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Think Again Der Blick ist kein denkender, aber Tom Cruise stellt sich gar nicht mal blöd an und ist: Jack Reacher

Von Ekkehard Knörer

© Paramount

 

Jack Reacher ist das Tier, das denkt. «You think», fragt im Film einer, der diese Floskel nicht lang überlebt. Immerzu, antwortet Reacher, Denken, das solltest du auch mal versuchen. Für Reacher ist «you think» keine Floskel. Er ist ein Wesen, das denkt, das kombiniert, das wittert, das die Umgebung scannt, das alles als Indiz nimmt und das unter Einbezug entlegener Kenntnisse auf den Zusammenhang der nächsten Dinge schließt. In dieser Hinsicht ist er eine Gestalt, die direkt aus dem Kanon des Rätselkrimis in die Gegenwart tritt. Wo aber Conan Doyle seinen Watson brauchte, nämlich als Zwischenresümees produzierendes Abfrage- und Aufschreibesystem für die Kombinationen des so opak wie genial vor sich hin sinnenden und beobachtenden Meisters, da verlegt Lee Child die Denk-, Witter- und Kombinationskraft des Helden per weitgehend interner Fokalisierung (wie Génette sagen würde) ohne Mittlerinstanzen auf den Schauplatz von dessen eigenen Beobachtungen.

Der Rätselkrimicharakter der Reacher- Romane wird gerade dadurch aber verdeckt. An die Stelle von Watson tritt ein Akteur, dessen ungewöhnlicher Charakter wie Poes stibitzter Brief so sehr zu Tage liegt, dass man ihn fast übersieht: Dieser Akteur ist die kurz angebundene Sprache, die Lee Child für seine Romane erfunden hat, short, sharp, shocked, nüchtern, konstatierend, beobachtend, protokollierend. Ein Protokollblick, der mit dem neutralen Blick, den im Film die Kamera herstellt, wenn nicht identisch, so doch verwandt ist. Denkt man – und irrt vollständig. Think again. Man lese den Beginn von One Shot, dem Buch, das dem Film JackReacher zugrunde liegt (es ist übrigens keineswegs der erste, sondern der neunte in der inzwischen 17 Bände umfassenden Serie):

Friday. Five o’clock in the afternoon. Maybe the hardest time to move unobserved through a city. Or, maybe the easiest. Because at five o’clock on a Friday nobody pays attention to anything. Except the road ahead.

Freitag und nachmittags fünf mag man noch recht einfach in filmische Zeichen übertragen können. Die folgenden Notizen zur Weltweisheit des amerikanischen Alltags jedoch sind keine Beschreibung mehr, sondern reine Gedanken – es ist dieser unvermittelte Übergang, der typisch ist für die Form des

Erzählens in den Romanen von Lee Child (siehe cargo 08). In dem Fall sind die Überlegungen gar nicht an Reacher gebunden, wie überhaupt die Fokalisierung sich von Childs Protagonisten lösen kann und gelegentlich löst, ohne ihren Charakter dabei zu verlieren. Stets bleibt dieser Blick ein denkender Blick, in erster Person oder (sehr viel häufiger) in erlebter Rede erzählt, stets täuscht der Anschein, dass sich hier einfach Beschreibungssatz an Beschreibungssatz reiht.

One Shot ist sogar der Roman der Serie, der am längsten ohne Reacher auskommt, nämlich die ersten sechzig Seiten des umfangreichsten Kapitels nicht nur dieses Romans, sondern aller 17 Romane. Es ist kein Zufall, dass gerade auf diesen Roman die Wahl fiel, eben deshalb. Es ist so wenig ein Zufall wie die Tatsache, dass die ersten zehn Minuten von Christopher McQuarries Verfilmung die überzeugendsten sind. Ein Mann, dessen Gesicht nicht gezeigt wird, tötet als Sniper wahllos, wie es scheinen muss, fünf Menschen. Freitag, nicht lange nach fünf, mitten in Pittsburgh. Wir sehen die Annäherung an den Ort, wir sehen durchs Zielrohr des Täters, wir sehen die Opfer und ihren Tod. Der Mann fährt davon, der Verdächtige wird ergriffen, verhört, beim Polizeitransport schlimm vermöbelt, fällt ins Koma, beim Verhör schrieb er statt der Unterschrift unters Geständnis nur einen Satz aufs Papier: Get Jack Reacher. McQuarrie löst das Geschehen bis hierhin auf in eine wortlose Montage von Aktion, Rekonstruktion, Indizien und Zeichen, deren rasche Folge vom Zuschauer eigene Kombinationsanstrengungen fordert. Dann kommt Reacher ins Spiel und der Film hat sofort ein Problem.

Nur auf den ersten Blick besteht dieses Problem in Tom Cruise. Das Entsetzen war groß und verständlich, als Reacher Creatures wie ich am 15. Juli 2011 im Tradepaper- Klatschblatt Deadline von dieser Besetzung erfuhren. Der erste Blick irritiert allerdings sehr. Reachers in den Büchern beschriebenes Aussehen fasst die Wikipedia knapp zusammen: «Reacher is 6′5″ tall (1,96 m) with a 50-inch chest, and weighing between 210 and 250 pounds (100–115 kg). He has ice-blue eyes and dirty blond hair.» Wer da gleich Tom Cruise vor sich sieht: Glückwunsch. In der IMDB gibt es eine Liste von fünfzehn Darstellern, die einen besseren Reacher abgäben, die meisten plausibel, Nummer 14 – Hugh Laurie – ist in seiner Abseitigkeit wenigstens inspiriert. (Nicht zuletzt weil Jack Reacher die Erfindung des Uramerikanischen durch einen Briten ist. Aber auch die Linie Holmes-House-Reacher ist interessant.)

Lee Child, der dem Projekt und der Besetzung allem Anschein nach eher volens als nolens seinen Segen gab (und auch einen kurzen Auftritt im Film hat) war schlau genug, eine nicht unplausible Rechtfertigung zu finden: «Reacher’s size in the books is a metaphor for an unstoppable force, which Cruise portrays in his own way.» Metaphorisch gesehen also gute Besetzung. Nur dass Child gewitzt die andere Seite der Figur dabei unterschlägt: «Reacher’s strength is combined with his savant intellect and military training, analyzing his environment and opponents at extremely high processing speeds.» (Wikipedia) Für welche Eigenschaften von Tom Cruise wären nochmal rasanter Verstand und «savant intellect» die Metaphern?

Duvalls zerfurchtes Gesicht

In Wahrheit stellt sich Cruise gar nicht blöd an. Er überkompensiert nämlich nicht, unterspielt eher, versucht, seine Miene unlesbar zu halten, auch und gerade beim Denken; die schönste Szene ist die, wenn er sich nach einer wilden Autoverfolgungsjagd neben die Wartenden an einer Bushaltestelle stellt und zwischen ihnen verschwindet, unscheinbar wie er ist. Das eigentliche Problem ist ein anderes, und es ist struktureller Natur: Für Lee Childs Sätze, in die das Denken und Wittern und Kombinieren (und die Schlaumeierei) irreduzibel eingelassen sind, findet McQuarrie kein Äquivalent. Jedenfalls nicht nach den ersten Minuten, die einem noch Hoffnung machen, dass er es immerhin sucht. Besonders auffällig wird das in den Action- Kampfszenen, die sich in den Romanen dadurch auszeichnen, dass Child dabei die Beschreibung des Schlagens und Tretens mit der Schilderung auf anatomischer Expertise beruhender Tricks kombiniert. Im Film bleibt davon nur die rohe Gewalt, ohne Mätzchen inszeniert, okay, aber nicht mehr. Da rutscht der Film auf eine Weise ins bloß Generische zurück, dem sich die Romane durch explizit gemachtes Denken immer wieder entziehen.

Nun ist Jack Reacher aber nicht nur Verfilmung (wenn auch der aufregendsten Genreserie der Gegenwart), sondern auch Film. Als solcher steht er in einer paradigmatischen Reihe mit der Mission-Impossible- Serie (deren nächste Folge wohl McQuarrie drehen wird, Tom Cruise scheint also mit der Arbeit an Jack Reacher mehr als zufrieden) oder den Bournes oder auch Winding Refns James-Sallis-Verfilmung Drive. Im Vergleich mit allen dreien steht Jack Reacher nicht übel da. Christopher McQuarrie hält zum Mission-Impossible-Overdrive wie zum Greengrass-Montage-Haché wie zum tiefergelegten glossy Genrepastiche à la Drive entschieden Distanz. Der Referenzpunkt scheinen eher die Thriller der 70er Jahre, von John Frankenheimer oder Don Siegel, Regisseuren, die zu Reduktion und Sachlichkeit neigen und sich dabei die Zeit nehmen, die sie brauchen. Das Mythische am Helden entsteht da eher durchs Understatement als durch die penetrante Ikonisierung, wie sie so ausdrücklich Winding Refn mit Ryan Gosling versucht. Schon das Röhren der Motoren gibt sich so old-fashioned, wie der Film auch sich und seinen Helden versteht.

Die Grundbewegung der Erzählung ist eher nach innen als nach außen gerichtet, eher intensiv als expansiv, nicht wenige Szenen funktionieren im Grund kammerspielartig – insbesondere jene mit Reachers wichtigstem Verbündeten, der Anwältin des Tatverdächtigen (in ihr sind zwei Figuren des Romans zusammengezogen), die ihn als Ermittler offiziell engagiert. Die Rolle ist mit Rosamund Pike ebenso hervorragend besetzt wie die des unwahrscheinlichen Gefährten im finalen Shootout: Robert Duvall leiht hier zerfurchtes Gesicht und verbliebene Schusskraft. Dann noch Richard Jenkins als Gegenspieler/ Vater der Anwältin und – überzeugender Casting-Stunt –, der dabei unbekümmert bayerisch-amerikanisch wie eh und je klingende Werner Herzog als russischer Gangster, der beim Blick auf seine in der Kälte einst von ihm selbst abgebissenen Finger den klassischen Satz spricht: «Did I have a knife in my Siberian prison?» Als Fremdkörper sitzt er in Pittsburgh nun in einem amerikanischen Thriller, der sich auf alte Tugenden zu besinnen versucht. Und in der Tat: Jack Reacher besinnt sich und Tugenden hat er. Es fehlt dem Film als Verfilmung zwar die präzise mitlaufenden Nahreflexionen aus den Romanen. Und als Film fehlt ihm ein Regisseur, der ein Meister seines Fachs ist und nicht nur ein ganz ordentlicher Epigone. Kein großer Wurf, aber immerhin alte Schule.

Jack Reacher startet am 3. Januar 2013