Abbas Kiarostami «Ich habe mich nie als Marke empfunden»
Abbas Kiarostami über das Erbe des Neorealismus und seine neue Position im Weltkino
Herr Kiarostami, Sie haben zuletzt einen Film in Italien und nun in Japan gemacht. Inwiefern hängen diese Drehorte mit den internationalen Finanzierungsmöglichkeiten für Sie zusammen, und inwiefern sind es genuin inhaltliche Entscheidungen?
Japan war ganz und gar meine Entscheidung. Es gab keinerlei Druck von einem Produzenten oder irgendjemandem. Und da die Dreharbeiten, wie das bei mir üblich ist, nicht lang gedauert haben, hatte ich vollkommene Freiheit.
Sie sind also inzwischen in einer Position, dass Sie sich ein Projekt ausdenken können, und es wird auf jeden Fall realisiert?
Ja, so sieht es aus. Aber wie gesagt, das hat auch damit zu tun, dass meine Filme immer billiger als erwartet sind, ich schließe gewöhnlich unter Budget ab. So verdient zwar niemand Geld mit mir, aber es zahlt auch niemand drauf.
Gab es eine ursprüngliche Idee für Like Someone in Love? Vielleicht die Figur des Professors? Oder das Mädchen?
Zu Beginn ging es um das Mädchen. Ich war vor siebzehn, achtzehn Jahren einmal in Tokio. Wir fuhren nachts durch ein Geschäftsviertel, und da sah ich auf dem Gehsteig ein Mädchen stehen. Sie war wie eine Braut gekleidet. Aus diesem Erinnerungsbild heraus ist der ganze Film entstanden.
Sie haben also 18 Jahre lang ein visuelles Motiv im Kopf, und das entwickelt sich allmählich. Es bleibt untergründig, und kommt irgendwann an die Oberfläche.
Erst wenn sie sich vier, fünf Jahre widerspenstig in meinem Gedächtnis behauptet haben, gibt es die Chance, dass aus solchen Bildern ein Film wird. So war es auch bei Copie conforme, da war die anfängliche Idee 15 Jahre alt. Und für mein nächstes Projekt greife ich auf eine 35 Jahre zurückliegende Sache zurück.
Können Sie schon sagen, wo Sie drehen werden?
Aller Wahrscheinlichkeit nach in Italien. Es geht um eine Frau, die vor 70 Jahren ihren Ehemann ermordet hat. Nun ist sie 94 Jahre alt. Ich habe vor sehr langer Zeit etwas über diesen Fall in einer Zeitung gelesen.
Das Mädchen und das Motiv in Tokio, von dem Sie gerade sprachen, ist nicht unähnlich gewissen Beobachtungen, über die westliche Filmemacher und Intellektuelle aus Japan berichten. In Sans Soleil gibt es vergleichbare Momente, oder bei Roland Barthes. Das Mädchen steht oft für die Widersprüche in der japanischen Gesellschaft. Ein modernes Working Girl, das sich traditionell gibt. Hat Sie das auch interessiert?
Darüber habe ich nicht nachgedacht. Mir ging es wirklich allein um die visuelle Kraft dieses Bilds. Es ging nicht um das Mädchen oder um Gesellschaft oder irgendetwas. Hätte ich damals die Zeit und einen Apparat gehabt, ein Foto zu machen, wäre sicher kein Film daraus geworden. Vielleicht sollte ich noch ein wenig genauer beschreiben, was ich gesehen habe. Es war auf einem Platz, auf dem sich viele Männer in dunklen Anzügen befanden. Typische Bürokleidung, Aktentaschen. Und mitten darunter stand dieses Mädchen mit seinem hellen, langen Kleid. Nur dieses Bildes wegen habe ich den Film gemacht. Als ich allerdings jetzt nach Japan zurückkam, musste ich feststellen, dass junge Prostituierte sich nicht mehr so anziehen. Das Bild war also verschwunden, aber im Geist arbeitete ich schon an einer Geschichte.
Ist der Moment im Film, in dem das Mädchen mit einem Taxi an einem belebten Platz entlang fährt und einen kurzen Blick auf die Großmutter erhascht, eine Reverenz an das damalige Bild?
Ja und nein. Im Geiste hatte ich dieses Bild, das so nicht mehr möglich war, bereits durch eine ideale Kamerafahrt ersetzt, durch eine Sequenz, derentwegen ich eigentlich den Film machen wollte. Eine Plansequenz. Das Mädchen sollte rund um die Großmutter herumfahren auf diesem kreisrunden Platz, und ihr dabei immer näher kommen. Ich musste aber bald feststellen, dass man in Japan so etwas nicht drehen kann, weil es dort keine Kreisverkehre gibt. Ich konnte das also auf keinen Fall in einer Einstellung drehen. Ich glaubte damit eigentlich, dass ich das Projekt aufgeben sollte. Ich musste es vergessen. Kein Kreisverkehr, keine Plansequenz, kein Film. Ich bekam ihn aber irgendwie nicht aus dem Kopf, und jedes Mal, wenn ich nach Japan kam, begann ich wieder darüber nachzudenken. Die Architektur von Tokio war gegen mich.
Die erste Szene in der Bar hat eine ungewöhnliche, intensive Soundqualität. Die vielen Stimmen, die sich da überlagern – haben Sie daran besonders gearbeitet?
Vielleicht deswegen, weil ich schlecht höre. Wir haben jedenfall an der Tontextur intensiv gearbeitet, in dieser Szene sind es vierzehn Spuren. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass es zu viel ist. Ich werde oft nach dem Ton gefragt, also scheint es damit eine bestimmte Bewandtnis zu haben. Wichtig ist der Ton ja vor allem auch für die letzte Szene, in der der alte Mann und das Mädchen in der Wohnung sind. Die ganze Ereignishaftigkeit in der letzten Szene beruht ja auf dem Ton. Aufgrund des Tons sehen wir bestimmte Räume, die wir nicht wirklich sehen.
Zum Beispiel die Straße vor dem Haus.
Wichtig ist dabei, dass wir alle diese Räume vorher kennengelernt haben. Zu diesem Zeitpunkt weiß das Publikum bereits genau, wo das Auto ist, wo das Erdgeschoß und wo der dritten Stock ist. So fällt es leichter, den Ton mit den entsprechenden Orten zu assoziieren. Und vielleicht bekommt man durch den Ton den Eindruck, sie besser zu «sehen».
Genau. Der Raum wurde erschlossen, und ist nun auf eine vermittelte Weise präsent.
Wir sehen das, was der junge Mann macht, ohne es zu sehen: er kommt zur Tür herauf, versucht sich Zutritt zu verschaffen, geht wieder hinunter und schlägt das Autofenster ein.
Ich frage nach dem Ton auch deswegen, weil mich das immer wieder einmal verblüfft, wie selbstverständlich wir das nehmen, wenn in Filmen des neueren Weltkinos, etwa von Nuri Bilge Ceylan oder Cristi Puiu, eine Totale zu sehen ist, während wir durch das Mikrophon, das die Schauspieler am Körper tragen, ganz nahe dran sind. Eigentlich eine paradoxe Situation, die Sie inzwischen bewusst zu reflektieren und zu verfremden scheinen.
Nun, ich war ja derjenige, der das zum ersten Mal so gemacht hat. Und ich glaube, Nuri Bilge Ceylan hat sogar gesagt, dass er das von mir übernommen hat. Es ist nichts weiter als eine Konvention. Eine Übereinkunft, die wir akzeptieren müssen.
Ein paar Worte zu der Figur des Professors, der das Escort-Mädchen spätabends zu sich bestellt. Er ist eine sehr «japanische» Figur. Was ist alles in diese Figur eingegangen?
Ich habe ihn nicht aus Bestandteilen kombiniert, wie man aufgrund Ihrer Frage meinen könnte. Ich habe ihn vor allem gesucht, und ich hatte große Schwierigkeiten, ihn zu finden.
Den Schauspieler?
Ich habe über zwei Jahre gebraucht. Ich habe fast 200 Leute vorsprechen lassen. Die besten japanischen Schauspieler dieser Generation haben wir sämtlich in Betracht gezogen. Während dieser Zeit lag der Vertrag mit dem Produzenten zur Unterschrift bereit, aber ich wollte nicht unterschreiben, ohne diese Rolle besetzt zu haben. Ich fand ihn unter den Komparsen. Er hatte seit fünfzig Jahren Kino gemacht, aber immer nur als Komparse. Er hatte niemals einen Satz gesagt. Er war immer im Hintergrund gewesen. Als ich ihn schließlich gefunden hatte, wusste ich, dass ich nicht viel zu tun hatte. Bloß nicht zu stark eingreifen. Ihn einfach leben lassen. Alles, was ich von ihm verlangt habe, war ausschließlich das bisschen Disziplin, seinen Text zu lernen. Ich wollte ihn nicht nervös machen, nachdem ich mich für ihn entschieden hatte. Ich sagte ihm nicht, dass er die Hauptrolle haben würde. Wir fingen einfach an, und danach gab ich ihm weiteren Text. Er sagte, dass er damit Schwierigkeiten hatte, aber Schritt für Schritt kamen wir voran. Erst am Ende wurde ihm klar, dass er die Hauptfigur des Films ist.
Sie haben in Gesprächen über den Film mehrfach auf die Bedeutung dieses Sets verwiesen: die Arbeitswohnung des Professors. Tatsächlich ist das ein eigentümlicher Ort, gerade vor dem Hintergrund von Räumen, die wir aus dem klassischen japanischen Kino kennen.
Ich hatte zwei wirklich außergewöhnliche Leute, die tief im klassischen japanischen Kino verwurzelt sind. Der eine war eben Tadashi Okuno, der den Professor spielt, der andere war mein Set Designer, Toshihiro Isomi.
Wer ist für das große Fenster in der Wohnung verantwortlich? Es ist ein auffälliges Modernitätszeichen in einer ansonsten traditionellen Wohnung.
Wir mussten dafür eine Kompromiss finden, denn ich brauchte für die letzte Szene ein großes Fenster. Der Set Designer sagte mir aber, dass es in einer Wohnung, in der jemand 50 Jahre lebt, wie es beim Professor der Fall ist, keine so großen Fenster geben würde. Wir haben es also ein wenig verkleinert, uns im übrigen aber eine Geschichte zurechtgelegt. Die Wohnung ist alt, aber die Fassade wurde einmal erneuert, woraus sich das neue, größere Fenster ergab.
Wie in allen Ihren Filmen gibt es viele Interpretationsspielräume. Nehmen wir ein Beispiel: Der Professor hat für das Mädchen eine Suppe vorbereitet, die sie aber nicht mag. Sie verbringt dann die Nacht in seiner Wohnung, ohne dass wir erfahren, was noch geschieht. Enthält das Detail mit der Suppe einen (metonymischen) Schlüssel für das Verhältnis der beiden?
Die Suppe ist am nächsten Morgen immer noch da, wir sehen ja, dass er welche aufwärmt und ihr sogar noch einmal eine anbietet, sich dann aber daran erinnert, dass sie keine mag. Sie hat sie auf jeden Fall nicht gegessen. Was die Geschehnisse der Nacht anlangt, so weiß ich nicht mehr als Sie. Die Tür war zu, und zwar für Sie wie auch für mich und die Crew. Wir sind nach Hause gegangen. Es gibt aber einen Hinweis am darauffolgenden Morgen. Ich nehme an, er hat die Nacht auf der Couch verbracht, denn wir sehen ihn, wie er eine Decke zusammenfaltet und verstaut. Er findet dann aber ein Armband in der Decke, das er in seine Jackentasche steckt. Also muss doch etwas passiert sein, allerdings ist nicht klar, was. Und wir sollten da auch nicht zu neugierig sein. Als Regisseur weiß ich darüber nichts. Als Zuschauer würde ich vermutlich denken, dass ihr vielleicht frühmorgens kalt wurde, und dass sie zu ihm ins Wohnzimmer gekommen ist. Sie war vielleicht froh darüber, dass er sie schlafen hatte lassen, und zeigt ihm ihre Dankbarkeit. Ich weiß es nicht. Wir haben Anzeichen, aber nicht mehr.
Genau. Es geht auch gar nicht darum, die Ellipsen aufzubrechen, sondern darum, wie die Indizien im Film verteilt sind, wie er diesbezüglich organisiert ist.
Ich glaube, dass das eine notwendige Strategie ist. Entweder man macht Filme, wie es heute üblich ist, in denen alles gezeigt, ja überexponiert wird. Oder man macht es so wie ich, man zeigt Lebenszeichen. Filme sind sonst leblos. Wenn wir hier eine Stunde in einem Raum beisammensitzen, dann können wir ihn danach nicht verlassen, ohne Spuren zu hinterlassen.
Ich würde gern noch weiter ins Detail gehen, da aber unsere Zeit beschränkt ist, sollten wir jetzt auf eine allgemeinere Ebene gehen. Nach Like Someone in Love ist mir klar geworden, dass Copie conforme nicht einfach ein filmischer Ausflug war, sondern dass Sie ein größeres ästhetisches Projekt begonnen haben. Spielt das Element der Kopie auch in Like Someone in Love eine Rolle? Handelt es sich hier um eine Kopie, möglicherweise eine Fälschung, des klassischen japanischen Kinos?
Ich müsste mir Filme von Ozu oder Mizoguchi wieder ansehen, um diese Frage seriös beantworten zu können. Aber eines ist klar: Als ich zwanzig Jahre alt war und Filmemacher werden wollte, war ich sehr beeindruckt von Ozu. In meinem Film gibt es sicher Anzeichen, die das erkennen lassen: die festen Einstellungen würde ich sogar als Hommage an Ozu bezeichnen. Und auch die Themen und Menschen. Es gibt zwei 80-Jährige in meinem Film, die reale Personen aus dieser Zeit sind. Es gibt also Beziehungen. Aber ist es eine Kopie? Ich würde sagen: Nein. Aber es gibt Einflüsse.
Copie conforme hat eine Reihe von zentralen Fragen der Moderne thematisiert, vor allem die nach Originalität in allen möglichen Bereichen. Und diese Frage überträgt sich nun auf den nächsten Film. Ich sehe beide als ausgeprägte ästhetische Diskurse, ich kann mir das nicht anders erklären, als dass das so ausdrücklich beabsichtigt war.
Ich höre hier keine richtige Frage, aber das, was Sie ansprechen, betrifft glaube ich eine innere Notwendigkeit des Arbeitens. Wenn ich zwanzig Jahre mit einem bestimmten Projekt lebe, dann wirkt es auch auf die anderen ein, es entstehen Verbindungen zwischen den Projekten. Ich habe neulich mit einer Dame gesprochen, die etwas sehr Wahres über Paarbeziehungen gesagt hat. Sie hat zwanzig Jahre mit einem Mann gelebt, inzwischen lebt sie mit einem anderen Mann zusammen. Aber der erste Mann ist immer noch «da». «In meinem jetzigen Mann sehe ich viele Dinge, die ich in meinem früheren Mann zurückgelassen habe.» Wenn man einen neuen Film macht, verschwindet der andere Film davor nicht einfach. Ich bin mir sicher, dass es auch Resonanzen mit meinen früheren Filmen gibt.
Allerdings hat die Frage nach dem ästhetischen Zusammenhang der beiden jüngsten Filme einen spezifischen Kontext. Wenn ich richtig verstehe, ist es nicht Ihre freie Entscheidung, dass Sie jetzt im Westen arbeiten. Vielleicht würden Sie weiterhin im Iran arbeiten, wenn Sie könnten. Ich begreife nun aber in Copie conforme und Like Someone in Love auch so etwas wie Erleichterung. Sie müssen nun nicht mehr den «neorealistischen» Repräsentanten eines Entwicklungslandes geben, stattdessen sind Sie plötzlich ein Modernist im globalen Kino der Gegenwart geworden.
Sie haben recht. Ich lege nur Wert darauf, dass es als meine freie Entscheidung gesehen wird. Denn ich hätte auch anders darauf reagieren können, wie sich mein Land entwickelt. Ich hätte Filme unter den Bedingungen der Zensur machen können. Ich hätte mit dem Filmemachen aufhören können und andere Dinge machen. Aber ich bin wahrscheinlich tatsächlich genau aus den Gründen weggegangen, die Sie genannt haben. Ich brauchte eine Veränderung in meiner Arbeit. Ich musste neue Wege erschließen, und auch andere Leute treffen.
Sie haben also eine Möglichkeit ergriffen, die Ihnen offenstand aufgrund des Status, den Sie sich im Weltkino erarbeitet haben.
Genau. Und ich glaube, es hängt auch mit meiner Produktionsweise zusammen. Ich bin ein Low-Budget-Filmemacher, und das erlaubt es, Filme in nahezu jedem Kontext zu machen.
Vielleicht noch einmal ein Gedanke zu dem Aspekt des Neorealismus. Wir wissen, wie kompliziert es sich damit in vielerlei Hinsicht verhält. Aber lässt sich vielleicht bei Ihnen eine vergleichbare Entwicklung beobachten wie auch bei Rossellini damals: also von Wo ist das Haus meines Freundes zu Copie conforme, von Paisà zu Viaggio in Italia, auf den Sie sehr deutlich in Copie conforme Bezug nehmen?
Wie Sie schon sagen, ist Neorealismus ein schwer zu fassendes Wort. Aber ich würde gern klarer machen, dass ich meinen Stil nicht verändert habe. Wenn ich mit einem neuen Projekt beginne, dann tue ich das immer noch in dem gleichen Geist, mit demselben Ansatz. Ich sehe in meiner Methode oder meiner Vision keine Veränderung. Der Film von mir, der vielleicht am meisten dem neorealistischen Ansatz nahekommt, ist Mossafer (The Traveller, 1974). Nachkriegsitalien hat einfach eine Menge Gemeinsamkeiten mit dem Nachkriegs- oder Vorkriegs-Iran, in dem wir gerade leben. In beiden Fällen findet man Menschen in schwierigen, prekären Situationen. Sie versuchen, Lösungen zu finden für ihre Probleme. Und ich glaube, dass ich mich den Menschen immer noch unter diesem Aspekt nähere. In meinen jüngsten Filmen sind die Figuren vielleicht wohlhabender. Sie sind gebildeter. Aber in jeder anderen Hinsicht ist der Unterschied gering. Ich glaube, dass ich einfach tatsächlich erleichtert bin, bestimmte Weisen des Arbeitens und Präsentierens hinter mir gelassen zu haben. Aber ich habe keine zwei Ansätze. Mein Geist arbeitet immer noch in der gleichen Weise.
Das sehe ich auch so. Aber vielleicht gab es ein Problem mit der internationalen Wahrnehmung. Vielleicht waren sie ein bisschen in einem «typecasting» gefangen.
Ich habe mich nie als die Marke gesehen, als die ich häufig gesehen wurde. Es ist ein wenig so wie mit einem Bildhauer, der in einem abgelegenen Dorf lebt und mit Holz arbeitet. Und dann wird er eines Tages nach Deutschland eingeladen und beginnt mit Bronze zu arbeiten. Da stellt sich dann die Frage, ob sich seine Kunst verändert hat, weil er ein anderes Material verwendet.
Vielleicht kann man einen anderen Unterschied benennen, der die Wahrnehmung betrifft: Es gibt Filme von Ihnen, in denen die Komplexität eher versteckt ist (etwa in Mossafer oder Der weiße Ballon, zu dem Sie das Drehbuch geschrieben haben), und solche, in denen die Komplexitäten deutlicher zu sehen sind.
Ich glaube, das hat auch mit den Figuren zu tun. Ein Mann wie Mr. Badil in T’am e guilass (Der Geschmackder Kirsche, 1997) wird als komplex empfunden, weil er verschlossen wirkt. Das wirkt sich auf den ganzen Film aus. Auch in Like Someone in Love haben wir mit dem Professor eine Figur, die sich nur bedingt ausdrückt. Es entspricht seinem Wesen, dass er nur das von sich preisgeben kann, was wir sehen. Würden wir mehr erfahren, wäre das wie eine Art Striptease für das Publikum. Es würde aber der Figur nicht entsprechen. Wir sind nur legitimiert, Hinweise auf die Geheimnisse seines Lebens zu geben. Ich würde seine Geschichte gern erzählen, aber ich darf nicht. Da er der Mann ist, der er ist, darf ich über ihn nicht mehr sagen.
Das klingt beinahe nach einem ersten Gebot des Erzählens. Du sollst die Details deiner Figuren nicht unachtsam ausplaudern.
Ich kann nur Hinweise geben, die von anderen kommen, nicht von mir. Ein Mädchen stellt eine Ähnlichkeit fest, und auch eine Nachbarin bemerkt das. Und wir bekommen eine Andeutung darüber, dass in dieser Familie etwas vorgefallen ist. Ich bin selbst ein alter Professor. Wenn mich ein junges Mädchen besucht, kann ich es nicht umstandslos mit meinem ganzen Leben konfrontieren. Ich kann nicht einfach den Schleier lüften und mich ihr vollständig verständlich machen. Als Regisseur-Professor kann ich den Professor im Film nicht seltsam erscheinen lassen. Um den Film machen zu können, muss ich seine Geschichte kennen, sonst würde die Sache unnötig komplex. Aber es gibt keinen Grund, warum ich mit dieser Geschichte hausieren gehen sollte. Es gibt eine Geschichte über einen Maler, der ein Haus malt, aus dessen Kamin Rauch kommt. Ein Mann kommt und fragt: Wer wohnt in diesem Haus? Der Maler antwortet: Das weiß ich nicht. Darauf sagt der Mann: «Sie sollten das wissen. Sie sollten wissen, wer die Eltern sind, ob sie Töchter haben, ob die Töchter eine hinreichende Aussteuer haben, wie die Ernte letztes Jahr war, ob die Leute in dem Haus gut miteinander auskommen.» Der Mann geht weiter, und der Maler bleibt verdutzt zurück. «Dieser Mann ist verrückt. Er will Dinge wissen, die nicht in meinem Bild sind.» Darauf sagt jemand, der dabeistand: «Der Mann ist nicht verrückt. Das war Balzac.»
Kommen wir zurück zu den politischen Kontexten Ihrer Arbeit. Eine Konsequenz Ihrer Entscheidung, außerhalb des Iran zu arbeiten, liegt darin, dass Sie und Jafar Panahi, mit dem Sie häufig zusammengearbeitet haben, nun gegensätzliche Schicksale haben. Ich habe gelesen, Sie hätten einmal gesagt, Sie würden sich Panahis In film nist (Das ist kein Film, 2011) nicht ansehen, weil ja schon der Titel sagt, es wäre kein Film. Da ging aber doch die Ironie Ihrer Aussage vollkommen verloren, oder nicht?
Ich weiß nicht, ob da Ironie verloren gegangen ist. Wenn jemand seinen Film «Das ist kein Film» nennt, dann bin ich im Unklaren über seine Position gegenüber dem Film: Steht er dafür ein oder nicht? Verteidigt er den Film als Film? Wenn nicht, warum soll ich dann hingehen, um ihn mir anzusehen? Wenn er ihn aber als Film vertritt, dann ist der Titel unangebracht. Ich finde das ganze Tamtam unangebracht. Jafar Panahi ist ein sehr begabter Regisseur. Aber ich finde, er sollte einfach einen Film machen. Dann würde ich ihn mir sofort ansehen.
Ich bin ein bisschen erstaunt, um ehrlich zu sein, dass Sie gar nicht bereit zu sein scheinen, sich auf das Spiel seines Titels einzulassen, das ja auch eine Reaktion auf die Hindernisse darstellt, die man ihm im Iran in den Weg legt.
Ich kann Ihnen dazu gern noch mehr sagen, aber nur, wenn Sie das Aufnahmegerät ausschalten.
Mit Abbas Kiarostami sprach Bert Rebhandl | Abbas Kiarostami. Stille und bewegte Bilder ist noch bis 20. Januar 2013 in Bochum zu sehen, danach in Wiesbaden und Chemnitz | www.situation-kunst.de | Dank an Silke von Berswordt-Wallrabe