rückseite mit Anmerkungen versehen waren. Dann begann das Archiv zu expandieren und der Wunsch entstand, es auch systematisch online zu veröffentlichen.

Pad.ma

Godaam ist einer der Ausgangspunkte von Pad.ma, URL und Acronym für Public Access Digital Media Archive, einem zeitgenössischen Online-Archiv, gestützt von einem Meta-Kollektiv, für das sich Majlis mit der Künstleroganisationen CAMP, den Aktivist/inn/en von Point-of-View (beide Bombay), dem Alternative Law Forum (Bangalore) und den Berlinern Jan Gerber und Sebastian Lütgert (0x2620) für die Konzeption und Programmierung zusammengetan hatten. Mittlerweile befindet sich die physische Basis von Pad.ma im Studio von CAMP, einer Dachgeschosswohnung im an der Westküste gelegenen Stadtteil Khar, wo das Archiv administriert wird. Das Prinzip von Pad.ma sieht vor, dass ungeschnittenes, dokumentarisches Videomaterial durch ein Textgewebe aufgeschlüsselt wird und so für die Suchfunktion zugänglich ist. In der Selbstbeschreibung heisst es: «We see Pad.ma as a way of opening up a set of images, intentions and effects present in video footage, resources that conventions of video-making, editing and spectatorship have tended to suppress, or leave behind.»

Tatsächlich scheint sich dieser Anspruch der Öffnung einzulösen, wenn man auf Pad.ma erneut auf das Material zum Pila House-District stößt. Die optional einblendbaren Annotationen lokalisieren den Drehort, die Dialogtranskriptionen klarifizieren oder übersetzen das gesprochene Wort, die Anmerkungen weisen selbstreflexiv auf Kadrage, das Off und den physischen Zusammenhang der Dreharbeit hin. Durch die Entrahmung aus einem durch Schnitt, d. h. Weglassung, dramatisierten Erzählzusammenhang und die zeitlich unbegrenzte Verfügbarkeit im Internet öffnet sich ein neuer Modus der Auseinandersetzung mit der Aufnahme. Neben die maximale Verfügbarkeit von Information treten der momentane sinnliche Reichtum und die intensive Lebendigkeit eines beliebigen Augenblicks, in einer schwach beleuchteten Ecke eines schlecht beleumundeten Stadtteils.

Die Videos sind zwar mit dem Namen der Produzent/inn/en markiert, dennoch ist ihre Arbeit in Pad.ma für eine nichtindustrielle Praxis auf außergewöhnliche Weise depersonalisiert und einem anonymen Netzwerk überantwortet. Pad.ma wirkt wie die Verwirklichung netzkultureller Hoffnungen der 90er Jahre, die durch die Dominanz kommerzieller Ego-Building-Maschinen wie Facebook, Youtube, Vimeo usw. schon endgültig unerfüllt zu bleiben schienen. Es ist der Aufschein einer anderen Ästhetik, für die Autonomie von Kunst und Künstlersubjekt nachrangig ist, und deren Fokus auf Prozessualität, maschinisierter Kollektivität und Translokalität liegt. Denkt man an die Documenta 13 und ihre medienökologische Programmatik, verwundert es nicht, dass CAMP/Pad.ma in Kassel gleich zweimal vertreten waren. Neben einer Videoinstallation in der Parkaue (Shaina Anand, Sanjay Bhangar and Ashok Sukumaran) war ein Pad.ma-Display im Kontext der im ehemaligen Elisabeth-Krankenhaus gezeigten afghanischen Arbeiten zu sehen. Unter dem Titel «The World of Afghan Films» waren digitalisierte Ausschnitte und Rushes aus der afghanischen Filmgeschichte zu sehen, die weiterhin auf Pad.ma zugänglich sind.

Neben die zeitgenössiche Archivierung tritt so auch die Arbeit mit der Filmgeschichte. Das Centenarium der indischen Filmkultur wird gerade mit einem neuen Projekt begangen, geplant ist die vollständige Publikation aller verfügbaren Spielfilme der ersten 40 Jahre bis 1952.

Während ich diesen Text zu Ende schreibe, am Sonntag, 18. November 2012, gleicht Bombay einer Geisterstadt. Die sonst zu jeder Uhrzeit so überfüllten Straßen sind wie ausgestorben, die Geschäfte verriegelt, die ab 9 Uhr morgens spielenden Kinos geschlossen, das Internet funktioniert nicht mehr. Autorikschas und Taxis stehen stumm am Straßenrand. Bal Thakeray, Gründer und Anführer der hindu-fundamentalistischen Partei Shiv Sena, ist im Alter von 86 Jahren gestorben. Ich erhalte eine SMSmit der polizeilichen Bitte, das Haus nicht zu verlassen. Der Subtext dieser Meldung ist: Shiv Senas Anhänger sind gewaltbereit. Nicht koordinierte Staatstrauer leert die Straßen, sondern die politische Einstellung der Taxi-Gewerkschaft und die Angst vor entfesseltem Volkszorn. Bal Thakeray war ein wegen Anstiftung zu Pogromen gegen die muslimische Minderheit verurteilter Demagoge, der sich gerne auf Adolf Hitler berief. Bollywood wusste er hinter sich, Indiens Megastar Amitabh Bachchan gehörte zu seinem Freundeskreis. In den Archivalien auf Pad.ma finden sich schon jetzt zahllose Zeugnisse derer, die am «receiving end» von Thakerays Politik standen und heute nicht um einen Nachruf gebeten werden.

 

Chimbai Road, Pali Hill

© Erik Stein